Carlos Collado Seidel: Franco. General. Diktator. Mythos, Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2015, 314 Seiten, 26,99 Euro, ISBN 978-3-17-021513-9
Am 20. November 2015 jährte sich zum vierzigsten Mal der Todestag des spanischen Diktators Francisco Franco. Man mag es kaum glauben, aber bis zu diesem Zeitpunkt lag tatsächlich noch keine vollständige Biographie Francos in deutscher Sprache vor. Das hat sich nun geändert: Carlos Collado Seidel, sicherlich einer der besten und renomiertesten Spanienhistoriker, hat in der biographischen Reihe des Kohlhammer-Verlags mit seiner Biographie „Franco: General – Diktator – Mythos“ ein Werk vorgelegt, das knapp, klar, umfassend und auf hohem wissenschaftlichen Niveau den Lebensweg des Diktators nachzeichnet und in seinen historischen und politischen Kontext stellt. Man braucht keine seherischen Fähigkeiten, um vorauszuahnen, dass dieses Buch rasch den ihm gebührenden Platz als Standardreferenz in der deutschsprachigen Forschung und Lehre zu Spanien finden wird. Aber auch für interessierte Leserinnen und Leser außerhalb der Universitätsmauern ist das Buch empfehlenswert. Denn Collado Seidel bringt das Kunststück fertig, einerseits innovativ-kritisch und reich an historischen Details das Leben Francos darzustellen und die Fachdiskussion voranzubringen, andererseits sein Material aber auch so aufzubereiten, dass man sein Buch ebenso gut zur Einstiegslektüre nutzen kann. Dies liegt nicht zuletzt an der Sprache des Autors, die, wie bei ihm erfreulicherweise üblich, das genaue Gegenteil von säuselndem Fachchinesisch oder düster daher gemurmelten Geheimformeln ist. Wer ein Buch von Carlos Collado Seidel aufschlägt, weiß verlässlich, was ihn erwartet: Fakten, kritisch reflektiert, kompetent kontextualisiert und in ihrer Bedeutung für die Gegenwart anregend interpretiert. Anders ausgedrückt: Geschichtswissenschaft, die verstanden werden will. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass Carlos Collado Seidel sich vor aktueller historiographischer oder kulturwissenschaftlicher Theorie ekeln würde. Ganz im Gegenteil. Nur drängelt sie sich bei ihm eben niemals lästig in den Vordergrund. Die vielleicht größte Stärke seiner Franco-Biographie liegt denn auch (zumindest aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers…) darin, dass sie die Kategorie des Mythos miteinbezieht. Dabei bedeutet „Mythos“ für Carlos Collado Seidel, anders als für viele seiner Zunftgenossinnen und Genossen, nicht einfach nur „Lüge“ oder „falsche Überlieferung“. Die Kraft des Mythos, Identitäten zu schaffen und zu festigen, Welt-und Wertorientierungen anzubieten und affektive (Ver)Bindungen herzustellen, wurde zu allen Zeiten (auch) politisch genutzt. In Spanien setzte die Mythisierung Francos bereits während des Bürgerkriegs (1936-1939) ein, der ihn an die Macht brachte. Franco selbst nutzte mythische Erzählungen und Inszenierungen geschickt für die Propaganda der Militärs – und seine eigene Herrschaftssicherung. Ein Beispiel ist die Geschichte von der Verteidigung und schließlichen Befreiung des Alcázar von Toledo, die Collado Seidel mit Recht eine „Meistererzählung des Spanischen Bürgerkriegs“ (S. 87) nennt: „Die Befreiung und die folgenden Siegesfeiern waren […] das inszenierte Präludium […] einer mythischen Erhebung des Generals [Franco]“ (S. 91). Der Alcázar, eine mittelalterliche Festung über den Dächern Toledos, wurde während des Bürgerkriegs von republikanischen Truppen belagert. Der aufständische Oberst Moscardó hatte sich mit Soldaten, Zivilisten und (was der franquistische Mythos bis heute gerne unterschlägt) politischen n hinter die dicken Mauern der Festung zurückgezogen und ließ die Position hartnäckig verteidigen. Kern des Heldenmythos wurde ein Telefongespräch, das Moscardó angeblich mit den republikanischen Belagerern geführt haben soll. Diesen war sein Sohn in die Hände gefallen. Sie drohten den Sohn zu exekutieren, sollte sich Moscardó nicht ergeben. Um ihre Drohung zu bekräftigen, holten sie den Sohn selbst an den Apparat. „Papa, was soll ich tun?“, habe der gefragt. „Befiehl deine Seele Gott und stirb!“, sei die Antwort des Vaters gewesen. Dieser Mythos war (und ist) in Spanien nicht zuletzt deshalb so wirkungsmächtig, weil er seinerseits einen mittelalterlichen Mythos fortschreibt: Im 13. Jahrhundert soll der christliche Burgherr Guzmán von maurischen Belagerern in ganz ähnlicher Weise aufgefordert worden sein, die von ihm gehaltene Burg zu übergeben. Andernfalls werde man seinen gefangengenommenen Sohn töten. Als Guzmán das hörte, soll er seinen Dolch aus dem Gürtel gerissen und ihn den maurischen Gesandten zornig mit den Worten vor die Füße geschleudert haben: „Da! Nehmt das und tötet meinen Sohn! Soll ich ohne Ehre sein?“. Dass Franco seinen Vormarsch auf Madrid unterbrach, um den Alcázar zu befreien, stellte nicht nur eine Verbindung zwischen dem Bürgerkrieg und der mittelalterlichen Reconquista her. Franco erschien dadurch auch als Retter, Bewahrer und Verteidiger „altchristlicher Werte“ wie Treue, Opferbereitschaft, Vaterlandsliebe und Kampfesmut, die die franquistische Seite exklusiv für sich beanspruchte und durch die die „Regeneration“ des von Kommunismus, Anarchismus und Freimaurertum „verseuchten“ Spaniens eingeleitet werden sollte. Und schließlich „bewies“ die wundersame Rettung des Alcázar für die franquistische Propaganda letztgültig den göttlichen Beistand, den Franco (im Gegensatz zu seinen Mitverschwörern) mittlerweile genoss. Francos Instrumentalisierung des Mythos der Heiligen Theresa von Ávila, deren Hand er seit 1937 ständig bei sich führte, schlug in die gleiche Kerbe. Bis vor wenigen Jahren, so Collado Seidel, konnte man im wiedererrichteten Alcázar von Toledo sogar das Telefon besichtigen, inszeniert wie eine heilige Reliquie. Dass das berühmte Telefonat zwischen Vater und Sohn mit hoher Wahrscheinlichkeit nie stattgefunden hat – etwa, weil es gar keine Telefonverbindung vom Alcázar zur Stadt (mehr) gab (!) – beeinträchtigte die Wirkungsmacht des Mythos nicht. Carlos Collado Seidel – in dieser Hinsicht ganz Historiker – dekonstruiert in seiner Biographie zwar einerseits derartige herrschaftslegitimierenden Mythen des Francoregimes mit Hilfe der Faktenlage. Andererseits jedoch nimmt er ihre politische, soziale und kulturelle Wirkungsmacht (die, wie erwähnt, zum Teil bis heute anhält) durchaus ernst: Einen Mythos kann man eben nicht einfach dadurch aus der Welt schaffen, dass man beweist, dass alles ganz anders war. Dieses kulturwissenschaftliche Verständnis bereichert Collado Seidel Biographie und schlägt eine nützliche Brücke zwischen den Disziplinen.
Ähnlich wertvoll und dem aktuellen Forschungsstand entsprechend ist das große Gewicht, dass Collado Seidel auf Francos Zeit als junger Offizier im marokkanischen Kolonialkrieg legt. Diese Zeit war für den Karrieremilitär Franco nicht nur persönlich von größter Bedeutung. Die „Africanistas“ stellten außerdem fast die gesamte Junta der aufständischen Militärs während des Bürgerkriegs. Sie führten ihren Krieg fast wie einen Kolonialkrieg, mit dem ausdrücklichen Ziel, den Gegner nicht nur zu besiegen, sondern auszulöschen, und nach dem Sieg regierte Franco Spanien im Grunde wie eine militärisch besetzte Kolonie. Seine Zeit in Afrika liefert somit wichtige Erkenntnisse für sein späteres politisches und persönliches Verhalten. Auch Francos Verhältnis zur Religion, zur katholischen Kirche und zum Vatikan wird auf hohem Niveau dargestellt und kritisch diskutiert. Eine ähnliche konzise und dennoch umfassende Darstellung dieses durchaus komplexen Themas war bisher in deutscher Sprache noch nicht zu lesen. So gewinnen die Leserinnen und Leser nicht nur ein klares Bild vom Leben Francisco Francos, sondern auch des diktatorischen Regimes, das fast vierzig Jahre seinen Namen trug, und der politischen Hintergründe und Umstände seines Entstehens. Beachtlich für ein Buch von gerade einmal 314 Seiten, das bequem in eine gewöhnliche Hosentasche passt. Carlos Collado Seidel hat eine wichtige bibliographische Lücke gefüllt. Man kann seinem Buch nur viele Leserinnen und Leser wünschen.