Die Reaktion von Präsident Hollande, seinen MinisterInnen und der gesamten politischen Opposition ist schon erstaunlich. Da reden sie angesichts der mörderischen Attentate mit ca. 132 Toten und über 300 weiteren Verletzten in Paris von einem Anschlag auf die Werte der "Freiheit" in der Demokratie - und setzen sie gleichzeitig außer Kraft: durch die Ausrufung des Notstands im gesamten Territorium Frankreichs. Dumpfe Staatsraison regiert in den Tagen nach den Attentaten.
Gleich am Samstag, 14. November, ab 0.00 Uhr, nur wenige Stunden nach den mörderischen Anschlägen, verkündete Hollande, nach einem Ministerratstreffen, an Ort und Stelle der Attentate die Ausrufung des Notstands. Er gilt bisher gesetzlich für 12 Tage, soll aber per Parlaments- und Senatsbeschluss bis zu drei Monaten ausgeweitet werden.
Während der Banlieue-Aufstände 2005 verhängte Chirac einen regional begrenzten Notstand. Es war damals übrigens so, dass Premierminister Villepin das Militär in die Banlieues schicken wollte, was nur durch die Drohung des Armee-Generalstabschefs Bentegat verhindert wurde, in diesem Fall sofort zurückzutreten. (1)
Das französische Notstandsgesetz stammt aus dem beginnenden Algerienkrieg, dem Jahr 1955. Auf das gesamte Territorium Frankreichs angewandt wurde es bisher nur zweimal: am 18. Mai 1958 zur Abwehr eines geplanten Militärputsches in Algerien und zur Machtergreifung de Gaulles sowie der Ausrufung der V. Republik; des Weiteren im Jahre 1961, ebenfalls angesichts eines vereitelten Putschversuches von vier Generälen in Algerien. Gesetzlich gibt es in Frankreich sogar noch die Möglichkeit zu einem schlimmeren Regime: der „Belagerungszustand“ (État de siège), das wäre dann eine reine Militärdiktatur. Die bereits bestehenden Gesetzesformulierungen für die Anwendung des Notstands sind verwaschen und unpräzise: Der Notstand könne ausgerufen werden „im Falle unmittelbarer Gefahr, resultierend aus großer Gefährdung der öffentlichen Ordnung“, so heißt es da, oder auch „bei Ereignissen, die durch ihre Natur und ihre Schwere den Charakter einer öffentlichen Katastrophe erfüllen.“ (2) Damit ist alles und nichts begründbar. Hollande hängte an sein Dekret sogar noch ein zweites an, diesmal nur für die Gemeinden in der Region Île-de-France, dem Pariser Ballungsraum. Damit können Hausarreste ausgesprochen werden – oder mit einem früheren Wort: Ausgangssperren -, aber für Einzelpersonen.
Mit diesem Notstandsgesetz kann im Prinzip auch das Erscheinen der Presse verboten werden, wenn es im Dekret explizit eingefordert wird – das war bei Hollandes Dekret nicht der Fall. Dafür hat Hollande aber am 16. November gleich noch dazu eine Verfassungsänderung für eine Verschärfung des Notstands von 1955 angekündigt, nach der für Terrorverdächtige Bürgerrechte und die französische Nationalität aberkannt werden sollen, im Falle einer doppelten Staatsbürgerschaft, aber auch wenn sie in Frankreich geboren wurden.
Gruselkabinett der Notstandsdekrete
Was laut Dekret bereits jetzt jeder Präfekt eines Departements unmittelbar und ohne Nachfrage bei übergeordneten Behörden oder gar Gerichten verfügen kann, sind die Schließungen aller öffentlichen Einrichtungen: Schulen, Museen, Bibliotheken, Gymnasien, Hallenbäder, Nahrungsmittelmärkte. Der Präfekt kann zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Gebieten jede Bewegung von FußgängerInnen auf der Straße sowie dortigen Autoverkehr verbieten. Er kann „Schutz- oder Sicherheitszonen einrichten, in denen der Aufenthalt von Personen beschränkt ist“ und den Aufenthalt ganz verbieten bei Personen, die „auf welche Art auch immer, die Handlungen der öffentlichen Autoritäten behindern“. Er kann „die provisorische Schließung von Veranstaltungssälen, von Schankeinrichtungen und von Versammlungsorten“ verordnen – also genau das, was die Terroristen angegriffen haben und wofür sich die Angehörigen der Opfer nach dem Schock in allen Interviews zuerst ausgesprochen haben, dass sie sich nämlich die Lebensfreude und die Musik nicht verbieten lassen wollen. Auch können „Versammlungen, die das Ziel haben, Unordnung aufrecht zu erhalten“, sofort verboten werden. Es ermöglicht ohne gerichtlichen Durchsuchungsbefehl Hausdurchsuchungen „tags und nachts“ – wovon bereits am Wochenende nach den Attentaten 150 Stück in ganz Frankreich durchgeführt wurden, oft als simple präventive Maßnahme begründet. (3)
Es ist vor allem damit zu rechnen, dass diese Maßnahmen in großem Stil bei den Gegenveranstaltungen, den zwei großen geplanten Massendemonstrationen (29.11. & 12.12.) der kritischen KlimaaktivistInnen und den gewaltfreien Aktionen gegen den UN-Klimagipfel, kurz: COP21 (21st Conference of the Parties), vom 30. November bis 11. Dezember 2015 angewandt werden. Manuel Valls, der Premierminister, ein Hardliner, hat bereits öffentlich angedeutet, den Klimagipfel auf einen Verhandlungsgipfel der Regierungschefs zu reduzieren. So meinte er schon am 16. November zum großen weltweiten Marsch für das Klima, der für den 29. November angekündigt ist, „die Organisation dieser Versammlung wird in der einen oder anderen Weise infrage gestellt werden müssen.“ (4) Zusammen mit den Regierungschefs im abgesperrten Konferenzzentrum Le Bourget (Seine-Saint-Denis) im äußersten Nordosten von Paris wird wohl die Unternehmerausstellung „Galerie der Lösungen“ mit prokapitalistischen Firmenprojekten gegen die Klimaerwärmung stattfinden dürfen, aber der politisch immer noch harmlose Markt der Möglichkeiten der zivilgesellschaftlichen Gruppen mit vorgesehenen Hunderten von Ständen und 20.000 erwarteten BesucherInnen unter dem Titel „Klimagenerationen“ wird bereits ebenfalls infrage gestellt. Die KlimakonferenzaktivistInnen haben jedoch erklärt, sie wollen ihre Demonstrationen durchführen. (5) (Letzte Meldung 19.11.: Die Regierung hat soeben beide Großdemonstrationen verboten; Red.)
Jedenfalls dient hierbei schon der Notstand ganz anderen Zwecken der Staatsraison als der angeblichen Terrorismusbekämpfung, denn zu einhundert Prozent werden alle KlimaaktivistInnen, die nach Paris anreisen werden, ebenso die Attentate verurteilen wie die gesamte Pariser Bevölkerung – doch sie zahlen den Preis staatlicher Repression für einen Akt, mit dem sie nicht das Geringste zu tun haben.
Anfangs kaum Proteste gegen das Notstandsregime
1968 war der Widerstand gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze ein zentrales Motiv der studentischen Revolte in der BRD. Ein solcher Notstand wird nun in Frankreich umgesetzt – und Widerstand dagegen hat es in den ersten Tagen jedenfalls noch nicht gegeben. Protest kann man das sanfte Bedenken von Jean-Luc Mélenchon, dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten der Front de Gauche (Linksfront), nicht nennen, das er bei der Einladung Hollandes an VertreterInnen aller Parteien am Sonntag, 15.11., zum Besten gab: „Den Notstand kann man für eine kurze Zeitperiode nachvollziehen. Aber ihn auf Dauer einzuführen, das hat ja mit Not oder mit einem Ausnahmeregime nichts mehr zu tun: Das wird zum permanenten Regime.“ (6) Aber gerade deshalb muss doch seine Einführung von Anfang an und unmittelbar kompromisslos kritisiert werden!
Leider wird gerade jetzt eine wirklich radikale, anarchistische öffentliche Stimme so schmerzlich vermisst. „Le Monde libertaire“, die seit 1954 als Nachfolgerin der ab 1895 erschienenen anarchistischen Tageszeitung „Le Libertaire“ erschienene anarchistische Wochenzeitung, hat im Sommer 2015 den wöchentlichen Erscheinungsrhythmus eingestellt. Eine interne Zeitungskommission soll bis Januar 2016 beratschlagen, in welcher Weise die Zeitung künftig erscheinen soll. Eben gerade hat es eine Sonderausgabe zur Medienkritik gegeben. Das ist interessant, aber angesichts der Attentate und der Reaktionen der „Linksfront“ auf den Notstand wäre eine unmittelbar kritisch kommentierende anarchistische Stimme so wichtig gewesen.
(1) Nathalie Guibert: "Les missions intérieurs de l'armée restent à définir" (Die inneren Aufgabe der Armee müssen erst noch definiert werden), in: Le Monde, 17. Nov. 2015, S. 7.
(2) Frz. Notstandsgesetz von 1955, zit. nach Le Monde, So-Mo, 15.-16. Nov. 2015, S. 9.
(3) Zitate ebenda. Vgl. auch: Service France: "Plus de cent cinquante perquisitions en France" (Mehr als 150 Durchsuchungen in Frankreich), in: Le Monde, 17. Nov. 2015, S. 3.
(4) Manuel Valls, zit. nach: Rémi Barroux, Simon Roger: "Manuel Valls pour une COP réduite à la négociation" (Manuel Valls für einen auf Verhandlungen beschränkten COP), in: Le Monde, 17. Nov. 2015, S. 36.
(5) Rémi Barroux, Simon Roger, ebenda.