wunderkammer

NeoAnarchismus, PostAnarchismus, Apfelmus

| R@lf G. Landmesser

Beliebigkeit als Lebenseinstellung ist bequem. Aber sie führt nicht weiter. Anarchismus hat freilich Grundsätze, wenige, aber relevante. Diese sind auch nicht mit allem "neo", "post" oder libertinösem Gequatsche hinwegzudeklamieren. Versatzstücke abgreifen und sich einen Lifestyle- & Mode-Anarchismus zimmern, womöglich gar ohne die manchen unangenehme Perspektive Sozialismus, mag ja alles Mögliche hervorbringen, aber keine soziale Revolution mit dem Ergebnis Anarchie > Herrschaftsfreiheit.

Anarchismus ist nicht bequem. Weder für seine Gegner*innen noch seine Befürworter*innen. Freiheit ist tagtäglich zu erkämpfen und selbst wenn mensch sie vermeintlich hätte, wäre sie zu verteidigen. Denn ihre Feinde sind pathologisch unsterblich: Hochmut, Hass, Selbstsucht, Neid, Missgunst, Machtgeilheit, Raffgier, Gruppenzwang und einige mehr.

Bequem ist Kernanarchismus als Lebenshaltung nicht, aber ungemein zukunftsfähig und befriedigend. I can't get no Anarchy - but I try, but I try, but I try … a lecture with R@lf. So hatte ich eine A-Laden Experience (ALEx)-Veranstaltung im BAIZ für September 2015 angekündigt.

Leider kann ich wieder mal nicht persönlich anwesend sein, da ich weit im Westen immer noch versuche, einem alten 92jährigen Menschen seine Autonomie zu bewahren, ihm seine persönliche Freiheit soweit als möglich zu sichern und ihn nicht in eine Altenverwahranstalt namens Pflegeheim abzuschieben. Pflegeheim heißt nämlich „lebenslänglich“. Dafür verzichte ich zeitweise, mittlerweile schon viel zu lange, auf meine eigene Freiheit, die mir sehr viel bedeutet. Aber es ist meine eigene Entscheidung, auch wenn sie durch die unerhörten gesellschaftlichen Verhältnisse erzwungen ist.

FREIHEIT ist schließlich das, worum es dem Anarchismus als politischer Idee und Lebenshaltung geht – Freiheit in sozialer Gerechtigkeit und Frieden. Es ist nicht die Freiheit VON, sondern die Freiheit ZU. Denn die Freiheit ohne Zwang und Gewalt zu leben, ist die Freiheit zu allen Möglichkeiten der menschlichen Selbstverwirklichung, die Anderen keinen Schaden zufügt. Freiheit VON wäre ein nur negativ orientierter Begriff und würde keine positive Utopie aufzeigen, die zu realisieren wäre. Negative Orientierung führt zu einer negativen Lebenseinstellung. Wir sind aber FÜR etwas, und das schließt selbstredend die negativen gesellschaftlichen Auswüchse aus, ohne dies ständig betonen zu müssen.

Wir sollten lernen zu wissen, was wir wollen. Das ist weniger einfach als zu wissen, was mensch nicht will (obwohl das schon mal ein Anfang sein kann). Einer positiven Vision kann mensch entgegenwachsen und entgegenarbeiten. Das Negative kann mensch nur ständig konfrontieren und mensch gerät in Gefahr, vor ständigem verbissenem Kampf gegen das Negative das Positive aus dem Auge zu verlieren, ja gar nicht mehr wahrzunehmen. Ausschließlicher Kampf gegen das Negative höhlt aus, verschleißt und führt alleine zu Frustration und Hass.

Liebe und Anarchie

Vielleicht ist es etwas altmodisch hier mal den Begriff LIEBE ins Spiel zu bringen. Anarchismus ist lebenszugewandt und die Anarchie liebt das Leben. Das hebt sie von den Kulten des Todes, wie beispielweise dem Faschismus-Stalinismus ab und macht sie zu ihrem diametralen Gegner. Wir haben doch alle die Sehnsucht in uns, dass die Liebe den Tod, den Hass, die Gewalt überwindet. Und dies lässt sich sogar in der Geschichte der Menschheit nachweisen: noch nie hat sich in der Geschichte ein Kult des Todes und der Gewalt endlos an der Macht halten können. Das Ende kommt auch für die am unendlichsten scheinende Diktatur. Und jedesmal versucht die Menschheit daraus Lehren zu ziehen und es besser zu machen. Was nicht immer gelingt.

Der Anarchismus ist vor 150 / 200 Jahren als politische Idee in die Welt getreten, Ausbeutung und Gewaltherrschaft unmöglich zu machen und diese durch die freie soziale Assoziation von Menschen und deren Bünden zu ersetzen. An dieser Zielrichtung hat sich bis heute nichts geändert. Geändert haben sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die technischen Möglichkeiten und die vorhandenen Machtkonstellationen. Nie hat es solche Zusammenballungen von Macht und Vernichtungskraft gegeben wie heute. Sogar das Leben als Ganzes ist auf diesem Planeten durch Menschen in Gefahr. Blicken wir zurück in die Vergangenheit, hat sich das Leben der Menschen ständig verkompliziert und heute sprechen wir von komplexen sozialen und machtpolitischen Gegebenheiten, die zunehmend unüberschaubarer wurden, auch für die Herrschenden dieser Welt selbst, also jene, die an einem Erhalt des für sie goldenen Status quo interessiert sind und die diesen noch weiter zu ihren übermäßigen und obszönen Gunsten ausbauen wollen. Doch auch sie werden vom SNAFU-Prinzip erfasst (vgl. Robert Anton Wilson, Illuminatus-Trilogie und andere Werke), „Alles scheint normal – aber alles ist aus den Fugen“. Niemand hat mehr wirklich einen Überblick. Und je höher jemand in der Pyramide der Macht sitzt, desto verfälschter werden seine Informationen, weil sie zwangsläufig über zu viele Zwischenstufen gelaufen sind.

Auch der Anarchismus ist vom neuen gesellschaftlichen Chaos nicht unbeeinflusst geblieben. Als undogmatisches Ideengebilde zu dem jede und jeder beitragen darf und kann, denn es gibt viele Wege zur Anarchie, ist er in erhöhtem Maße Interpretationen und Inbesitznahmen unterworfen, unter denen naturgemäß viele sind, die willentlich oder unwillentlich die Grundidee der „Herrschaftsfreiheit in sozialer Verantwortung“ verzerren, verstümmeln oder gar zerstören.

Individuen und Gruppen gehen hin und klauben sich Teilelemente der anarchistischen Idee heraus, stellen sie außerhalb des Zusammenhangs und behaupten sie seien das Ganze. Ich werde nicht müde, zu betonen, dass der politische Anarchismus eine sozialistische Idee ist, denn es gibt durchaus eine Menge Leute, die ihn für das Gegenteil funktionalisieren und missbrauchen. Einen Raubtierkapitalismus beispielsweise mit anarchistischen Streifen auf dem Fell zu versehen, nimmt ihm nicht den Raubtiercharakter. Einen Faschismus mit anarchistischen Versatzstücken auszustatten, macht ihn nicht zu einer Freiheitsidee, denn Faschismus ohne Gewalt – also ohne Herrschaftsinstrument, ohne Nationalismus und Militarismus ist nicht denkbar. Dennoch gibt es Menschen, die auf eine solche abstruse Idee gekommen sind. Ebenso und aus ähnlichen Gründen verbietet sich naturgemäß, den Stalinismus mit Anarchismus zu verbinden – aber diese Hirnlosen gab es: ihr Anführer wurde vor nicht allzu langer Zeit als Stasi-Spitzel und -provokateur enttarnt. Er agierte im Westen Deutschlands!

Die vielen Ansätze, auf eine anarchistische Gesellschaft hinzuzielen, wirken auf eine Unzahl von wissenschaftlichen Interpret*innen verführerisch, ihren pseudo-wissenschaftlichen Senf dazuzugeben, oft von jeder Ahnung über die Materie ungetrübt. Aber gerne wird der Anarchismus hergenommen, sich sogenannte wissenschaftliche Meriten zu erwerben, indem an ihm heruminterpretiert wird, bis zum Gehtnichtmehr und zur Unkenntlichkeit. Umso hochgestochener das akademische oder akadämliche Verwirrspiel ist, desto mottenhafter fühlen sich gewisse Menschen davon angezogen, die an den einfachen Wahrheiten und Wegen zu einer herrschaftsfreieren Welt keinen Geschmack finden können.

Sie brauchen hochkomplizierte, verstiegene, psychologisch und philosophisch verbrämte Gedankengebäude, ähnlich den vielfach verschraubten Derivaten von Finanzjongleuren, die ihre eigenen Konstrukte nicht mehr verstehen und durchblicken, um solche Ideen interessant zu finden und sich selbst damit interessant zu machen. Sie fühlen sich wohl in der esoterischen Herrschaftssprache des akademischen oder akademisch sein wollenden Betriebes und beharren auf ihrer Exklusivität als alleinig durchblickender Avantgarde, die angeblich mehr begriffen hat als Andere.

In diesen ins Nichts aufsteigenden Spiralen hat sich auch der Marxismus seit Anbeginn verheddert, der doch angeblich laut Marx die Philosophie praktisch machen wollte.

Aber Anarchismus oder sagen wir auch ruhig mal „Kommunismus“ (denn wahrer Kommunismus ist die klassenlose befreite Gesellschaft der Anarchie), das ist ja laut Brecht „das Einfache, das schwer zu machen ist“. Es ist die Idee, die auch jeder ungebildete Mensch verstehen kann und soll. Die Kunst ist nicht, etwas Einfaches kompliziert auszudrücken, sondern etwas womöglich sogar Kompliziertes ganz einfach, aber doch richtig und verständlich rüberzubringen. Die besten Fachleute und Wissenschaftler*innen haben das drauf.

Auch in der Technik ist das Komplizierteste nicht das Beste, sondern das Einfachste, Funktionellste, Haltbarste: das Nachhaltige

Wir leben in einer Zeit, in der wir den Anarchismus oder vielmehr die Wege zu ihm neu betrachten sollten. Angesichts der sich weiter chaotisierenden Weltgesellschaften ist das grobgestrickte Konzept unserer anarchistischen Altvorderen längst nicht mehr praktikabel: soziale Revolution, bewaffneter Aufstand und rumms, haben wir danach die strahlend aus der Asche aufstehende befreite Gesellschaft. Das Chaos in den Köpfen würde sich nach einem solchen unwahrscheinlichen Umschwung nicht schlagartig gelegt haben. Die offensichtliche autoritäre Orientierung der damaligen Gesellschaften mit ihren militaristischen Repressionsstrukturen ist diffuseren autoritären Orientierungen gewichen, die sich eher in Konsumhörigkeit und Unfähigkeit zu strukturierter Eigeninitiative manifestieren. Eine Welt von Duckmäusern und Zwangsgeduckten ist einer an langer Strippe geführten Welt von gedopten Egomanen gewichen.

Die Menschen werden heute in den westlich geprägten Gesellschaften nicht mehr kommandiert, sondern manipuliert bis in die intimsten und geheimsten Bereiche. Ständig wird die Kunst der Manipulation weiter ausgetüftelt und (high)technisch induziert. Flankiert wird dies durch ständige Überwachung auf allen Ebenen. Ein länger andauernder Emanzipationsprozess ist notwendig, ein Empowerment, um Menschen zu helfen, sich dem dauerhaft zu entziehen.

Schon vor etwa 75 Jahren haben Anarchisten und Anarchistinnen erkannt, dass den modernen gesellschaftlichen Phänomenen ein modernisierter Anarchismus gegenübergestellt werden muss, der mehr auf gesellschaftliche Teilhabe, Verteidigung der bisherigen sozialen Errungenschaften und freundliche Diffusion setzt, als auf bloßen Umsturz mit quasi automatischer Anarchie-Folge. Diese Botschaft ist bis heute nicht durchgedrungen.

Die Anarchist*innen des Nachkriegs, insbesondere die der 68erBewegung, haben einen ähnlichen Fehler gemacht, wie die orthodoxen Kommunisten (meist waren es Männer), die blind und brachial auf den Proletkult der 1930er Jahre aufgesprungen sind, bis sie damit auf die Schnauze fielen.

So sind viele Anarchist*innen im Kult der Spanischen Revolution hängen geblieben, aus der sich zwar viel lernen lässt und die auch viele motivierende Highlights bot, aber die kein Zukunftsmodell war: Durrutis Lebensgefährtin sagte schon in den 1960ern „Was vorbei ist, ist vorbei. Man macht nicht zweimal dieselbe Revolution!“

Und Kämpfer*innen dieser Spanischen Revolution riefen mit Rudolf Rocker, dem in Arbeitskämpfen erfolgreichen deutschen Anarchosyndikalisten, zur Besinnung auf, unter ihnen Diego Abad de Santillan, einer der intellektuellen Köpfe der CNT. Der Aufruf erschien damals in D-Land unter dem Titel „Neue sozialistische Wege“.

Zur Kenntnis genommen wurde er kaum. Die Vorschläge schienen reformistisch, hatten nicht den Flair von Abenteuer und Rebellion und sie riefen nicht zum weiteren Rumknallen auf. Für Anarchismus interessierte sich zu dem Zeitpunkt ohnehin kaum jemand.

Neo und Post

Wenn wir heute was lesen von NeoAnarchismus und PostAnarchismus, so ist das im Kern derselbe Anarchismus ohne irgendwelche modischen Attribute. Was soll „neo“ an einem Anarchismus sein, der erst wieder aus der Asche und den Gaskammern des Dritten Reiches gezogen und ins Bewusstsein gebracht werden musste? Was soll dieses „post“ heißen?

Etwa, dass es keinen Anarchismus mehr gibt, denn post heißt „nach“, also was kommt da denn nach dem Anarchismus? Ein Anarchunkulus? Es dreht sich hier nur um eines: die Befreiung der Menschheit von Herrschaft in jeder ihrer Formen und das ist und heißt Anarchismus. Die Attribute sind verzichtbar, sie sind nur akademische Spielereien und keine „Spielarten“ des Anarchismus.

Der Anarchismus lädt zwar dazu ein, mit ihm zu spielen und spielerisch von und mit ihm zu lernen, womöglich und möglichst Spaß dabei zu haben, aber er bleibt im Kern unberührt vom äußeren Wandel.

Dass er Abarten hat, kann er nicht verhindern, denn es gibt keine anarchistische Inquisition. Solches bleibt den dogmatisch-autoritären Gegenseiten vorbehalten. Aber nicht in Allem wo Anarchismus drauf steht ist auch Anarchismus drin. Es sind jede Menge Mogelpackungen dabei, von modischem Lifestyle und Posern gar nicht zu reden.

Es gibt auch Verwandtschaften zum Anarchismus, die haarscharf oder meilenweit an der konkreten Idee vorbeigehen, aber doch nicht ganz abseitig sind. Anarchistisch inspirierte Ideen oder dem Anarchismus nahe Ideen, die wir im lateinischen Sprachraum als libertäre Ideen.

Im deutschen Sprachraum ist das oft etwas missverständlich, denn zur Vermeidung der verpönten Begriffe „anarchistisch“ oder „Anarchist*inn*en“ wird oft das Wort „libertär“ oder „Libertäre“ verwendet. Aber merke: Anarchist*inn*en sind immer Libertäre, aber nicht alle Libertären sind Anarchist*inn*en.

Anarchismus begreift sich in seiner historischen und theoretischen Komplexität, zu der es viele Assoziationen und Nachbarschaften gibt. Auch „präanarchistische“. ;-)