Als meine Liebste und ich am 14. Februar 2015 in der Uni-Klinik Münster eintrafen, kamen wir zu spät. Ein Arzt trat uns aus Christians Patientenzimmer entgegen: "Professor Sigrist ist vor einer halben Stunde gestorben."
Christian war einige Tage zuvor zu Hause die Treppe heruntergefallen und lag mehrere Stunden lang auf dem Boden, bevor ihn morgens eine seiner Assistentinnen fand und ins Krankenhaus brachte. Am 25. März 2015 wäre er achtzig Jahre alt geworden.
Wir hatten nicht damit gerechnet, dass er so plötzlich sterben könnte.
Wer war Christian Sigrist?
Geboren am 25. März 1935 im süddeutschen St. Blasien, hatte Christian eine traumatische Kindheit, die ihn sein Leben lang prägte und auch seine bisweilen befremdlich wirkenden Marotten erklären kann.
Christians Vater war nach der Schließung des Internats auf Schloss Salem wegen „jüdischer Versippung“ mit einem Berufsverbot belegt. 1935 wurde er am Kolleg St. Blasien als Philologe angestellt und dort „schamlos ausgenutzt“, erzählte Christian.
Schüler in St. Blasien
Ab September 1946 war Christian Schüler in diesem Eliteinternat, bis er im Dezember 1947 rausgeschmissen wurde, weil er nach Ansicht des Rektors die „Internatsdisziplin untergraben“ habe. In einem Artikel in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ beschrieb Christian im April 2010 das Klima in diesem jesuitischen Internat, das von Gewalt, Antisemitismus, Unterdrückung und Prüderie geprägt war:
„Physische und psychische Misshandlung war das Problem jener Jahre. Die schärfste physische Sanktion war der ‚Hosenspanner‘, eine auf einem eigens dafür konstruierten Pult mit dem Rohrstock vollzogene Prügelstrafe, ausgeführt vom Generalpräfekten, der anschließend die Tränen des Delinquenten mit einem speziell dafür vorgesehenen Taschentuch auffing. Hinzu kamen spontane Misshandlungen didaktisch überforderter Lehrer in den Klassenräumen. Trotz dieses repressiven Klimas waren wir alle stolz darauf, Kollegschüler zu sein, zumal selbst uns kleinen Schülern immer wieder gesagt wurde, wir sollten die künftige deutsche Elite werden. … Obwohl wir damals eigentlich ganz andere Sorgen hatten, z. B. Mangelernährung, wurde uns 11- bis 13-Jährigen an einem Abend ein … Vortrag über die Gefahren der islamischen Expansion geboten. Ich war zwar verwundert, aber nicht sonderlich betroffen. Ganz anders sah es dagegen mit den unglaublichen Äußerungen antijüdischer Gesinnung aus – zwei Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Der Mathematikunterricht wurde durch die verzweifelte Prügeldidaktik von Pater Kathold so chaotisiert, dass der Rektor, ein promovierter Theologe mit autoritärer Ausstrahlung, mit seinem Brevier im Klassenraum erschien und sagte: ‚Wir sind hier doch nicht in einer Judenschule!‘ Ich traute meinen Ohren nicht. Er wusste, dass ich ‚Vierteljude‘ war. Am Ende der Quinta, im Sommer 1947, wurden in den letzten Tagen anstelle des regulären Unterrichts Geschichten vorgelesen und Lieder gesungen. Höhepunkt war das mehrstrophige Lied ‚Freut euch des Lebens, Großmutter wird mit der Sense rasiert!‘ Es wurde auch folgende Strophe gesungen: ‚Zwei Juden badeten in einem Fluss/ weil jedes Schwein einmal baden muss./ Der eine ist ersoffen/ vom andern wollen wir’s hoffen.‘ Dieses Lied wurde vom Klassenlehrer und der gesamten Klasse mitgegrölt. Auch ich sang mit im Bewusstsein der Ungeheuerlichkeit. Aber es wäre unmöglich gewesen, da auszuscheren. Ich habe diesen Moment als schwere Demütigung und Selbsterniedrigung bis heute im Gedächtnis.“ (1)
Zwischen Akademie und Anarchie
Christian Sigrist war libertär-marxistischer Regimekritiker und von 1971 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000 Soziologieprofessor an der Westfälischen-Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Sein Hauptwerk „Regulierte Anarchie“ wurde fünfmal neu aufgelegt und gilt als „ein Meilenstein der Rekonstruktion antistaatlicher Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens“, wie 1997 die anarchistische Zeitschrift „Schwarzer Faden“ Nr. 60 konstatierte. Christian war ein brillanter Theoretiker und auch Gegenspieler unter anderem zum etatistischen Systemtheoretiker Niklas Luhmann.
In einem in den „Westfälischen Nachrichten“ und online veröffentlichten Nachruf der Uni Münster heißt es unter anderem: „Christian Sigrist … gehört zu jenen kritischen Intellektuellen und Unruhegeistern im Nachkriegsdeutschland, die sich Zeit ihres Lebens der Kritik der Herrschaft von Menschen über Menschen sowie der tätigen Intervention im Dienste der Wahrheit auch als Wissenschaftler unbedingt verpflichtet fühlten. So stand im Zentrum seines wissenschaftlichen Werkes die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Herrschaftslosigkeit oder Akephalie, entwickelt an den Befunden der social anthropology in segmentären Gesellschaften Afrikas. Sein theoretisches Konzept der Regulierten Anarchie (1967) fand breite wissenschaftliche Anerkennung und erwies sich über die Fachgrenzen hinaus als fruchtbar. Erhärtet wurde dieses Konzept in seinen Feldforschungen zu den Stammesgesellschaften in Afghanistan und ihrem Ehr- und Rechtskodex. Auch regte es interdisziplinäre Forschungen u.a. zum Alten Testament und zur Vor- und Frühgeschichte Israels an. Zugleich beteiligte Christian Sigrist sich an intensiven Auseinandersetzungen über die Rolle einer Kritischen Soziologie an deutschen Universitäten, die ihn bis zu seinem Lebensende nicht losließen.“ (2)
Dezent verschwiegen wird in diesem offiziellen Nachruf der Westfälischen-Wilhelms-Universität, dass sich Christian mit großen Teilen der WWU überworfen hat, unter anderem weil als „linksextrem“ stigmatisierte Soziologen (mich eingeschlossen) vor die Tür gesetzt wurden und sich die Unileitung bis heute starrköpfig weigert, endlich den „Wilhelm“ in ihrem Namen zu tilgen. Jahrzehntelang hatte sich Christian Sigrist dafür engagiert, dass endlich die nach dem Kriegsverbrecher und antisemitischen Kaiser Wilhelm II. benannte Westfälische-Wilhelms-Universität umbenannt wird.
Dass das gegen den Widerstand reaktionärer ProfessorInnen zu seinen Lebzeiten nicht durchsetzbar war, ärgerte Christian maßlos. Er konnte sehr nachtragend sein. Sein Nachlass sollte auf seinen Wunsch hin nicht an die WWU gehen und wird stattdessen in den nächsten Monaten im Duisburger Archiv für alternatives Schrifttum (afas) für die Nachwelt zugänglich gemacht.
Auf der Dadaweb-Gedenkseite für Christian (3) finden sich bewegende Nachrufe, unter anderem von Wolf-Dieter Narr und den „iley“- und „Peripherie“-Redaktionen. Auch der in der „jungen Welt“ am 21. März 2015 veröffentlichte Artikel „Anarchie im gelobten Land. Christian Sigrists Beitrag zur Religionswissenschaft“ von Rüdiger Haude findet sich hier.
Christians wissenschaftliche Bedeutung wird dort ausgiebig gewürdigt. Deshalb möchte ich mich als Ergänzung zu den bereits veröffentlichen Nachrufen primär auf persönliche Erlebnisse beschränken, die ich mit Christian und seiner Lebensgefährtin Ute haben durfte.
Persönliche Erlebnisse
Ich habe Christian erst spät kennengelernt. Als Soziologiestudent besuchte ich im Wintersemester 1993 eines seiner Hauptseminare über „Ethnizität“. Es fing skurril an. Christian ließ in der ersten, sehr gut besuchten Sitzung den übel gelaunten Stinkstiefel heraushängen, bezeichnete sich einerseits als Anarchist, legte aber zugleich die Hürden für seine Scheinvergabe hoch: „Wenn ich eine Hausarbeit lese und auf der ersten Seite sind schon Tippfehler, dann lese ich gar nicht erst weiter. Es sei denn derjenige ist nicht in Deutschland geboren… Ein guter Soziologe muss erst einmal durch ein Minenfeld gegangen sein, um begreifen zu können, was soziale Wirklichkeit bedeuten kann. Linke müssen in diesem System mehr leisten, um zu bestehen.“
Nach diesem elitär wirkenden Hochlegen der Messlatte kamen ab der nächsten Sitzung nur noch wenige StudentInnen ins Sigrist-Seminar. Aber die, die geblieben sind, haben es nicht bereut.
Die Referate waren durchweg interessant und die ReferentInnen kamen zu einem großen Teil aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Ich referierte über Kurdistan und berichtete mit einem Diavortrag über die krassen Erlebnisse, die ich im Sommer 1993 als Mitglied einer Menschenrechtsdelegation im türkisch-kurdischen Kriegsgebiet hatte. Einige Wochen später, nachdem Christian meine Kurdistan-Hausarbeit gelesen hatte, rief er mich an und bat um ein Gespräch in seinem Büro. Er war begeistert von der Arbeit und bot mir deshalb eine Direktpromotion an, zu Kurdistan. Ich lehnte aufgrund meiner nur ungenügenden kurdischen Sprachkenntnisse ab, schlug stattdessen aber vor, zu einem Thema zu promovieren, zu dem ich als Umweltzentrum-Archivar und anarchistischer Zeitungsmacher schon seit den 1980er Jahren arbeitete: „Anarchistische Presse in Deutschland“. Christian stimmte zu und hakte nach: „Gibt es die ‚Befreiung‘ eigentlich noch?“. „Nein, die wurde unter anderem aufgrund der Repression 1978 eingestellt, nach 31 Erscheinungsjahren. Die Abodatei der ‚Befreiung‘ ging dann aber an die anarchosyndikalistische ‚Direkte Aktion‘, die bis heute erscheint.“
Hier hatten sich zwei „Freaks“ gefunden. Ab jetzt war ich Sigrist-Doktorand und besuchte seine Doktorandenkolloquien. Christian versammelte hier spannende Persönlichkeiten und angehende WissenschaftlerInnen aus aller Welt. Er hatte einen internationalen Ruf und sprach etliche Sprachen fließend.
Ute Sigrist
Die Kolloquien waren großartig, die Seminare spannend. Oft nahm auch seine Frau teil. Die beiden waren ein Kollektiv und lebten seit 1960 zusammen. Ute wurde am 19. März 1936 in Mannheim geboren (4). Ich erinnere mich gerne daran, wie ich sie kennengelernt habe, im Sommersemester 1994 im Sigrist-Seminar zum Thema „Soziologie der Polizei“. Das Seminar war brisant, auch weil sich Christian durch eine entschiedene Intervention gerade wieder bei vielen Polizeibeamten unbeliebt gemacht hatte. Reaktionäre Kreise im Polizeiapparat und am Institut für Soziologie wollten das IfS damals mit der Polizeiführungsakademie Hiltrup verbändeln. Das konnte Christian letztlich verhindern, indem er öffentlichkeitswirksam unter anderem darauf hinwies, dass eine solche Verstrickung dazu führen werde, dass beispielsweise soziologische Feldstudien im Drogenmilieu zukünftig undenkbar wären, weil kein Drogenabhängiger den SoziologInnen noch Auskünfte geben würde, wenn diese mit der Polizei unter einer Decke stecken.
Mehrere Polizeibeamte nahmen am „Soziologie der Polizei“-Seminar teil und ein Polizeioberkommissar hielt ein unglaublich unkritisches Referat zur Geschichte des Polizeiapparates.
Nachdem der Polizist seinen Vortrag gehalten hatte, meldete ich mich zu Wort: „Es ist interessant, dass ein Polizeibeamter in einem Uni-Seminar ein Referat hält. Wir haben jetzt Ihre Position zur Kenntnis nehmen können. Nun sollten Sie und Ihre Kollegen aber dieses Seminar verlassen, damit wir hier ohne Schere im Kopf und unbeobachtet von der Polizei kritische Soziologie betreiben können.“
Der Beamte war außer sich vor Wut und beschwerte sich anschließend bei Christian über diesen „linksextremen Studenten“. Gleichzeitig kam Ute zu mir und äußerte sich begeistert: „Das war super. Genau richtig!“ Dies war der Beginn unserer Freundschaft.
Bubaque und der Terror des Staates
Ute und Christian waren starke Persönlichkeiten. Auch die Repressionen, denen sie vor allem in der Zeit der sogenannten Terroristenhysterie ausgesetzt waren, haben sie nicht gebrochen. Nach der Ermordung von Bundesanwalt Buback durch die RAF 1977 stand die Polizei ohne Vorankündigung frühmorgens in ihrem Schlafzimmer und Christian plötzlich unter Mordverdacht. Der Hintergrund dieser Geschichte ist realsatirisch: Christian war damals in Guinea-Bissau an einem entwicklungssoziologischen Projekt beteiligt, auf der Insel Bubaque. Am Telefon hatte er deshalb oft vom „Bubaque-Projekt“ geredet. Aufgrund seines politischen Engagements wurde Christians Telefon vom Verfassungsschutz abgehört. Immer wenn er das Wort „Bubaque“ sprach, ging also bei den Herren des Morgengrauens die rote Lampe an.
In dieser repressiven Zeit wurden Christian und Ute als vermeintliche „RAF-Sympathisanten“ massiv unter Druck gesetzt. Der Direktor des Gymnasiums in Münster-Wolbeck, an dem Ute seit 1971 als Oberstudienrätin arbeitete, forderte sie auf, sich von ihrem „linksextremen Ehemann“ zu trennen. Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, dass Christian das Direktorium des Wolbecker Gymnasiums zur bewegenden Trauerfeier für Ute ausdrücklich nicht eingeladen hat.
Christian war seit Anfang der 1970er Jahre massiv von Berufsverbot bedroht. Aufgrund seines menschenrechtlichen Engagements in den Anti-Folter-Komitees und seiner herrschaftsfeindlichen Kritiken, drohte ihm der Entzug seiner Professur. Ermittlungs- und Disziplinarverfahren handelte er sich ein, beispielsweise weil er die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen als „Isolationsfolter“ bezeichnete.
Der Fall Routhier
Sein Engagement für die Aufklärung des „Fall Routhier“ sorgte für jahrelange Ermittlungsverfahren und Prozesse, unter denen Christian auch gesundheitlich zu leiden hatte.
Der Frührentner Günter Routhier kam durch eine Polizeiaktion im Juni 1974 ums Leben. Mehr als tausend Menschen, die aus Empörung über die Todesumstände die Polizei des Mordes beschuldigten, wurden strafrechtlich verfolgt.
Die politische Abteilung der Duisburger Polizei erstattete in jedem Einzelfall Strafanzeige gegen VerbreiterInnen des Mordvorwurfs. Das prominenteste Opfer der Verfolgungsmaßnahmen war Christian.
1980 schrieb der SPIEGEL über Routhier: „Die unaufgeklärten Umstände seines Todes haben Staatsverdrossenheit hervorgebracht. Inzwischen sind im gesamten Bundesgebiet wohl mehr als tausend Strafverfahren gegen diejenigen durchgeführt worden, die sich mit den offiziellen Erklärungen der Polizei zum Tod Routhiers nicht zufriedengegeben und behauptet haben, er sei einem Mord zum Opfer gefallen. Das hat auch Professor Christian Sigrist, geschäftsführender Direktor des Instituts für Soziologie an der Universität Münster, auf einer am 5. Mai 1976 vom Goethe-Institut und der Universität in Stockholm durchgeführten Podiumsdiskussion getan, die vom WDR ausgestrahlt worden ist.
Professor Sigrist ist dafür am 24. Oktober 1978 vom Schöffengericht Münster wegen Verunglimpfung des Staates in Tateinheit mit Beleidigung zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je 120 Mark verurteilt worden. Er hat Berufung gegen das Urteil eingelegt. Und nun endlich hat sich ein Gericht der Mühe unterzogen, in sechzehn Verhandlungstagen das aufzuklären, was Gegenstand der Behauptung war. Von einem vorsätzlichen, einem geplanten Mord kann keine Rede mehr sein, aber die Beweisaufnahme hat auch ergeben, daß einige Polizeibeamte alles getan haben, um die Umstände des Todes von Günter Routhier zu vertuschen.“
In den bürgerlichen Medien wurde unter Schlagzeilen wie „Professor wegen Verunglimpfung der Bundesrepubilik vor Gericht“ (Münstersche Zeitung, 13.1.1981) über Christian berichtet. Bilduntertitel: „Stand zu dem, was er gesagt hatte: Professor Sigrist.“
Am 31. März 1982 wurde Christian im Berufungsverfahren vom Landgericht Münster wegen „Verunglimpfung des Staates“ zu einer Geldstrafe von 3.600 DM (= 30 Tagessätze) verurteilt, dazu kamen 2/3 der Verfahrens- und 4/5 der Anwaltskosten. „Das alles zusammen kostet ihn ca. 60.000 DM“, so die Szenezeitung „Knipperdolling“ im Mai 1982. Bundesweit solidarisierten sich viele Menschen und linke Initiativen mit Christian. Der Liedermacher Walter Mossmann widmete Christian die „Ballade vom zufälligen Tod in Duisburg“ (5).
Ein Berufsverbot konnte letztlich abgewendet werden.
Der „Fall Routhier“ hat bis Mitte der 1980er Jahre bundesweit Aufsehen erregt und das Leben der Familie Sigrist schwer belastet.
Der Fall Nachtwei
Mit Beginn des NATO-Angriffskriegs 1999 gegen Jugoslawien begann der „Fall Nachtwei“, der für Ute und Christian ebenfalls eine große seelische Belastung war. Christian war ein Universalgelehrter, Menschenrechtsaktivist und Kriegsgegner. Nachdem ich 1998 bei ihm promoviert hatte und zum GWR-Koordinationsredakteur gewählt wurde, unterstützte Christian mich beratend, durch eigene Artikel (6), viele Gespräche und immer wieder auch durch großzügige Spenden an den Förderverein für Freiheit und Gewaltlosigkeit. Er war in gewisser Weise ein Mentor für mich.
Ähnlich war sein Verhältnis über viele Jahre zu Winfried Nachtwei, der 1975 bei Christian sein Examen gemacht hatte. Als sich Nachtwei 1998 für ein Bundestagsmandat bewarb und sich gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr einsetzte, unterstütze Christian ihn durch einen Wahlaufruf. Kaum war Nachtwei Mitglied des Bundestages und die Grünen Teil der neuen Regierung, änderte der Politiker schlagartig seine Position und wurde zu einem Propagandisten des NATO-Angriffskrieges gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien.
Christian war empört. Nachdem er bei einer Podiumsdiskussion der Münsteraner Bundestagsabgeordneten den Grünen beschimpft hatte, rief er mich an: „Noch nie habe ich einen Schüler von mir öffentlich so verflucht.“ Christian war in Tränen aufgelöst. In dem Interview, das ich am nächsten Tag mit ihm für die Graswurzelrevolution geführt habe, ging es auch um Nachtwei und dessen Wandel vom Mitglied der Friedensbewegung zum Propagandisten des NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien.
Christian erklärte: „Nachtwei hat bei mir ein sehr gutes Examen gemacht, aber mir fiel auf, daß er taktiert hat. Wer in die Politik will, muß taktieren. Nachtwei hat in Münster jahrelang die Friedens AG der Grünen Alternativen Liste geleitet, und dann sagt so jemand ‚Keine Alternative‘. Das ist Unsinn, Alternativen gibt es, es gibt gute, schlechte, … aber einfach dieses alternativlose Denken von Anfang an, man kann das nicht anders interpretieren als mit ‚Regierungsfähigkeit‘. Die Gefahr des Zerbrechens der rot-grünen Koalition, raus aus dem Regierungsgeschäft, eventuell Neuwahlen und dann das Mandat weg. Es ist das Kleben an der Macht. MMB – Macht macht blöd. Auf der unteren Stufe heißt es Mandat macht blöd, selbst kluge Leute. So kann man das erklären. Bei Nachtwei ist es der Wandel vom Taktierer zum Opportunisten. Er versucht auch heute noch einerseits dazuzugehören, seine Position im Verteidigungsausschuß, und gleichzeitig will er sich den Rückhalt in der Basis erhalten. Das ist ein ‚Rumeiern. Da kommen die absurdesten Argumente, die unter seinem intellektuellen Niveau sind. Ich halte den Mann nicht rückwirkend für dumm, aber dieses Kleben an der Macht. Außerdem: Das Leben im Bundestag, das ist eine Art Raumschiff, das ist ein Realitätsverlust.“ (7)
Das Interview erschien im Juni 1999 auf der Titelseite der GWR Nr. 240. Ein Nachdruck wurde Ende März 2000 in dem im LIT-Verlag von Christine Idems und Matthias Schoormann herausgegebenen Buch „Soziologie im Minenfeld. Zum 65. Geburtstag von Christian Sigrist“ abgedruckt.
Während Nachtwei auf das Sigrist-Interview in der GWR noch mit einem (in der GWR 241 veröffentlichten) Leserbrief reagiert hat, zog der Verteidigungspolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion nun alle Register, um diese Festschrift zu Sigrists Emeritierung aus dem Verkehr zu ziehen.
Nachtwei forderte über seinen Anwalt den LIT-Verlag auf, das Buch aus dem Handel zu nehmen. Der Verlag solle dazu eine Verpflichtungserklärung abgeben, bei Zuwiderhandlung ausgestattet mit einem Betrag von 10.000 DM. Sein ehemaliger Hochschullehrer Sigrist habe ihn in dem Interview diffamiert, behauptete Nachtwei. Als Hebel gegen die weitere Verbreitung des Buches diente Nachtwei folgende Passage aus dem Sigrist-Interview: „Ich hab mich gewundert, dass er (Nachtwei) auf dem Münsteraner Luftwaffenball war. Der Luftwaffenball als solcher ist obszön.“
Nachtwei beteuerte nun, er sei nicht auf dem Luftwaffenball gewesen und deshalb dürfe das Buch so nicht verbreitet werden. Tatsächlich dürfte Nachtwei wohl eher die treffende Analyse seines Ex-Lehrers gestört haben, als die möglicherweise nicht richtige Aussage zu seiner Teilnahme am Luftwaffenball.
Der LIT-Verlag knickte ein und nahm das Buch aus dem Handel.
Daraufhin bat mich der damalige Münster-taz-Chefredakteur um einen Gastkommentar. Die Münster-taz erschien zu dieser Zeit wöchentlich, als Extrablatt der tageszeitung. Sie wurde überall in Münster ausgelegt. Am 28. September 2000 brachte sie das Thema Nachtwei als Aufmacher. Dort hatte ich unter anderem geschrieben, dass es Nachtwei meines Erachtens nicht um den Luftwaffenball an sich ging, weil er als Verteidigungspolitischer Sprecher ständig bei solchen und ähnlichen Veranstaltungen dabei war, „seien es die Soldatenspaziergänge in Münster, sei es der Große Zapfenstreich auf dem Hindenburgplatz am 20. März 2000, wo früher die Wehrmacht ihre Zapfenstreiche abgehalten hat“.
Nachtwei hat daraufhin behauptet, ich hätte ihn verleumdet. Er wäre nicht beim Großen Zapfenstreich gewesen. Und überhaupt, dieser, so Nachtwei, „Pauschalantimilitarismus der Graswurzler“! Daraufhin brachte die nächste Münster-taz eine ganze Seite mit Leserbriefen, mit Überschriften wie „Echt widerlich, Herr Dr. Drücke“, „Ein Armutszeugnis für die Soziologie“. In den Briefen stellten die grünen SchreiberInnen den Sigrist-Schüler Drücke als Verleumder an den Pranger.
Uta Klein, die auch bei Christian studiert hatte, warf mir in ihrem Leserbrief vor, ich würde „wissenschaftliche und politische Arbeit nicht trennen“. Sie war damals Professorin am IfS, stand in der Uni-Hierarchie also höher als ein Lehrbeauftragter wie ich.
Mir wurde vorgeworfen, ich hätte, „wie zuvor schon Sigrist“, Nachtwei verleumdet, denn der wäre gar nicht beim Großen Zapfenstreich gewesen. Der Clou war aber, dass wir gegen das Militärspektakel „Großer Zapfenstreich“ demonstriert und viele Nachtwei auf der Tribüne gesehen hatten.
Danach rief ich beim Grünen-Politiker Stefan Riese an: „Wie könnt ihr das behaupten?! Ich habe Nachtwei da gesehen.“ Darauf Riese sinngemäß: Ja, ein Bekannter habe ihn auch schon angerufen und Nachtwei ebenfalls beim Zapfenstreich gesehen. Riese rief nun in Nachtweis Bundestagsbüro an und sprach mit Büroleiter Michael Schlickwei, dem Lebensgefährten von Uta Klein. Schlickwei teilte Nachtwei mit, dass der Politiker von mehreren Menschen gesehen worden und der Zapfenstreich in seinem Terminkalender vermerkt sei. Nachtwei musste nun einräumen, dass er doch da gewesen ist.
Daraufhin habe ich ein Fax an Nachtweis Büro geschickt und gefordert, dass die gegen mich gerichtete Verleumdung richtiggestellt werden müsse, ansonsten würde ich rechtliche Schritte erwägen. Ich stand am Pranger, eine Woche lang ging ich als vermeintlicher „Verleumder“ in „mein“ Institut. Andere DozentInnen schnitten mich als „Nestbeschmutzer“.
Gut getan hat mir die Solidarität von Christian, Ute und anderen Freundinnen und Freunden. Viele, die Nachtwei auf dem damaligen Hindenburgplatz gesehen haben, schrieben Leserbriefe, die in der Münster-taz klein oder gar nicht abgedruckt wurden. Nachtweis Richtigstellung erschien in der nrw taz Nr. 24. Seine Versuche, Christian und mich zu diskreditieren, waren gescheitert. Christian hat danach nie wieder ein Wort mit Nachtwei gesprochen.
Ich bin froh, dass Christian mir nie die Freundschaft aufgekündigt hat. Auch dann nicht, als er mit einer Entscheidung des GWR-HerausgeberInnenkreises nicht einverstanden war.
Christian und Ute habe ich unglaublich viel zu verdanken. Die Beiden haben durch ihre Unterstützung auch dazu beigetragen, dass unser Freundeskreis Paul Wulf 2010 die Wiederaufstellung der Paul-Wulf-Skulptur und 2012 die Umbenennung des nach einem Naziarzt benannten Jötten-Wegs in Paul-Wulf-Weg durchsetzen konnten. (8)
„Klasse Lehrerin“ (Inschrift auf Utes Grab)
Als ich am 17. Februar 2014 mit Edo Schmidt ins Hospiz ging, um Ute dort zu besuchen, kamen wir erstmals zu spät. Sie war gerade für immer friedlich eingeschlafen. Am Totenbett saß Uli, der Sohn von Ute und Christian.
Als Christian eintraf, brach er zusammen und weinte bitterlich. Seine große Liebe war gestorben. Ein Jahr später folgte er ihr.
„Kluger Querkopf“ (Inschrift auf Christians Grab)
Christians Beerdigung auf dem Bergfriedhof Heidelberg fand am 16. April 2015 auf Ulis Wunsch hin im engsten Freundes- und Familienkreis statt.
Webers Nachbar
Bei Utes Beerdigung hatte Christian erwähnt, dass auch Max Weber hier liege. Damals war mir das Weber-Grab nicht aufgefallen. Als wir mit zwanzig Menschen nun am gemeinsamen Grab von Ute und Christian standen, entdeckten wir das Grab von Max Weber. Es liegt direkt nebenan.
Christian hatte Sinn für schwarz-roten Humor. Er war weder uneitel noch ein Anhänger übertriebener Bescheidenheit. Dass er nun direkt neben dem „großen Soziologen Weber“ liegt, weckt die Assoziation, dass er posthum mit Weber über die „Regulierte Anarchie“ streiten will.
Ich habe Christian und Ute geliebt und werde sie nicht vergessen.
(1) www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14946
(2) www.uni-muenster.de/Soziologie/personen/sigrist.shtml
(3) www.dadaweb.de/wiki/Christian_Sigrist_-_Gedenkseite
(4) Gedenkseite für Ute Sigrist (1936 - 2914): https://utesigrist.wordpress.com/
(5) Text: www.frsw.de/mossmann-lieder.pdf
Musik: https://www.youtube.com/watch?v=9-pjoBqL8ZY
(6) Beiträge von Christian Sigrist in der Graswurzelrevolution: Der "Siegfrieden" der NATO - Bernd Drücke im Gespräch mit Christian Sigrist, GWR Nr. 240/1999, S. 1, 3 ; Die afghanische Tragödie (Teil 1), GWR 263/2001, S. 14-15 ; Die afghanische Tragödie (Teil 2), GWR 267/2002, S. 14-15 ; Opfer einer wissenschaftlich abwegigen Genetik - Gedanken anlässlich der Einweihung der Paul-Wulf-Skulptur "Münsters Geschichte von unten" am 05.09.2010, GWR 353/2010, S.14 ; Großer Zapfenstreich für ein in Afghanistan gescheitertes Korps - Vortrag gehalten am 25.09.2013 am Rande des Münsteraner Schlossplatzes als Beitrag zur Demonstration gegen die vom 1. Deutsch-Niederländischen Korps aufgeführte Farce (ISAF), GWR 385/2014, S. 14-15 ; Gedanken zum Mauerfall-Fest 2014, GWR 394/2014, S. 4
(7) www.graswurzel.net/240/sigrist.shtml
(8) Siehe: www.uwz-archiv.de ; Redebeitrag von Christian Sigrist, gehalten anlässlich der Wiederaufstellung der Skulptur "Münsters Geschichte von unten", die an den 1938 von den Nazis zwangssterilisierten Anarchisten Paul Wulf (1921-1999) erinnert: www.uwz-archiv.de/uploads/pics/gwr353_Paul-Wulf-RedeSigristDruck1.jpg und www.uwz-archiv.de/uploads/pics/gwr353_Paul-Wulf-RedeSigristDruck2.jpg
Termin
Die öffentliche Gedenkfeier für Christian Sigrist findet am 15. Juni 2015 ab 18 Uhr in der Brücke (Wilmergasse 2, Münster) statt. Um vorherige Anmeldung wird gebeten.
Kontakt:
Bernd Drücke
c/o Graswurzelrevolution
Breul 43
48143 Münster
Tel.: 0251/4829057
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