Der lange Atem der Utopie: Die Graswurzelrevolution, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, hat die 400. Ausgabe gerade ausgeliefert. Und nicht nur die Titelseite ist bunt, sondern auch aus den unterschiedlichsten Bewegungen schillert eine Vielfalt des Widerstandes.
Graswurzelrevolution oder kurz die GWR war immer eine Bewegungszeitung, ursprünglich wurde sie 1972 in der BRD von libertären Antimilitaristen und Kriegsdienstverweigerern gegründet. Schnell nahm sie sich auch den Themen der Neuen Sozialen Bewegungen an, wie Atom- und Militärpolitik, Frauenbewegung und Alternativszene im allgemeinen usw. Bis heute ist die GWR der Programmatik ihres Titels treu geblieben, es geht in ihr immer um gesellschaftliche Veränderung von unten.
Gerne wird dem Anarchismus Organisationslosigkeit vorgeworfen, und sicherlich sind hier Parteien etwas im Vorteil, aber eine Zeitung ohne eine feste (und bezahlte) Redaktion über 43 Jahre lang zu organisieren ist nicht schlecht. Ein Herausgeberkreis von rund 30 Personen sorgt für die Inhalte. Und dann gibt es noch einen „Koordinationsredakteur“. Bislang hat das 400mal funktioniert – und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Kampfmittel der GWR sind stets Ungehorsam und Verweigerung. Mit dieser Haltung soll den Herrschenden entgegengetreten werden. Merke: Macht euch nie deren Sprache, geschweige denn deren Mittel zu eigen!
In der aktuellen Ausgabe geht es in einem Interview von Koordinationsredakteur Bernd Drücke mit dem langjährigen Mitherausgeber Heinz Wittmer um den Kampf gegen Gentechnik wie den gegen militärische Einrichtungen der Bundeswehr. Wittmer wird gefragt, was Anarchie für ihn bedeutet: „Anarchie ist für mich Freiheit. Das heißt, die Abwesenheit von Chefstrukturen, keine Politiker, keine Manager, niemand, der mir sagt, was ich zu tun und zu lassen habe, niemand, der mir einen Rahmen vorgibt. Ich will einen selbstorganisierten Rahmen. Es ist ja nicht so, dass ich keine Strukturen will, aber selbstorganisierte, keine von oben, keine, die von anderen vorgegeben werden.“
Ein kleiner geschichtlicher Rückblick von Johann Bauer darf natürlich nicht fehlen, aber auch über aktuelle Kriegsschauplätze, von denen es zur Zeit nicht wenige gibt, werden hier aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Die aktuelle Flüchtlingspolitik ist ebenso Thema, wie die Proteste von Waldschützerinnen und Waldschützer im Hambacher Forst, und internationale Nachrichten und Berichte wie über politische Streiks in Chile oder die Situation Griechenlands. Desweiteren ist die im Moment laufende Debatte über die sogenannten sozialen Medien zu bemerken. Außerdem gibt es einen Nachruf auf den am 14. Februar verstorbenen Soziologen Christian Sigrist (siehe auch jW von 19.2.2015) und diverse Buch- und Musikrezensionen. Nicht nur die erste Seite ist bunt, sondern vor allem der Inhalt, die Informationen zu widerständigen Personen, Zeiten und Regionen. Wir sind überall.
Dass eine, für Gewaltfreiheit eintretende Zeitung heute zu den langlebigsten Projekten der Anarchistinnen und Anarchisten zählt, dürfte für sich sprechen. Das alte Lied vom Bombenwerfer weicht dem des basisdemokratischen Aktivisten in fast allen Bewegungen, die sich derzeit der herrschenden Politik entgegenstellen. Und die GWR ist hier Vermittlerin, Stichwortgeberin und Plattform. Gratulation.
Jochen Knoblauch
erschienen in: junge Welt, 22.6.2015