kleine unterschiede

Anarchismus ohne Adjektive, Feminismus mit Tücken

Die Anarchistin Teresa Mañe Miravet (alias Soledad Gustavo) wäre in diesem Jahr 150 Jahre alt geworden

| Jens Kastner

In nahezu jeder Ausgabe der Revista Blanca schrieb Soledad Gustavo einen Artikel zu einem historischen oder kulturellen Thema. Die anarchistische Aktivistin war, gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Juan Montseny, der unter anderem unter dem Pseudonym Federico Urales schrieb, auch Mitbegründerin dieser "besten der mehr als dreißig Zeitschriften, die im Dunstkreis des Anarchismus" (1) um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert in Spanien publiziert wurden.

So urteilt Irene Lozano, Biografin von Federica Montseny, einer der schillerndsten Persönlichkeiten des spanischen Anarchismus überhaupt.

Soledad Gustavo – eigentlich Teresa Mañé Miravet – bereicherte gemeinsam mit ihrem Partner den Anarchismus nicht nur durch intellektuelle Tatkraft. Sie brachte auch Federica zur Welt, die 1936 die erste Frau in einem Ministeramt in Spanien werden sollte. (Dass die erste Ministerin im Europa des 20. Jahrhunderts eine Anarchistin war, ist überdies ein schönes Beispiel für die viel beschworene Ironie der Geschichte.) Soledad Gustavo erlebte – und prägte – die zentralen Ereignisse des Anarchismus in Spanien mit: von den Richtungskämpfen zwischen kommunistischen und kollektivistischen AnarchistInnen in den 1890er Jahren, über die Gründung der Gewerkschaft CNT (Confederación Nacional del Trabajo) 1910 und der radikaleren Anarchistischen Iberischen Föderation (Federación Anarquista Iberica, FAI) 1927 bis hin zu Ausbruch von Revolution und Bürgerkrieg 1936. Sie ist eine „wesentliche Figur“, urteilt ihr Biograf Julián Vadillo Muñoz, um nicht nur die Rolle Federica Montsenys zu verstehen, sondern auch den spanischen Anarchismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts insgesamt. (2)

Schon bevor die in einem wohlhabenden Elternhaus aufgewachsene, republikanisch orientierte Teresa Mañé Miravet sich dem Anarchismus zuwandte, trat sie für eine umfassende Bildung aller Bevölkerungsschichten, vor allem auch der armen ein. Ihr pädagogisches Engagement richtete sich auch gegen die Vorherrschaft der Katholischen Kirche im spanischen Bildungswesen ihrer Zeit. Die am 29. November 1865 geborene Mañé Miravet war noch keine dreißig Jahre alt, da hatte sie schon eine laizistische Schule gegründet und war Mitglied der „Konföderation laizistischer Lehrer Kataloniens“ (Confederación de Maestros Laicos de Cataluña). Gemeinsam mit Juan Montseny (1864-1942), den sie 1891 (nicht kirchlich) heiratete, stellte sie ihre bildungspolitischen Aktivitäten in einen libertären Rahmen. Nach einem Bombenanschlag gegen eine Prozession des Corpus Christi, bei dem 12 Menschen ums Leben kamen, wurden zahlreiche arbeiterbewegte Anarchistinnen und Anarchisten, u.a. Montseny, verhaftet und auf dem Montjuic (in Barcelona) inhaftiert. Aus Spanien verbannt, kehrten Montseny und Mañé 1898 nach Madrid zurück und gründeten die Zeitschrift La Revista Blanca.

Die zwei Leben der Revista Blanca

Die Revista Blanca hatte zwei Leben: Erstmals erschien sie am 1. Juli 1898 in Madrid, bis zu ihrer freiwilligen Schließung im Juli 1905 waren 170 Ausgaben erschienen. Soledad Gustavo und Federico Urales gründeten die Zeitschrift 1923 in Barcelona neu, wo sie bis 1936 publiziert wurde. Mit dem Untertitel Revista quincenal de Sociología, Ciencias y Arte („Zweiwöchentliche Zeitschrift für Soziologie, Wissenschaft und Kunst“) erschien sie in einer Auflage von 8.000. Sie war getragen vom libertären Esprit der Solidarität, und, so Arturo Ángel Madrigal Pascual in seinem Buch über Kunst und Engagement in Spanien, von der Liebe der HerausgeberInnen „zur Kultur der einfachen Dinge, zum Kleinen, und ihrer Ablehnung gegenüber dem Institutionellen und der historischen Beredsamkeit“ (3).

In ihr wurden sowohl tagespolitische Diskussionen geführt, als auch die Geschichte der Philosophie erörtert. Zudem bemühte sich die Zeitschrift darum aufzuzeigen, dass nicht nur Arbeit und staatliche Repression, Strategiefragen und deren Begründung relevant für den Anarchismus sind. Auch Themen wie Liebe, Familie, Bildung und Erziehung wurden diskutiert. Schließlich – und auch hierbei war Soledad Gustavo gewissermaßen federführend – wurde auch großer Wert auf die Vermittlung klassischer Hochkultur gelegt: Giovanni Boccaccio, der italienische Schriftsteller des 14. Jahrhunderts, wurde ebenso vorgestellt wie die Philosophen Giordano Bruno und Jean Jacques Rousseau. Ein Umstand, der in einer gewissen Spannung zum proklamierten Naheverhältnis mit der proletarischen Klasse stand und der der Zeitschrift den Vorwurf des abgehobenen „Intellektualismus“ einbrachte. Gelöst wurde diese Spannung, so Martin Baxmeyer in seiner Studie zur Literatur im Spanischen Bürgerkrieg, durch die von den AnarchistInnen vorgenommene Unterscheidung in angewandte „Revolutionskunst“, die als Kampfmittel zu gebrauchen war, und die unabhängige, „revolutionäre Kunst“, in der schöpferische Leistungen wertgeschätzt werden konnten. Diese Trennung erlaubte es schließlich, „selbst in einer Situation der Sozialen Revolution, sich weiterhin für die Schätze der Kultur begeistern [zu können], ohne in ideologische Gewissenskonflikte zu geraten“. (4)

In Baxmeyers Arbeit werden übrigens auch mehr als 120 Kurzromane ausgewertet, die herauszugeben sich die Revista Blanca zur Aufgabe gemacht hatte.

Der Anarchismus ohne Adjektive

Soledad Gustavo war eine Vertreterin des von Fernando Tarrida del Mármol (1861-1915) verfochtenen „Anarchismus ohne Adjektive“. Im Streit zwischen kollektivistischen und kommunistischen Anarchismen wollte der „Anarchismus ohne Adjektive“ vermitteln und die Gemeinsamkeiten hervorheben – und wurde paradoxer Weise schließlich selbst eine eigene Strömung. (5) Sie als „Anarchistin ohne Adjektive“ zu bezeichnen, verweist aber nicht nur auf die konkreten Debatten in den 1890er Jahren. Es geht um ihre Haltung schlechthin. Und die äußerte sich auch in anderen Streitfragen innerhalb der anarchistischen Bewegung.

In Bezug auf den (Anarcho-)Syndikalismus nahm Soldedad Gustavo eine kritische Position ein (6), besonders augenfällig aber ist ihre Ablehnung des Feminismus. Gegen eine separate politische Organisierung von Frauen sprach sie sich ebenso aus wie gegen die alleinige Fokussierung auf Geschlechterungleichheiten in der Theorie.

Das ist insofern bemerkenswert, als Julián Vadillo Muñoz seine biografische Skizze von Gustavo durchaus plausibel mit den Worten „Die Anfänge des Kampfes der Frauen um Emanzipation“ untertitelt. Patricia V. Greene bezeichnet Soledad Gustavo in ihrem Text über den Feminismus in La Revista Blanca gar als „libertäre Feministin“. (7) Und Antonio Prado schreibt in seiner Studie zu anarchafeministischen Positionen in La Revista Blanca, dass es gerade Soledad Gustavo war, die solche Haltungen „am kohärentesten“ vertrat. (8)

Wie ist diese Ambivalenz zwischen Ablehnung des und Einschreibung in den Feminismus zu verstehen?

Soledad Gustavo nahm an der II. Internationalen Frauenkonferenz 1899 in London teil und setzte sich für die Etablierung von Bildungsprogrammen für Frauen innerhalb der anarchistischen Bewegung ein.

Mit dem Fokus insbesondere auf Arbeiterinnen stritt sie für die soziale Gleichheit der Geschlechter und vertrat dabei Positionen, die noch die zweite Frauenbewegung der 1970er Jahre prägen sollten: dass die kapitalistische Organisierung der Arbeit, die staatliche Garantie des Privateigentums und die hierarchische Geschlechterordnung ineinander verwoben sind. Und dass deshalb die sexuelle Doppelmoral, die Frauen an einem selbstbestimmten Leben hindert, nur durch ökonomische Unabhängigkeit zu überwinden ist. (9)

Der Anarchismus und die „freie Liebe“

Wenn sie sich gegen einen separaten feministischen Kampf aussprach, dann erstens und vor allem wohl in Abgrenzung zum zeitgenössischen, bürgerlichen Feminismus.

Dessen Konzentration auf Geschlechterungleichheit vernachlässigte Gustavo zufolge die dreifache Unterdrückung der Frauen als ausgebeutete Arbeiterinnen, gesetzlich Diskriminierte und familiär wie moralisch Abhängige. Und zweitens lehnte Soledad Gustavo eine spezifisch feministische Politik auch ab, weil sie den Anarchismus als eigentlichen Weg der Befreiung und als wichtigstes Ziel zugleich ansah. Ihr Anarchismus war „ein humanistischer Kampf, nicht spezifiziert durch das eine oder andere Geschlecht“ (10).

In einem Artikel in der Revista Blanca schrieb Soledad Gustavo 1900 unter dem Titel „Der Anarchismus und die Frau“: Worum es dem Anarchismus immer ginge, sei, „die gegenwärtige Gesellschaft zu zerstören und auf ihren Ruinen eine gerechtere ins Leben zu rufen, in der es keine Frauen gibt, die sich verkaufen und keine Männer, die sie kaufen; in der die Liebe eine gegenseitige Anziehungskraft ist und keine soziale Zweckmäßigkeit; in der die Frau ist, was sie in Wahrheit sein muss, die Genossin, die Freundin, die Geliebte des Mannes, nicht seine Sklavin, wie sie es in den modernen Gesellschaften ist – angefangen mit den Gesetzen, die sie als Sache betrachten bis hin zu den Gewohnheiten, die sie vollkommen verunstalten.“ (11)

Die „freie Liebe“ wurde zu einem zentralen Konzept ihres Anarchismus. Es richtete sich einerseits auf die Neuerfindung intimer (bei Gustavo aber vor allem heterosexuell gedachter) Beziehungen. Staatliche Eingriffe wie das Ehegesetz, das Frauen entmündigte, wie auch der Heiratsmarkt, der Menschen auf Gegenstände ökonomischen Kalküls reduzierte, wurden vehement abgelehnt. Andererseits war das Konzept der „freien Liebe“ aber auch eine „Gefühlsmetapher“ (12), die die anarchistische Vorstellung des gesellschaftlichen Miteinanders überhaupt zum Ausdruck brachte. In beiderlei Hinsicht wurden hier durchaus Ideen und Praktiken der Gegenkulturen der 1960er Jahre inspiriert, wenn nicht vorweggenommen.

Die anarchistische Zukunft als natürliche Ordnung

Der staatlich-kapitalistischen Regulierung sozialer Beziehungen – zwischenmenschlich wie gesellschaftlich verstanden -, setzte Gustavo das „spontane Gefühl der Natur“ entgegen. (13) Die Befreiung der Frauen wurde damit zugleich als Rückkehr zur Natur konzipiert, die freie „Persönlichkeit der Frau“ als „integraler Bestandteil der Natur“ (14) verstanden.

Mit dieser Argumentation, die der staatlichen Regulierung eine angeblich natürliche Ordnung gegenüberstellt, stand (und steht) sie im Anarchismus keineswegs allein. In Bezug auf die Geschlechterverhältnisse führte das schon in La Revista Blanca zu paradoxen Positionen: Verhütungsmittel, im Feminismus immer als wirksames Mittel für das Ausleben freier, nicht an die Reproduktionsfunktion gebundene Sexualität propagiert, wurden von Soledad Gustavo und Federico Urales abgelehnt. Damit verbunden idealisierten sie die Mutterschaft jenseits staatlicher und familiärer Zwänge als Beispiel für die freiwillige Bindung. Dass diese Position aber auch in La Revista Blanca nicht unwidersprochen blieb, zeichnet Antonio Prado anschaulich nach. Noch 1902 konnte der französische, anarchistische Pädagoge Paul Robin (1837-1902) seinen programmatischen Artikel mit dem schönen Titel „Contra la naturaleza“ („Gegen die Natur!“) in der Zeitschrift unterbringen. Positionen wie von Robin, die einen „neomalthusianistischen Anarchismus“ vertraten – in Anlehnung an die bevölkerungspolitischen Ideen des Ökonomen Thomas Malthus (1766-1834) -, wurden aus der Zeitschrift allerdings sukzessive herausgedrängt. Für die neomalthusianischen AnarchistInnen war die Geburtenkontrolle ein wirksames Mittel im Kampf um eine herrschaftslose Gesellschaft: Verhütungsmittel wurden zugleich als Mittel betrachtet, die katholische Moral und das kapitalistische Produktionssystem zu boykottieren (weniger ArbeiterInnen, weniger Produktion!), sowie die Sexualität der Frauen zu befreien. (vgl. Prado)

Für Soledad Gustavo hingegen war die von gesetzlichen, familiären sowie moralischen Zwängen befreite Beziehung zwischen zwei Menschen, aus der Kinder hervorgehen, die Grundlage für eine gleichsam natürliche wie zukünftig anarchistische Gesellschaft.

Und der Schluss

Die Idealisierung der Natur als Gegenbild zur staatlich überformten Organisierung und Regulierung des Sozialen wurde nicht nur von Soledad Gustavo betrieben. Keineswegs auf Themen wie Liebe und Geschlecht beschränkt, zieht sie sich durch viele anarchistische Schriften. Dass es demgegenüber eine emanzipatorische Errungenschaft ist, soziale Tatsachen als Effekte sozial konstruierter und historisch durchgesetzter Normen, Definitionen und Vorstellungen zu betrachten (ohne jegliche Bindung an Biologie und/ oder Natur), sollte sich Jahrzehnte nach der konstruktivistischen Wende in den Sozial- und Kulturwissenschaften auch im Anarchismus herumgesprochen haben.

Anschlussfähiger an heutige Diskussionen – und letztlich auch wegweisend für sie – ist sicher Soledad Gustavos Beschreibung und Theoretisierung der mehrfachen Unterdrückung von Frauen. Gegenüber dem Primat der Ökonomie, vor dessen Hintergrund in der sozialistischen Bewegung auch die Geschlechterverhältnisse betrachtet wurden, ist die Betonung der drei zwar ineinander verwobenen, aber doch eigenständigen Herrschaftsformen Ökonomie, Recht/ Gesetz und Familie/ Moral durch Soledad Gustavo doch als grundlegend für anarchistische – und überhaupt emanzipatorische – Theorie und Praxis zu betrachten.

Teresa Mañe Miravet alias Soldedad Gustavo, die in diesem Jahr 150 Jahre alt geworden wäre, starb am 5. Februar 1939 auf der Flucht vor den Truppen Francos, die den Spanischen Bürgerkrieg für sich entschieden hatten, im französischen Perpignan.

(1) Irene Lozano: Federica Montseny. Una Anarquista en el Poder. Madrid: Espasa 2004, S. 37.

(2) Julián Vadillo Muñoz: Abriendo Brecha. Los inicios de la lucha de las mujeres por su emancipación. El ejemplo de Soledad Gustavo. Guadalajara: Ediciones Volapük 2013, S. 95.

(3) Arturo Ángel Madrigal Pascual: Arte y Compromiso. España 1917-1936. Madrid: Fundación Anselmo Lorenzo 2002, S. 127.

(4) Martin Baxmeyer: Das ewige Spanien der Anarchie. Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs (1936-1939) und ihr Spanienbild. Berlin: edition tranvia/Verlag W. Frey 2012, S. 116.

(5) Vom kubanischen Anarchisten Tarrida del Mármol hatten Mañé und Montseny im Übrigen auch den Titel ihrer Zeitschrift entliehen: Tarrida de Mármol brachte in Paris seit 1891 eine Zeitschrift namens La Revue Blanche heraus, die 1903 eingestellt wurde.

(6) Soledad Gustavo: "El Sindicalismo y la Anarquía" [1933], in: Julián Vadillo Muñoz, a.a.O., S. 271-284. Sie unterscheidet in diesem Text zwischen einem Syndikalismus als Weg zu einer befreiten Gesellschaft, wie sie ihn bei Marx und Bakunin (!) geprägt sieht, und einem Syndikalismus als Ziel im Sinne einer Institution(alisierung) der ArbeiterInnenbewegung, den sie mit den Namen George Sorel und Antonio Labriola verknüpft und gegen den sie sich wendet.

(7) Patricia V. Greene: "Prensa y Praxis Feminista en La Revista Blanca (1898-1905)", In: Actas XIII Congreso de la Asociación Internacional de Hispanistas, Centro Virtual Cervantes,1998, S. 105-110, hier S. 108.

(8) Antonio Prado: Matrimonio, Familia y Estado: Escritoas Anarcho-Feministas en La Revista Blanca (1898-1936). Madrid: Fundación Anselmo Lorenzo 2011, S. 51.

(9) Vgl. Greene, a.a.O., S. 109.

(10) Vadillo Muñoz, a.a.O., S. 104.

(11) Soledad Gustavo: "El Anarquismo y La Mujer", in: La Revista Blanca, Nr. 49, 3. Jg., 1. Juli 1900, S. 5-8, hier S. 7.

(12) Antonio Prado, a.a.O., S. 53.

(13) Soledad Gustavo: "El amor libre" [1904], in: Julián Vadillo Muñoz, a.a.O., S. 252.

(14) Soledad Gustavo, zit. n. Antonio Prado, a.a.O., S. 88.