Kommentar
Seit 1972 schreibt die „Graswurzelrevolution“ als Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft auch gegen die Diffamierung des Anarchiebegriffs in den Massenmedien an. In den ersten Erscheinungsjahren der GWR machten der bundesrepublikanische Staat und seine Medien Jagd auf die Rote Armee Fraktion. Auf Fahndungsplakaten prangte über den Fotos von Mitgliedern der marxistisch-leninistischen RAF-Guerillagruppe der Schreckensname „Anarchisten“.
Tatsächlich hat sich die Angst vor der Anarchie, wie sie in den 1970er Jahren, in der Zeit der „Terroristenhysterie“, noch allgegenwärtig geschürt wurde, heute bei vielen gelegt.
Heute kommen gelegentlich auch US-amerikanische Anarchisten wie Noam Chomsky und der Bestsellerautor David Graeber in den Elitemedien (und Talkshows) zu Wort. Das hat dazu beigetragen, dass das Zerrbild „Anarchie = Chaos & Terror“, wie es seit Ewigkeiten von den Herrschenden propagiert wird, bei vielen Menschen revidiert werden konnte. Die ehemals staatssozialistische Tageszeitung „Neues Deutschland“ berichtet seit Jahren meist wohlwollend über anarchistische Bücher und Aktivitäten. Die marxistische Tageszeitung „junge Welt“ hat im August 2015 dem Anarchismus sogar erstmals eine Beilage gewidmet. Selbst im Feuilleton der konservativen FAZ gibt es offensichtlich AutorInnen, für die die Beschäftigung mit einer herrschaftsfreien Gesellschaft nichts Anrüchiges mehr ist. Trotzdem sind sich die meisten Medien nach wie vor nicht zu blöd, immer wieder „die Anarchie“ als Schreckensbild zu verwenden. So auch die grün-nahe „tageszeitung“, wenn sie über vermeintliche „Anarchie in Libyen“ (taz, 30.1.2015) schreibt oder behauptet: „In Burundi gab es noch nie einen wirklich funktionierenden Rechtsstaat. Doch seitdem Präsident Nkurunziza durch sein Bestreben nach einer illegalen dritten Amtszeit die Verfassung aus den Angeln gehoben hat, rutscht das Land in die Anarchie ab.“ (taz, 30.7.2015)
Die Monatszeitschrift GEO erscheint mit dem Untertitel „Die Welt mit anderen Augen sehen“. Aber auch GEO sieht die Welt offenbar mit den Augen der Staatsfetischisten und Herrschaftsanbeter. In der GEO Nr. 7 vom Juli 2015 findet sich unter dem geschichtsblinden Titel „Die Welt war nie friedlicher!“ ein haarsträubendes Gespräch mit dem Psychologen Steven Pinker, der laut GEO „zu den wichtigen öffentlichen Intellektuellen der USA“ zählt. Angesichts der unter anderem mit deutschen Waffen geführten Kriege in Syrien, Irak, Libyen, Jemen, Afghanistan, Mali, der Ukraine und anderswo sind heute laut UNO fast 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. So viele Flüchtlinge gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Das hält den im Elfenbeinturm in Harvard lehrenden Professor Pinker nicht davon ab, zu behaupten, dass die Welt immer friedlicher werde. Pinker: „Die Zahlen sind eindeutig. Es gibt immer weniger Kriege mit immer weniger Toten. Im Irak und in Afghanistan lagen die Verluste unter den Kriegsparteien bei etwa zehn Prozent der Verluste des Vietnamkriegs. … In Wahrheit war das Leben im Mittelalter für die meisten Menschen miserabel. Man konnte jederzeit im Streit erschlagen werden. Heute beschützt uns davor auch ein mächtiger Staat, mit funktionierender Polizei.“ (GEO 7/2015, S. 111)
Funktionierende Polizei? Meint Pinker damit allen Ernstes sein Heimatland USA? Ein Land, in dem viele schwarze Eltern berechtigte Angst davor haben, dass ihre Kinder Opfer von rassistischen Polizisten werden. Viele Afroamerikaner wurden von der Polizei aus nichtigen Anlässen erschossen. Wer da von einer „funktionierenden Polizei“ spricht, verschließt die Augen vor der Realität, ist zynisch oder Rassist.
An dieser Stelle des Interviews regt sich bei den GEO-Interviewern Michael Saur und Jürgen Schaefer leichter Protest: „Ein starker Staat kann dafür sorgen, dass sich die Menschen nicht gegenseitig umbringen. Aber er birgt auch eine Gefahr: nämlich die, dass eine entfesselte Staatsgewalt sich gegen den Menschen richtet.“
Pinker: „Richtig. Ich sehe die Menschheit daher in einem ständigen Balanceakt zwischen Anarchie und Tyrannei.“
GEO: „Was ist das kleinere Übel?“
Pinker: „Die Tyrannei vermutlich. Deswegen wählen die Menschen oft Plutokraten wie Putin, die das Chaos bekämpfen. Im Irak haben die Amerikaner einen Tyrannen abgesetzt, aber sie waren auf die folgende Anarchie nicht vorbereitet. Zivilisation braucht eine ordnende Hand, einen allmächtigen ‚Leviathan‘, der in der Lage ist, die Ordnung aufrechtzuerhalten.“ (GEO 7/2015, S. 114.)
Pinker betreibt autoritär-etatistische Geschichtsklitterung. Im Irak wurde von der Bush-Regierung ein neoimperialistischer Angriffskrieg mit Hunderttausenden Toten geführt. Laut ORB (Opinion Research Business) wurden von März 2003 bis August 2007 zwischen 946.000 und 1.120.000 Iraker getötet (Stand Januar 2008). Als Vorwand für diesen Massenmord dienten dem US-Regime gefälschte Unterlagen, mit denen „bewiesen“ wurde, dass der irakische Diktator Massenvernichtungswaffen hergestellt habe, die tatsächlich nicht existierten. Ohne die gegen die Menschen in Afghanistan, Irak und Libyen geführten Kriege, ist die Entstehung des terroristischen Islamischen Staates kaum zu erklären. Und die IS-Terroristen wünschen sich – ähnlich wie Pinker – eine „ordnende Hand, einen allmächtigen ‚Leviathan'“.
Pinker verherrlicht Herrschaft. Dass für den Harvard-Professor die Tyrannei das kleinere Übel zur Anarchie darstellt, ist da nur folgerichtig.
Für mich ist Anarchie immer noch eine egalitäre, solidarische Gesellschaft ohne Herrschaft und Gewalt. Und die ist, anders als die von Pinker schön geredete Tyrannei des Staates, etwas, das dazu beitragen kann, dass die Menschheit die Folgen von Staatlichkeit und Kapitalismus überleben kann.