Etwa 130 Menschen aus England, Spanien und Deutschland kamen am 2. Oktober 2015 zur bewegenden Trauerfeier für den Graswurzelrevolutionär Wolfgang Zucht nach Kassel. Wir dokumentieren die in der Friedhofskapelle gehaltene Hauptrede und zwei nach der Beisetzung im Café gehaltene Trauerreden. Auf der Wolfgang-Zucht-Gedenkseite (1) werden in den nächsten Wochen voraussichtlich weitere Trauerreden u.a. von Christine Schweitzer (für die WRI), Gernot Lennert (für die DFG-VK) und Wolfram Beyer (für die IdK), sowie Nachrufe, Fotos und Dokumente veröffentlicht. (GWR-Red.)
Liebe Helga, liebe Familie Zucht, liebe Familie Weber, liebe Angehörige, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen, verehrte Trauergäste,
wir haben uns heute hier versammelt, um Abschied zu nehmen von Wolfgang Zucht.
Wolfgang war ein lieber Freund und Genosse, ein liebenswerter und wundervoller Mensch.
Wolfgang lebt weiter, in unseren Herzen, in unseren Erinnerungen, in unserer Liebe für ihn.
Am 30. Januar wurde er 86 Jahre alt. Am 17. September ist er gestorben.
Es war ein Gelebtes Leben im besten Sinne. Wer sich die Fotos von Wolfgang anschaut, der wird hinter seinem Rauschebart und diesem herzlichen Lachen einen glücklichen, lebensfrohen Menschen erkennen. Wolfgang hat viel mehr erreicht, als sich die meisten Menschen erhoffen können.
Kindheit
Zusammen mit seiner älteren Schwester Marlis und der jüngeren (schon verstorbenen) Schwester Inge hat er einen großen Teil seiner Kindheit im Nationalsozialismus verbracht.
Seine Eltern waren zunächst Bauern. Ihre Familien hatten bis zum Ende des Ersten Weltkrieges in Westpreußen gelebt, das mit dem Versailler Vertrag von 1919 polnisch wurde.
Seine Großeltern siedelten sich Mitte der zwanziger Jahre in der Uckermark an. Dort heirateten seine Eltern.
Wolfgang wurde in Berlin geboren und hat seine Kindheit in Funkenhagen und Boizenburg verbracht. Manchmal sagte er: „Im Grunde bin ich ein Bauer.“ Die Liebe zum Garten, zum Arbeiten mit der Hand, zum einfachen und gesunden Leben ist ihm immer geblieben.
Als Wolfgang drei Jahre alt war, verlor sein Vater ein Bein bei einem Unfall in der Landwirtschaft. Er war fortan Hausmann, die Mutter wurde daraufhin Hebamme. Die väterliche Erziehung war autoritär und oft auch mit vielen Schlägen verbunden.
Wolfgangs Vater stand der Nazi-Ideologie nahe, was auch eine Indoktrinierung des Jungen zur Folge hatte.
Wolfgang ging kurz ins Internat in Templin und dann als Fahrschüler in die gleiche Schule.
Diese Zeit hat ihn geprägt: die Schule am See mit schuleigenen Booten, das Baden dort. Die Sehnsucht nach der Uckermark hat ihn sein ganzes Leben lang begleitet. 1943 zog die Familie nach Brandenburg, von wo aus Wolfgang nach Genthin zur Schule fuhr.
Bei Kriegsende war Wolfgang 16, verbrachte viele Nächte im Keller, wenn die Erde bebte vom Einschlag der Bomben.
Als sich die sowjetischen Soldaten näherten, machte er sich mit dem Fahrrad alleine auf den Weg in den Westen. Mehr zufällig traf er seine Eltern und die jüngere Schwester unterwegs in Genthin wieder und zusammen flohen sie bis zur Elbe, zu den Amerikanern.
Es folgte eine Zeit in Salzgitter als Geflüchtete, bis die Mutter mit der jüngeren Schwester nach Brandenburg zurückzog.
Wolfgang zog mit seinem Vater, der laut Wolfgang die Niederlage der Nazis wohl nie verwunden hat, bald nach Braunschweig.
In einem Interview, das ich 2003 mit Wolfgang und Helga für die Graswurzelrevolution geführt habe, beschreibt Wolfgang seine bewusste und systematische Auseinandersetzung mit der Nazizeit, die etwa drei Jahre nach Kriegsende einsetzte:
„In den letzten Monaten unserer Schulzeit in Braunschweig hatten wir einen Lehrer, der uns dazu brachte, unsere Beschäftigung mit der Philosophie im sokratischen Gespräch zu führen. Diese Methode bietet die Möglichkeit zur gewalt- und herrschaftsfreien Diskussion philosophisch-politischer Fragen. Sie erfordert viel Bereitschaft zu aktiver Mitarbeit, zum sich Öffnen für die Argumente der anderen und In Frage Stellen der eigenen Denkgewohnheiten. Das alles war für uns, die wir die Nazizeit in lebhafter Erinnerung hatten, eine enorme Herausforderung. Vor allem durch diesen Lehrer sind wir alle unsere ‚Nazi-Hangups‘ gründlich losgeworden. Von ihm hörten wir zum ersten Mal von einem Sozialismus freiwilliger Zusammenschlüsse, von gegenseitiger Hilfe, von der Notwendigkeit von Gewerkschaften ohne Hierarchie und Bürokratie, damit die Kontrolle über die Entscheidungen durch die Arbeitenden gewährleistet ist.“ (2)
Dieser Lehrer gehörte dem ‚Internationalen Sozialistischen Kampfbund‘ an. Dass Helgas Eltern in der Vorläufer-Organisation dieses Bundes organisiert waren, war eine der vielen ideellen Verbindungen zwischen Helga und Wolfgang.
Die Idee der Frauenbefreiung, der völligen Gleichberechtigung der Geschlechter gehörte mit zu den Grundgedanken dieser Organisation.
Familie
Das in Braunschweig begonnene Biologie-Studium brach Wolfgang ab, um seinen erkrankten und vorübergehend in der DDR lebenden Vater mit Medikamenten unterstützen zu können. Dafür arbeitete er im Straßenbau, als Kesselschweißer, im Großhallen- und auch im Hausbau.
Der Vater ging schließlich wieder zurück nach Braunschweig, so dass außer ihm und Wolfgang alle anderen Angehörigen in der DDR lebten. So trennte der Grenzzaun auch Wolfgangs Familie. Welche Belastung das für alle war, mag das Beispiel einer von der War Resisters‘ International in London organisierten Demonstration in Ungarn zeigen, an der Wolfgang am 21. September 1968 — mit weiteren 4 Personen teilnahm, um gegen die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Warschauer Pakt Staaten zu protestieren. Als Folge durfte seine Schwester Inge, die als Übersetzerin für eine Außenhandelsfirma der DDR arbeitete, für geraume Zeit nicht mehr in Ägypten und anderen Ländern eingesetzt werden, weil ihr Bruder gegen den Warschauer Pakt agiert hatte.
Andere Familienangehörige wurden aufgefordert, sich nicht mehr von Wolfgang besuchen zu lassen. Bewundernswerter Weise haben alle gesagt: Meine Familie, meine Beziehungen sind mir wichtiger als meine Karriere.
Wolfgang war seiner Familie immer in Liebe verbunden. Wie gut er das schwierige Verhältnis zu seinem Vater aufarbeiten konnte, zeigt sich unter anderem daran, dass der Vater die letzten Monate seines Lebens bei Helga und Wolfgang verbrachte und Wolfgang mit ihm ausgesöhnt war.
Politische Entwicklung
Wolfgang entwickelte sich zum Antimilitaristen und gewaltfreien Anarchisten. 1960 zog er nach Hannover, lebte zuerst in Untermiete, dann in einer Laube in seinem Kleingarten.
Durch den Ostermarsch gegen Atomwaffen kam er in Kontakt mit einem Freundeskreis, der sich um die Kriegsdienstverweigerung herum gebildet hatte.
In dieser Zeit wurde er Mitglied der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK) und des Verbands der Kriegsdienstverweigerer (VK).
Beeinflusst unter anderem von Tolstoi, Gandhi, Landauer und Kropotkin gründete seine Gruppe die „Direkte Aktion“.
Diese „Zeitschrift für Gewaltfreiheit und Anarchismus“ kann als Vorgänger der Graswurzelrevolution gesehen werden.
Wolfgang orientierte sich zunehmend international, bewarb sich bei der War Resisters‘ International (WRI) in London und nahm an Kongressen im In- und Ausland teil. Auf einem solchen Kongress 1964 in Offenbach lernte er Helga kennen, die im gemeinsamen Büro der Naturfreundejugend, des Verbandes der Kriegsverweigerer und des Ostermarsches arbeitete.
1965 wurde Wolfgang in London bei der WRI angenommen.
Helga entschied sich 1967, ebenfalls nach London zu gehen, arbeitete zunächst als Au pair Mädchen und begann nach einem Jahr, auch bei der WRI zu arbeiten. In dieser Zeit entstanden enge persönliche Beziehungen, zum Beispiel zum Generalsekretär der WRI, Devi Prasad, mit dem erst Helga und dann auch Wolfgang die Leidenschaft des Töpferns teilte.
Ganz besonders war aber auch die Beziehung zu Tony Smythe und seiner Familie, in deren Haus Wolfgang und Helga mehrere Jahre wohnten.
Diese Freundschaften haben ein Leben lang gehalten. Zwei Töchter aus dem Hause Smythe, Quita und Hansi, sind extra aus England zu dieser Beerdigung angereist.
Wolfgang nahm dann die Arbeit auf beim ‚National Council of Civil Liberties‘, dessen Themen unter anderem Rassismus und die Demonstrationsfreiheit waren.
1973 kehrten Helga und Wolfgang nach Deutschland zurück, beteiligten sich an der 1972 von Wolfgang Hertle gegründeten Graswurzelrevolution und gründeten 1974 zusammen mit anderen in Kassel die Graswurzelwerkstatt. Dort wurden sie angestellt.
Als Graswurzelwerkstatt-Arbeiter gaben Helga und Wolfgang von 1974 bis 1980 den „Informationsdienst für gewaltfreie Organisatoren“ heraus.
Mitte der 1970er Jahre war Wolfgang aktiv in der Anti-Atom-Bewegung, bei Gewaltfreien Aktionen und der Kampagne Stromgeldverweigerung gegen Atomenergie.
Als Mitinitiator der Föderation Gewaltfreier Aktionsgruppen (FöGA) übernahm er 1980/81 die deutsche und dann die internationale Koordination für den Internationalen gewaltfreien Marsch für Entmilitarisierung.
1982 schieden beide aus der Graswurzelwerkstatt aus, waren aber in diesen Jahren auch beratend tätig für Kriegsdienst- und Totalverweigerer. Von 1992 bis 1995 war Wolfgang Mitherausgeber des Graswurzelrevolution-Kalenders.
Persönliches
Ich habe Helga und Wolfgang erst kennengelernt, nachdem ich 1998 von den Herausgeberinnen und Herausgebern der Graswurzelrevolution zum Koordinationsredakteur gewählt wurde. Vorher kannte ich beide nur aus Erzählungen und durch ihre Schriften und die Bücher des 1976 gegründeten Weber-Zucht-Verlags, die ich auch für meine Doktorarbeit über anarchistische Presse gelesen habe.
Vor ein paar Tagen hat sich Helga verwundert gezeigt über junge Menschen, die sie nicht kennt, die aber im Internet ihre Traurigkeit über Wolfgangs Tod geäußert hatten. Mich wundert das nicht. Das waren ehemalige Praktikantinnen von mir, die die beiden nur einmal gesehen und fast nur aus meinen Erzählungen und dem Interview aus dem „ja! Anarchismus“-Buch kannten.
Mir ging es 1998 vielleicht ähnlich. Als ich die beiden kennenlernte, war sofort diese große Vertrautheit da, dieses Gefühl der Geborgenheit, Solidarität, Freundschaft und menschlichen Wärme, die Wolfgang und Helga immer ausgestrahlt haben.
Es war immer zu spüren wie sehr Helga und Wolfgang sich lieben. Seit 1964 waren sie ein Liebespaar und wie tief diese Liebe ist, konnte erahnen, wer gesehen hat wie charmant sie miteinander flirteten.
Ich erinnere mich gerne an unsere Zusammenkünfte, im Garten von Helga und Wolfgang, in ihrer Wohnung, bei Isabel und Martin, bei den Sitzungen des GWR-HerausgeberInnenkreises, bei Festen und Veranstaltungen.
Als 2001 in Hannover ein anarchistischer Kongress stattfand, referierte ich dort über anarchistische Presse. Ich legte den Fokus auch auf die „Direkte Aktion“ und andere in Hannover erschienene Anarchoblätter. Anschließend meldete sich ein junger Zuhörer und erzählte, dass sein Vater 1965 Mitherausgeber der „Direkten Aktion“ war und er ihn zur Veranstaltung mitgebracht habe. Helga und Wolfgang waren auch da und hatten ihren riesigen, bundesweit einzigartigen Büchertisch aufgebaut. Es war das erste Mal nach vielen Jahren, dass sich Joachim Dunz und Wolfgang wieder in den Armen lagen.
Nachdem Wolfgang und Helga nach London gezogen waren, hatten sie Joachim nur noch sporadisch getroffen. Das Wiedersehen war bewegend.
In der Todesanzeige für Wolfgang, die die Internationale der KriegsdienstgegnerInnen, die GWR und die WRI gemeinsam unter anderem in der taz und der Graswurzelrevolution Nr. 402 veröffentlicht haben, findet sich ein Zitat des gewaltfreien Anarchisten Bart de Ligt:
„Neue Ideen werden nur bekannt aufgrund der Beharrlichkeit einer wagemutigen Minderheit!“
Wer Wolfgang kennenlernen durfte, wird das bestätigen. Wolfgang war, wie alle Anarchisten, ein Außenseiter, ein Mitglied einer kleinen radikalen Minderheit. Und diese Minderheit wurde hierzulande von kaum einem so sehr beeinflusst wie von diesem bescheidenen, in sich ruhenden Menschen, der bis zu seinem Tod beharrlich für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft eingetreten ist.
Dass die Graswurzelrevolution die langlebigste anarchistische Zeitschrift im deutschsprachigen Raum ist und in weiten Kreisen der Gesellschaft hohes Ansehen genießt, hat sie unter anderem auch dem kontinuierlichen Engagement von Wolfgang und Helga zu verdanken.
Wolfgang war bis zuletzt im Graswurzelrevolution-HerausgeberInnenkreis aktiv. Helga ist es noch immer.
Beide haben mit ihrem solidarischen Handeln die Graswurzelbewegung und ihr Organ mit geprägt.
Als ich 2003 ein Interview mit Helga und Wolfgang geführt habe, fragte ich die beiden auch, was sie sich für die Zukunft wünschen.
Helga meinte dazu: „Ich wünsche uns genug Gesundheit und Energie für noch viele Jahre, damit wir weiter mitmischen können, wo es uns wichtig ist.“
Wolfgang antwortete: „Ich wünsche uns eine lebendige und kraftvolle Graswurzelbewegung, für die es in unserer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation viele Aufgaben gäbe.“
Ich hoffe, wir können dazu beitragen, dass sich die Wünsche von Helga und Wolfgang erfüllen.
Weitere Literatur
Humanismus und Gewaltfreiheit (ein Interview mit Helga Weber und Wolfgang Zucht), in: Wolfram Beyer: Kriegsdienste verweigern - Pazifismus aktuell. Libertäre und humanistische Positionen. Oppo-Verlag, Berlin 2007
Devi Prasad: War Is A Crime Against Humanity. The Story of War Resisters' International, WRI, London 2005
Helga Weber, Wolfgang Zucht: Abrüstung oder Revolution? Positionen der WRI, in: Antimilitarismus-Information Nr.10/1976. Jg.VI. (Christian-Wellmann-Verlag Frankfurt/Main)
Wolfgang Zucht: Der Zivile Ungehorsam, in: Theo Hengesbach, Michael Schweitzer (Hrsg.): Kein Atomkraftwerk mit unserem Geld! Stromgeldverweigerung als gewaltfreier Widerstand gegen Atomenergie, Dortmund 1977, S. 17-24
Weber-Zucht (Hg.): Zum Beispiel Seabrook, USA - Gewaltfreiheit im Kampf gegen die Atomenergie, Kassel 1978