In den 1970er Jahren lernten viele Menschen Walter Mossmann in erster Linie als engagierten Liedermacher der Anti-Atom-Bewegung kennen.
Es war jene Zeit, in der die sozialen Medien tatsächlich noch sozial und die Menschen noch keine KlicksklavInnen waren. Sie redeten dafür eifrig von Angesicht zu Angesicht in Wohngemeinschaften, Wirtshäusern, auf Straßen oder gar besetzten Bauplätzen miteinander. Als Kommunikationsmedien dienten notfalls auch läutende Kirchenglocken und Feuersirenen, sowie alternative Piratensender, selbstproduzierte Musikcassetten, Schallplatten, Flugblätter, Broschüren, Bücher. Und es wurden zu den bewegenden Themen selbstkomponierte Lieder gesungen oder alte Gassenhauer mit aktuellen politischen Texten versehen.
Diese Entwicklung hatte eine Vorgeschichte, die mehr Beachtung verdient. Anfang der 60er Jahre spielte der herumreisende junge Walter Mossmann auf seiner Gitarre vorwiegend französische Chansons von Georges Brassens und Boris Vian.
Burg Waldeck
Ab Pfingsten 1964 fand auf der Burg Waldeck, tief im Hunsrück gelegen, das erste deutsche Open-Air-Festival statt. Es trug den Namen „Chanson Folklore International“. Bereits in den zwanziger Jahren gab es Bestrebungen der bündischen Jugend und der Wandervogelbewegung, die Burgruine zu einem Treffpunkt und Sammelplatz auszubauen. Allerdings beendete der Faschismus diese zaghaften Ansätze. Nach dem Zweiten Weltkrieg beteiligte sich ein Teil der älteren Wandervögel an der „Ohne mich“-Bewegung gegen die westdeutsche Wiederbewaffnung und wollte mit einem Liedertreffen an die weltweit erwachte kritische Jugendbewegung anknüpfen.
Walter war in Freiburg Mitglied in einer bündischen Gruppe (1), von denen es linke und rechte gab – da sollte differenziert werden. Arno Klönne, ein paar Tage nach Mossmann verstorben, verortete sich nach 1945 zunächst ebenfalls in der bündischen Jugend und gründete später den bekannten Pläne Verlag.
Die sechs Waldeckfestivals von 1964 bis 1969 wurden zum Sprungbrett für die Karrieren von so unterschiedlichen Künstlern wie Franz Josef Degenhardt, der Brechtinterpretin und späteren Schlagersängerin Katja Epstein („Wunder gibt es immer wieder“), Hannes Wader, Dieter Süverkrüp und Reinhard Mey. Mossmann kam als 24jähriger im Jahr 1965 hinzu. Er zählte zu den Neuentdeckungen und sang über die jugendlichen AussteigerInnen („Gammler“), die den Volkszorn auf sich zogen, den Vietnamkrieg, das faschistische Spanien und Garcia Lorca. Seine von Heinrich Heine und den französischen Chansons inspirierten Lieder richteten sich zu dieser Zeit zwar schon gegen die SpießerInnen im Wirtschaftswunderland, doch sie erzählten auch poetische Geschichten in stimmungsvollen Bildern, die angenehm charmant-verspielt, manchmal süffisant dargeboten wurden.
Waldeck wurde in vielen Darstellungen sicherlich überhöht und sogar mit der Literatur-„Gruppe 47“ verglichen. Für Mossmann war es eine „Bemusterungsveranstaltung“ ganz im Sinne des Festival-Eröffnungsspruchs von Diethard Kerbs „Nun überrascht uns mal!“ (2). Dem schon damals diskussionsfreudigen Mossmann gefiel die Atmosphäre, bei denen sich die BesucherInnen durch Rundgänge von Hütte zu Hütte ihr Programm selber machten und diese Orte „als Salon für ambitionierte Streitgespräche, Gesang und Verkündigung letzter Wahrheiten“ (3) kreativ nutzten.
Erste Medienkritik
Inzwischen bekannter geworden, hatte Mossmann beim SFB 1965 seinen ersten Fernsehauftritt. Da er bei der Präsentation seiner Lieder den direkten Dialog mit dem Publikum brauchte, sah er solche Veranstaltungen kritisch: „Das Medium verhindert in Wirklichkeit Wahrnehmung, Konzentration, Kommunikation. Es richtet sich an Passanten. Es liefert sein Programm ab als Hintergrundgeräusch und Hintergrundflimmern für fast jeden beliebigen Alltag“ (4). Nur vier Jahre später wurde er deutlicher. „Im Fernsehstudio, im Verlag, im Bordell wird nur verkauft, was auch verkäuflich ist, und beim Verkaufen ändert sich ein Lied so schnell, als wie man’s aus dem Maule fahren lässt“ (5).
Auf Waldeck, dem „Lauscheloch zur Welt“ in einer internetlosen Zeit, machte Mossmann auch Bekanntschaft mit den Liedern von Bob Dylan (nachgesungen von Charlie MacLean) und von dem Protestsänger Phil Ochs, der ihn am meisten beeindruckt hatte. Seine Idee von dem Folksinger als „Journalisten mit Gitarre“ kam seinen sich radikalisierenden Ansichten ziemlich nahe.
Bei seinem Besuch des zweiten Folkfestivals in Turin lernte er das professionell arbeitende Ensemble des „Nuovo Canzoniere Italiano“ kennen, das aus SängerInnen und LiederforscherInnen bestand und mit Dario Fo zusammenarbeitete. Hier erfuhr er, wie linksradikale MusikethnologInnen und LiedermacherInnen es geschafft haben, „enteignete Volksmusik den völkischen Romantikern wieder wegzunehmen“ (6) – ein Thema, das ihn die nächsten zwei Jahrzehnte begleiten sollte.
Internationalismus und exotische Klänge
Die politischen Ereignisse in Persien (incl. Schah-Besuch in Berlin), Portugal, Spanien und Griechenland animierten ihn zu verschiedenen Protestsongs. Der Militärputsch in Chile im Jahr 1973 brachte Mossmann im Jahr 1973 ziemlich aus dem Gleichgewicht. Diese Betroffenheit hielt ihn aber nicht davon ab, das mit banaler Marschmusik unterlegte, von umherreisenden chilenischen Männergesangvereinen gesungene „Pueblo Unido“ mit seinen auch von den Rechten ausnutzbaren Texten zu kritisieren. Insbesondere die FreundInnen autoritärer sozialistischer Parteidiktaturen hatten damals an diesen verklärenden Soli-Veranstaltungen ihre wahre Freude. Mossmann jedoch differenzierte genau zwischen dem chilenischen Parteien- und Regierungsbündnis „Unidad Popular“ und der „Poder Popular“, der sich in unabhängingen Räten manifestierenden Volksmacht, die ohne Parteien auskam.
In der Zeitung des Trikont-Schallplattenverlages „Unsere Stimme“ kritisierte er 1976 die bei den Linken auftretende Begeisterung für exotische Klänge beim Hören oder Mitsingen lateinamerikanischer Musik. Nicht nur, dass alles Besondere und Eigenartige eines Liedes „begeistert-besoffen totgeklatscht“ wurde, sondern auch die zweifelhaften Liedinhalte wie „Sieg, Heldentum, Gemeinschaft“ lehnte er ab. Deswegen stellte er ganz andere Anforderungen an die Bearbeitung des populären Liedes: „Das muß anti-pathetisch sein, auf keinen Fall triumphalistisch. (…) Aber auch Hoffnung hat nichts mit Kraftprotzerei zu tun“ (7).
Mossmann sang nicht nur auf Solidaritätskonzerten für die von Repression betroffenen westdeutschen Linken, sondern unterstützte auch DDR-Dissidenten wie Rudolph Bahro oder den „frühen“ Wolf Biermann. Ein großer Teil seiner ehemaligen Waldeck-KollegInnen machte hierbei allerdings nicht mit und präsentierte sich lieber auf den damals von Hunderttausenden besuchten autoritär-staatssozialistisch geprägten UZ-Pressefesten und SDAJ-Festivals, auf denen die Vorzüge von DDR-Atomkraftwerken gepriesen, über die Unterdrückung im Ostblock komplett geschwiegen und sogar dissidente FlugblattverteilerInnen vor den Festivaleingängen von Ordnern verprügelt wurden (8). In der DDR konnte Mossmann nicht auftreten.
Wyhl
Aus aktuellem Anlass befasste sich Mossmann in den 70er Jahren mit den alemannischen Dialekten, insbesondere mit den Kaiserstühler, Elsässer und Badener Versionen, sowie mit dem Schwiizerdütsch. Am 9. und 10. Juli 1973 fand in Wyhl der Erörterungstermin für die Errichtung von vier 1300 MW Atomkraftwerken statt. Das 3000-Einwohnerdorf liegt etwas nördlich vom Kaiserstuhl, galt als „strukturschwach“ und hatte mit der Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Die konservativen Weinbaudörfer in der Umgebung befürchteten in erster Linie eine negative Beeinflussung des Klimas in ihren Weinbergen durch die Kühltürme und damit eine Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Später kam die Kritik an den Auswirkungen der Radioaktivität hinzu.
Im August 1973 fand eine größere Demonstration statt, an der auch einhundert ElsässerInnen teilnahmen, denn auf der anderen Seite des Rheins sollte in Frankreich ein Bleichemiewerk in Marckolsheim gebaut werden. Von nun an kämpften die Menschen in der gesamten Region gemeinsam gegen diese Großprojekte, denn Radioaktivität und Blei machen nicht vor Grenzen halt. Ab jetzt ging alles sehr schnell. Es wurden Bürgerinititiativen gegründet, die bis dahin in der politischen Landschaft der BRD in dieser Form völlig neu waren.
Da in den Dörfern die Wege kurz und überschaubar waren und die Kommunikation unmittelbar untereinander stattfand, konnten die Menschen sich hier schnell zu Veranstaltungen und Aktionen verabreden. Aus der benachbarten Universitätsstadt Freiburg kamen StudentInnen und Intelektuelle hinzu. Es wurde viel diskutiert, der regierenden CDU gehörig Druck gemacht. Die regionale Zusammenarbeit über die Ländergrenzen hinweg wurde ausgebaut und im August 1974 bekam Walter Mossmann den Auftrag, den Entwurf für eine Deklaration zu schreiben, die letztendlich in ihren Auswirkungen die Geschichte der BRD radikal verändern sollte: Die „Erklärung der 21 Bürgerinitiativen an die badisch-elsässische Bevölkerung“.
Ursprünglich wollte er in Brechtscher Manier mit dem erhobenen Zeigefinger „In Erwägung, dass ihr …“ abheben, besann sich glücklicherweise dann doch auf das nachvollziehbarere „weil wir wissen, weil wir sehen, weil wir gelernt haben“ mit dem nachfolgenden Aufruf zur gewaltlosen Platzbesetzung im Fall des Baubeginns. Als es kurz darauf tatsächlich zur Besetzung in Wyhl kam, sang Mossmann sein wohl bekanntestes Lied „Die Wacht am Rhein“, was in unzähligen Versionen und nachgedichteten Strophen zum festen Bestandteil des deutschsprachigen „Liedgutes“ wurde. Auch hier wurde die ursprüngliche nationalistische Parole vom „Erzfeind Frankreich“ aufgegriffen und umgedreht:
Im Elsaß und in Baden
war lange große Not
da schossen wir für unsre Herrn
im Krieg einander tot.
Jetzt kämpfen wir für uns selber
in Wyhl und Marckolsheim
wir halten hier gemeinsam
eine andere Wacht am Rhein.
Auf welcher Seite stehst du?
He! Hier wird ein Platz besetzt.
Hier schützen wir uns vor dem Dreck
nicht morgen, sondern JETZT!
Mossmann, zu dieser Zeit Pendler zwischen Stadt und Land, war ein großartiger Vermittler zwischen den oft grundverschiedenen TrägerInnen des Widerstandes. Es gab ja nicht nur die konservativen Bauern und die StudentInnen aus Freiburg. Nein, auch mit den „Kommunisten im Konfirmationsanzug“, wie er die angereisten anmaßend belehrenden jungen MaoistInnen spöttisch nannte, mussten die Einheimischen erst lernen umzugehen.
Dreyeckland
Alte, vergessene Lieder aus der Zeit der Bauernkriege kramte Mossmann aus der Mottenkiste hervor und gab ihnen einen aktuellen Bezug. Die linken StudentInnen irritierte er mit dem im alemannischen Dialekt gesungenen ursprünglichen Bettellied „In Mueders Stübele do goht der hm, hm, hm, in Mueders Stübele do goht der Wind“. Von diesem Song gab es Kaiserstühler, Elsässer und Basler Versionen, die bei allen Gemeinsamkeiten des neu erwachten Dreyecklandes auch den jeweiligen Eigenheiten Raum gab, sich zu entfalten.
Die undogmatische Linke wandte sich in dieser Zeit hingebungsvoll dem Regionalismus in Okzitanien, Baskenland, Katalonien zu und projizierte einen Gutteil ihrer Hoffnungen in diese Bewegungen. Mossmann sang zwar in diversen Dialekten und baute damit Brücken zu bisher unerreichten Bevölkerungsgruppen, aber eine spezielle regionalistische Ideologie machte er sich nicht zu eigen. Er blieb immer hart am eigentlichen Gegenstand der Auseinandersetzungen und der manifestierte sich in der Konfrontation zwischen oben und unten.
Für Mossmann sollten Lieder einen unmittelbaren Gebrauchswert im Rahmen des politischen Kampfes haben und allen gehören. Er nannte sie deswegen auch Flugblattlieder, die ähnlich wie zu den Zeiten der Französischen Revolution und den Bauernkriegen weitergereicht und weiterentwickelt wurden und deren VerfasserInnen oft anonym blieben. Die meisten seiner Lieder wurden im Radio nicht gespielt, weil sie den Herrschenden zu kritisch waren.
Im Jahr 1975 begann Mossmann seine erste Anti-AKW-„Missionsreise“ durch die BRD, bei der er sich in erster Linie auf die erfrischend aufgeschlossenen Evangelischen Studentengemeinden (ESG) in den Städten und die Landjugendverbände (z. B. in Hamm-Soest) als Ausrichter der Veranstaltungen stützen konnte. Denn außerhalb des Dreyeckslandes wurden die klassischen Bürgerinitiativen gerade erst gegründet. In den folgenden Jahren bereiste er rastlos die ganze Republik und machte besonders oft in Gorleben Station, um mit den WendländerInnen gegen das geplante atomare Endlager für radioaktiven Müll zu protestieren. Für sie sang er das bekannte „Lied vom Lebensvogel“, auch „Das Gorlebenlied“ genannt, das in seiner musikalischen Ursprungsversion von Phil Ochs stammt.
In der zweiten Hälfte der 70er Jahre konnte er die inzwischen stark fragmentierte, in unterschiedliche ideologische Lager aufgespaltene Linke mit seinen zugespitzten, mit deftigen Kraftausdrücken gespickten Flugblattliedern zusammenhalten und zu konkreten Widerstandsaktionen mobilisieren.
Ambivalente Haltung zur Gewaltfrage
Seine Haltung zur Gewaltfrage war im besten Fall ambivalent. Er musste auf die bodenständige Kaiserstühler Bevölkerung Rücksicht nehmen. 1972 machte er im Larzac in Südfrankreich („Occitanien“) Bekanntschaft mit der großen gewaltfreien Bewegung gegen einen Truppenübungsplatz. Mit den Aktivitäten des dort lebenden Lanza del Vasto, einem ehemaligen Wegbegleiter Gandhis, konnte er nichts anfangen – „nicht ganz mein Fall“ (9) sagte er dazu. Ein Jahr später übersetzte er begeistert den Aufruf eines chilenischen Freundes für den bewaffneten Kampf: „‚Volk, Bewußtsein und Gewehre! MIR!“, offenkundig saß mir die militante Phrase locker'“ (10) schrieb er.
1973 akzeptierte Mossmann mit der ETA-Bombe auf den Franco-Nachfolger Carrero Blanco nicht nur den Tyrannenmord und verwies in seinen autobiographischen Betrachtungen selbstbewusst auf seine „bleihaltigen Franco-Lieder“, sondern ebenfalls auf seine guten Kontakte zu Mitgliedern der „Roten Brigaden“ in Italien (11). Geschickt inszenierte er in seinen Schriften fiktive oder nacherzählte Dialoge, in denen ein Part sagte, was er meinte: „Stadtguerilla auch in Europa? – Selbstverständlich. Die Gedanken sind frei“ (12).
Der singende „Bote aus Wyhl“, als der er bei seinen Rundreisen angesehen wurde, repräsentierte in vielen Aspekten das Anliegen der Kaiserstühler Bevölkerung. In seiner Haltung zur Gewaltfrage aber sicherlich nicht. Er bevorzugte den empörten Volksauflauf, das „Gewusel“, bei dem es schon mal ordentlich „krachen“ konnte – am liebsten hätte er gerne einen zweiten Sturm auf die Bastille erlebt.
Als im Jahr 1977 – der Hochphase der Terroristenhysterie – von einigen staatlichen Bediensteten und ProfessorInnen eine öffentliche Distanzierung von der „klammheimlichen Freude“ des Göttinger Buback-Nachrufs verlangt wurde, schlug Mossmann provokativ folgende Eidesformel vor: „Ich schwör, ich bin gewaltlos, sonst bin ich mein Gehalt los“ (13). Mit diesem üblen Spruch wurden von den AnhängerInnen „militanter“ Aktionen noch jahrelang später gewaltfreie AktivistInnen in die angepasste, staatstragende Ecke gestellt und diffamiert. In den ersten Jahren nach der Gründung der Grünen stänkerte er immer wieder gegen den „quasireligiösen grünen Kult der Gewaltlosigkeit“ (14).
Aufbau von Gegenöffentlichkeit
Zurück zu den Medien der 70er Jahre und der Rolle Walter Mossmanns. Hier darf selbstverständlich der Hinweis auf seine maßgebliche Rolle bei der Gründung von „Radio Verte Fessenheim“, dem späteren „Radio Dreyeckland“ nicht fehlen. Als ehemaliger und vielfach angeeckter Rundfunkredakteur bei den öffentlich-rechtlichen Sendern kannte er sich fachlich aus, stellte 1977 grenzüberschreitende Kontakte her und beteiligte sich beim Aufbau des immer wieder von Repression bedrohten Piratensenders, den es heute noch in legalisierter Form gibt.
Seine Lieder wurden im wichtigen wöchentlich erscheinenden „Informationsdienst für unterbliebene Nachrichten“ abgedruckt. Beiträge schrieb er in der „Autonomie“ und in anderen undogmatisch linken Zeitungen. Besonders hervorzuheben ist sein 1975 im „Kursbuch“ erschienene Beitrag „Die Bevölkerung ist hellwach!“ (15). Hier analysierte er die innere Verfasstheit der Kaiserstühler Anti-Atom-Bewegung sehr differenziert und gab der staunenden Linken Nachhilfestunde für das Verständnis dieser neuen Bewegung. Kurze Zeit später nahm er den ahnungslosen, immer noch von einer neuen USPD phantasierenden Rudi Dutschke bei sich auf, damit dieser einen einwöchigen Grundkurs in Sachen Bewegung und Bürgerinitiativen direkt vor Ort absolvieren konnte (16). Die Gründung einer links-alternativen Tageszeitung (die spätere liberal-grüne taz) im Jahr 1978 unterstützte er ebenfalls.
Neue Ausdrucksformen und Provokationen
In seinem „Unruhigen Requiem“ experimentierte Mossmann 1983 mit musikalisch neuen Ausdrucksformen, indem er mit dem Multiinstrumentalisten Heiner Goebbels ein 20-Minuten-Stück aufnahm. Die im avantgardistischen Gestus vorgetragene verstörende Klangkollage befasst sich mit der Ermordung des Freiburger Arztes Albrecht Pflaum in Nicaragua durch rechte Paramilitärs. Die telefonische Nachricht trifft an einem „idyllischen“ Sonntag ein:
Ein Sonntag im tiefsten Frieden
Die Bäume sind grün
Die Erdbeeren blühn
Und die Nachbarin
Trägt schwer an ihrem Gebetsbuch
Es riecht nach Schweinebraten (17)
Ein Jahr nach dem Mauerfall geht Mossmann 1990 Deutschtümelei, die neu erwachte Fremdenfeindlichkeit und der Antisemitismus im vereinten Deutschland gehörig auf den Keks und er beschließt zusammen mit Cornelius Schwehr, die Auftragsarbeit für einen Stipendium-Preis für eine Provokation zu nutzen. „Fünfzehn Jahre nach dem Fronterlebnis am Bauzaun das Eiserne Kreuz?“ (18) – nicht mit Mossmann. An der gewagten Ton- und Geräuschkollage „Die Störung“ nahmen u. a. der Dekanatsjugendchor Landau und verschiedene Schauspieler teil. Thema war die neudeutsche Vereinnahmung von Naturphänomenen für nationalistische Ausgrenzungsmechanismen:
Ein Flamingo im Taubergießen
Normal ist das nicht
Wahrscheinlich
Ausgebrochen Aus Einem Zoo
…
Wie Der Aussieht
Irgendwie Gerupft Zerfleddert
Irgendwie Krank
Ein Punk
…
Irgendwie Schräg
Irgendwie Gestört Verhaltensgestört
Sonst Wär Er Nicht Hier
Also Krank (19)
Mossmann: „Auch das Publikum beim Festakt spielte mit und reagierte angemessen befremdet“ (20).
Ein paar Jahre später, als Mossmann wegen seines Kehlkopfkrebses nicht mehr singen konnte, kümmerte er sich intensiv um den Kulturaustausch mit Freiburgs Partnerstadt Lemberg (Lwiw) in der Ukraine. Er zog zeitweise dorthin und befasste sich beispielsweise in seinem Beitrag „Gespräche mit Jurko“ (21) mit der schwierigen neuen Situation in Osteuropa.
Irritationen
Viele seiner alten AnhängerInnen irritierte und enttäuschte Mossmann, als er im Jahr 2010 auf der Landesdelegiertenkonferenz der baden-württembergischen Grünen kurz vor ihrer Regierungsübernahme eine nostalgische Rede hielt. War ihm nicht bewusst, dass die Grünen sich mit seinen bunten Widerstandsfolklore-Federn schmücken und anschließend genauso angepasst staatstragend weitermachen würden wie bisher?
Bereits seit 1973 setzte der angebliche „Räteromantiker“ auf professionelle parlamentarische Betätigung: „Wir schickten doch schon seit Jahren unsere Anwälte in die Gerichtsverhandlungen, warum sollten wir nicht auch unsere Abgeordneten ins Parlament schicken? Im Dreyeckland war das von Anfang an Brauch und hat die Bürgerinitiativen nicht im Geringsten geschwächt“ (22). Für Mossmann, der ansonsten immer wieder über viele Dinge neu und kritisch nachdachte, waren offensichtlich die Anpassungs- und Vereinnahmungstendenzen, die ein parlamentarisches Mandat mit sich bringt, selbst nach jahrzehntelangen negativen Erfahrungen einfach nicht relevant. Diese Haltung ist allerdings enttäuschend.
Walter Mossmann war Zeit seines Lebens ein streitbarer, unangepasster Künstler und Aktivist, der mit vielfältigen stilistischen Mitteln von der politischen Lyrik bis hin zum groben Agitprop gegen Ungerechtigkeiten ankämpfte und sich mit den Mächtigen anlegte. Seine größte Wirkung entfaltete er im Kontext der neu entstandenen Bürgerinititivbewegung gegen Atomkraftwerke, deren unermüdlicher Begleiter und musikalisches Sprachrohr er war. Er starb nach einer schweren Krankheit am 29. Mai 2015 im Alter von 73 Jahren in Breisach.
(1) Walter Mossmann "realistisch sein: das unmögliche verlangen", 2009, edition Freitag, Seite 34
(2) taz vom 29. Mai 2004
(3) siehe 1, Seite 43
(4) siehe 1, Seite 41
(5) siehe 1, Seite 41
(6) Angaben aus dem Booklet "Chansons" der 4-CD-Box "Walter Mossmann", 2004, Trikont, Seite 3. Die Box ist sehr empfehlenswert und für 25 Euro günstig erhältlich.
(7) "Unsere Stimme - Zeitung für eine Musik, die von unten kommt", (Trikont) Nr. 1, 1976, Seite 8
(8) Ich stand im Jahr 1973 in Düsseldorf zufällig daneben und habe es selbst gesehen.
(9) siehe 1, Seite 180
(10) siehe 1, Seite 131
(11) siehe 6, Seite 4 sowie "realisch sein ..." (siehe Anmerkung 1), Seite 54
(12) siehe 1, Seite 64
(13) siehe 1, Seite 235
(14) siehe 1, Seite 247
(15) "Kursbuch" Nr. 39 "Provinz", Rotbuch Verlag, April 1975, Seite 129 bis 153
(16) siehe 1, Seite 225 und 228
(17) siehe Lied Nr. 4 in "Cantastorie apokrüfen" der 4-CD-Box "Walter Mossmann", 2004
(18) Walter Mossmann und Cornelius Schwer "Die Störung - Tonstück und Texte", Buch und CD, Verlag die brotsuppe, 2000, Seite 7
(19) siehe 18, Seite 74
(20) siehe 18, Seite 7
(21) taz vom 14. März 1997
(22) siehe 1, Seite 246