Constance Bantman and Bert Altena (eds): Reassessing the Transnational Turn: Scales of Analysis in Anarchist and Syndicalist Studies, New York: Routledge, 2015, 107,80 Euro
Ein Artikel des Londoner Professors und bekennenden Anarchisten David Graeber im britischen Guardian im Oktober 2014, in dem er die bewaffneten Frauen von Kobane mit den spanischen Mujeres Libres und den Islamischen Staat mit den mörderischen Falangisten verglich, löste in der internationalen anarchistischen Bewegung sehr kontroverse Diskussionen aus. Viele Anarchisten kritisierten Graebers positive Darstellung der PKK, die längst keine leninistische und nationalistische Kaderpartei mehr sei und teilweise inspiriert von den Ideen des Anarchisten Murray Bookchin nun die Vision eines libertären Kommunalismus verfolge. Dieses aktuelle Beispiel zeigt, dass das Verhältnis von Anarchismus und nationalen Bewegungen praktisch nicht so klar ist, wie es in der Theorie erscheint.
In diesem Sinne sind die Beiträge in dem Bert Altena und Constance Bantman herausgegebene Buch nicht nur von akademischem und historischem Interesse. Das Buch ist entstanden aus zwei panels der European Social History History Conference 2012 in Glasgow. Die zweijährig stattfindenden Konferenzen sind schon lange ein Treffpunkt von AnarchismusforscherInnen aus aller Welt. Der akademische Rahmen schlägt sich in dem Buch insofern wieder, als das methodologische Fragen, in vielen Beiträgen eine Rolle spielen.
Der Anarchismus schreiben die Herausgeber Bert Altena und Constance Bantman sei die weltweit erste und weitverbreitetste transnationale Bewegung von unten gewesen und habe sich in den letzten Jahren als ein produktives Feld für transnationale arbeiten Geschichtsschreibung erwiesen. In ihrer theoretisch anspruchsvollen Einleitung geben sie zunächst einen Überblick über den „transnational turn“ in der Anarchismus- und Syndikalismusforschung und diskutieren analytische Zugänge zum Thema – Individuen und Netzwerke, Mobilität, Kosmopolitismus, Nationen und Nationalismus.
Im zweiten Teil des Buches stehen anarchistische Theorien zu Nation, Staat und Internationalismus im Zentrum. Auf Basis eines inklusiven Konzepts der Nation und anarchistischer Theoretiker (Bakunin, Kropotkin, Landauer, Rocker), argumentiert Davide Turcato, könnten Anarchisten durchaus eine nationale Identität haben. Denn Anarchisten kämpften gegen Staaten, nicht gegen Nationen (S. 41). Ruth Kinna untersucht Kropotkins Soziologie des Staates aus einer transnationalen Perspektive. Sie erklärt Kropotkins Eintreten für die Alliierten 1914 nicht mit Sympathien für Russland, sondern weil er das zaristische System für wesentlich instabiler hielt als den preußischen Militarismus, den er als größte Bedrohung für die Freiheit in Europa betrachtete. Bert Altena untersucht das Nationale, das Transnationale und den Patriotismus in Max Nettlaus vierbändiger Geschichte der Anarchie. Er kommt dabei zu widersprüchlichen Ergebnissen. Auf der einen Seite sei Nettlaus Werk noch heute inspirierend für eine transnationale Geschichtsschreibung. Auf der anderen Seite war auch Nettlau nicht frei von nationalistischen Gefühlen. Er unterschied politischen Nationalismus, den er verabscheute und kulturellen Nationalismus (Patriotismus), den er bejahte. Man könne nicht „Internationalist“ sein, schrieb er 1931 an Rudolf Rocker, ohne „kulturell-national“ zu sein. (S. 73) Und hinsichtlich der slawischen Völker, so Altena, hatte Nettlau mehr Gemeinsamkeiten mit deutsch-österreichischen Nationalisten als mit Anarchisten.
Im dritten Teil der Arbeit gehen die AutorInnen der Frage nach, wie anarchistische Bewegungen transnationale Identitäten und Praktiken entwickelten. Isabelle Felici untersucht AnarchistInnen als MigrantInnen. Kenyon Zimmer analysiert lokale und transnationale Dimension des Anarchismus in San Francisco von 1880 – 1940. In dieser Zeit und besonders vor dem Ersten Weltkrieg beherbergte die Stadt eine große und ethnisch diversifizierte anarchistische Bewegung mit engen Kontakten nach Europa und Asien. So hatte 1928 die Internationale Gruppe, eine Koalition existierender anarchistischer Gruppen, italienische, russische, jüdische, chinesische, mexikanische, französische und deutsche Mitglieder. Pietro di Paolo untersucht die transnationalen, nationalen und lokalen Aspekte des italienischen Anarchismus. Die Geschichtsschreibung des italienischen Anarchismus habe einen nationalen Rahmen beibehalten und transnationale Aspekte vernachlässigt. Raymond Craib betont in seinem Beitrag über Casimir Barrio, der 1906 von Spanien nach Santiago/Chile migrierte und dort bis zu seiner Ausweisung 1920 ein Aktivist der anarchistischen Bewegung war, die „sedentary“ (ortsgebundene) Dimension des Anarchismus. Er benutzt den Begriff, um einerseits die Bedeutung des „Ortes“ hervorzuheben und andererseits dem seiner Meinung nach inadäquaten Konzept des Nationalstaats zu entfliehen. Mit anderen Worten: Anarchisten können sehr wohl an einen Ort gebunden sein, ohne dies mit einer Nation zu verbinden.
Im letzten Teil des Buches untersuchen die AutorInnen die problematische Rolle des Nationalismus in anarchistischen Bewegungen. Der während der Produktion des Buches tragisch verstorbene Nino Kühnis analysiert auf der Basis deutscher und französischsprachiger anarchistischer Zeitungen in der Schweiz von 1885 bis 1914 selbstgewählte anarchistische kollektive Identitäten. Anarchismus und Nationalismus seien nicht strikt voneinander getrennt. Nationale Mythen und Helden fanden sich auch in der anarchistischen Presse. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Constance Bantman in ihrem Aufsatz über das Verhältnis von Internationalismus und Nationalismus bei vier prominenten Repräsentanten der französischen anarchistischen und syndikalistischen Bewegung vor 1914. Der Internationalismus und Kosmopolitismus der anarchistischen Ideologie bedeutete nicht unbedingt, dass Patriotismus, Nationalismus und auch Antisemitismus verschwanden, sondern die Bewegung war davon, wie Bantman betont, in verschiedenen Wegen durchdrungen.
Der abschließende Beitrag von Martin Baxmeyer über Nationalismus und Rassismus in der anarchistischen Literatur während des Spanischen Bürgerkrieges beleuchtet einen bislang nicht bekannten beziehungsweise vernachlässigten Aspekt des spanischen Anarchismus. Die Bürgerkriegsliteratur, so Baxmeyer, entfernte sich ideologisch immer mehr von ihrem Internationalismus und aktualisierte nationalistische, kolonialistische und sogar rassistische Theoreme. Baxmeyer schreibt von einem „reaktiven Nationalismus“ (S. 204), in dem anarchistische Autoren die gleiche Konzepte, Ideen, Mythen, Metaphern und Symbole verwendeten wie die franquistische Propaganda.
Insgesamt handelt es sich um einen anregenden Band, in dem sich viele Anregungen finden für eine noch zu schreibende transnationale Geschichte des deutschen Anarchismus. Der Verbreitung des Buches sind aber leider durch den exorbitanten Preis enge Grenzen gesetzt.