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Demonstrieren in Zeiten des Notstands

Eindrücke aus Paris, 29.11.2015, Place de la République

| Lou Marin, Paris

In jenen 15 Jahren, in denen ich in Frankreich lebe, war die Atmosphäre noch nie so bleiern wie in diesen Tagen des staatlich ausgerufenen Notstands.

Zum Glück höre ich jeden Tag in dieser zweiten Woche nach den Attentaten von immer neuen, oft studentischen Demonstrationen gegen den Notstandsstaat. Am 22. November 2015 sind in Paris bei einer Demonstration 58 Leute verhaftet worden. Seit Ausrufung des Notstands gab es 1500 Wohnungsdurchsuchungen und viele Verurteilungen zum Hausarrest (kann jederzeit kontrolliert werden und wer nicht angetroffen wird, wird strafrechtlich verfolgt). Zum größten Teil sind Leute betroffen, die überhaupt nichts mit Islamismus zu tun haben, ja dessen erklärte GegnerInnen sind.

Es ist eine Hatz auf Linksradikale und AnarchistInnen. Derweil verkündet Innenminister Cazeneuve ungerührt, die drei Monate Notstand könnten „bei Bedarf“ gleich noch einmal um drei Monate verlängert werden. Dabei wird das Versagen von französischer Polizei und Geheimdiensten bei der Verfolgung vieler islamistischer Täter immer offensichtlicher und inzwischen auch von der bürgerlichen Presse scharf kritisiert. Wie um Aktionismus vorzutäuschen, trifft die Repression die falsche – oder doch die beabsichtigte? – „Zielgruppe“ mitten ins Gesicht.

Angesichts dieses Skandals hält mich nichts mehr in Marseille, als die groß angekündigte Demo anlässlich der UN-Klimakonferenz in Paris an der Place de la République für den 29. November verboten wird. Es geht nun entscheidend darum, in massenhafter Weise auszudrücken, dass dem jede Willkür freien Raum gebenden Notstandsstaat mit Widerstand begegnet werden muss.

Momentaufnahmen von Seine-St. Denis

Ich fahre mit einem mulmigen Gefühl nach Paris. Die Unsicherheit rührt daher, dass sich die Polizei an keine Gesetze und rechtlichen Bindungen mehr halten muss und niemand letztlich weiß, wie sie bei einer verbotenen Massendemo praktisch reagiert. Sie hat Narrenfreiheit.

Langsam dringen Informationen durch, dass eine Menschenkette von Klima-AktivistInnen auf dem Bürgersteig vom Konzertsaal Bataclan bis zur Place de la Nation (entlang der ursprünglichen Demoroute) wohl geduldet werden wird. Ebenso eine gewisse Präsenz auf der Place de la République. Aber sicher ist sich da niemand.

Ich wohne bei zwei anarchistischen GenossInnen, nennen wir sie Jacques und Jacqueline, direkt im Zentrum von Seine-St. Denis, dem Ort der Attentate am Stade de France. Mein Genosse musste am Abend der Attentate in seiner Wohnung bleiben, desgleichen einige Tage später beim Großeinsatz der Polizei mit sieben Festnahmen und drei toten IslamistInnen, darunter eine Frau, die sich angeblich als Selbstmordattentäterin bei der Stürmung der Wohnung in die Luft gesprengt hätte – eine glatte Medienlüge, die einige Tage darauf dementiert werden musste. Das erste Selbstmordattentat einer Frau in Frankreich fand nicht statt, die Frau ist beim Polizeieinsatz trotzdem umgebracht worden. Aber von wem?

Mein Genosse konnte den Einsatz in der Nachbarstraße von seinem Fenster aus beobachten.

Ich bin also – ganz unabsichtlich – im Zentrum der Anschläge gelandet. Seine-St. Denis ist eine typische Banlieue (wörtlich: Verbannter Ort) und war bereits bei den Vorstadtaufständen 2005 ein Brandherd. Beim Spazierengehen im Viertel sehe ich eine sympathische Mischung aus Menschen afrikanischer, karibischer und maghrebinischer Herkunft, erkennbar arm – aber auch gleich zwei eindeutig salafistische „Buchläden“ (mehr ein Treff als wirklicher Buchladen), nebenan eine Schnell-Pizzeria, bei der alle drei Bediensteten durchwegs schwarze Kleidung und Bärte tragen, ebenfalls ein Hinweis auf rigiden Salafismus: Kriegsherr Muhammad trug schwarze Kleidung, als er als Staatschef nach gewonnenem Krieg in Mekka einritt. Jacques erzählt mir, dass erst kürzlich bei einem salafistischen Treffen in der Banlieue die erzkatholische rechte Gruppierung „Civitas“ zu Gast war und die anarchistische Gruppe direkt davor eine Protestkundgebung abhielt – nicht ungefährlich, sie wurden gefilmt.

Jacques und Jacqueline nehmen mich am Demotag, 29. November, zu früher Stunde zum örtlichen Lokal der Libertären mit; sie gehören einer noch im Aufbau befindlichen Ortsgruppe der Fédération Anarchiste an.

Das Lokal wird aber gleichzeitig von einem halben Dutzend linksradikaler und ökologischer Gruppen benutzt. Es liegt in einer abschreckenden Hochhausschlucht, eine kleine Insel des libertären Austauschs. Unsere Gruppe umfasst ca. 14 Leute aus allen das Lokal tragenden Gruppen, nicht nur AnarchistInnen also. Jacques und Jacqueline stellen mich als vertrauenswürdig vor. Das Vorgehen an diesem Tag wird besprochen. Tags zuvor war eine Kundgebung gegen den Notstand in Versailles, bei der alles ruhig ablief – das könne aber heute anders sein, so wird vorgewarnt, die Place de la République mitten in der Innenstadt hätte eine symbolische Bedeutung; Frankreichs Autorität solle vor der Weltöffentlichkeit nicht blamiert werden.

Eine etwas kuriose Schwerpunktsetzung in der Praxis der Leute wird sichtbar. Einige legen sich Papp-Plakate mit Slogans und Parolen um den Hals, teils mit Inhalten: „Klima-Notstand“; teils mit witzigen Sprüchen: „Ich demonstriere nicht!“

Andere kündigen an, dass sie sich bei einer Konfrontation vermummen werden, weil sie bereits Anzeigen oder Vorstrafen laufen haben und nicht von den Überwachungskameras erfasst werden wollen.

Als Ziel wird verkündet, spätestens um 13 Uhr auf dem Platz zu sein. Die Demo ist für 14 Uhr angekündigt, alle rechnen damit, dass die Zufahrten geschlossen werden, je näher der angekündigte Demobeginn rückt.

Nach der Vorbesprechung und dem Bekanntgeben der Nummer des Ermittlungsausschusses gehen wir los.

Wir fahren mit der RER-Bahn zur Gare du Nord. Hier zeigt sich bereits die Naivität unserer Vorbereitung: Schon nach der ersten großen Rolltreppe empfangen uns oben PolizistInnen, die sofort die umgehängten Pappplakate und Transparente konfiszieren. So ist das in Notstandszeiten. Wir können von Glück sagen, dass wir als Gruppe danach loskommen und unsere Personalien nicht aufgenommen werden. Konsequenz: Wir ändern die Taktik, um auf den Platz zu kommen, der jetzt noch ca. einen Kilometer entfernt liegt. Wir teilen uns in Kleingruppen zu zwei, drei Leuten auf, bleiben in Abstand zueinander, so dass wir nicht als Großgruppe erkennbar sind, und nähern uns so langsam dem Platz. Fast überall sehen wir riesige Schlangen von Polizeiwannen, bevor die jeweilige Straße auf den Platz mündet, fast durchgängig CRS-Truppen (kasernierte Spezialeinheiten der Nationalpolizei).

Wir umrunden in Seitenstraßen den Platz, doch fast bei jeder Einfallstraße dieselbe massive Polizeipräsenz. Schließlich finden wir eine Zufahrtsstraße, in der wir über eine lange Zeit hinweg beobachten, dass die CRS Einzelleute, die auf den Platz wollen, nicht kontrollieren und durchlassen. Hier versuchen wir es. Zwischen zwei gelangweilten CRS-Einheiten gehen wir zu dritt einfach durch, es klappt auch bei den anderen Kleingruppen und schließlich finden wir uns als Gruppe unkontrolliert auf dem Platz wieder.

Es ist genau 13 Uhr. Später habe ich erfahren, dass schließlich alle Zufahrtsstraßen geschlossen wurden und kurz vor 14 Uhr kaum noch jemand auf den Platz gelassen wurde.

Eine lebendige Bewegung mit vielen Gesichtern auf der Place de la République

Zu dieser Zeit mögen etwa 4.000 Menschen auf dem Platz sein. Es ist eine kunterbunte Mischung verschiedener Spektren der Klimabewegung und anarchistischer Gruppen.

Wir gehen um die große, die Republik symbolisierende Mariannen-Statue mitten auf der Place de la République, sehen uns die Trauerkränze, Beileidsschriften und Blumen rund um das Monument an und begegnen der gewaltfreien Aktionsgruppe „Les Désobeissants“ (Die Ungehorsamen), die gerade ein Theaterstück aufführt; den unterschiedlichsten Klimagruppen bis hin zu indigenen Gruppen aus Südamerika; es ziehen ZAD-AktivistInnen aus NDDL (Notre-Dame-des-Landes, dem besetzten Gebiet des geplanten Flughafens von Nantes) an uns vorbei – deren Traktoren jedoch von der Polizei nicht auf den Platz gelassen wurden, sie mussten in Versailles bleiben; schließlich überraschend viele VeganerInnen und TierrechtsaktivistInnen, die einen Zusammenhang zwischen Klimaschutz und fleischlicher Ernährung sehen; dann die AnarchistInnen, deren Strömungen sich zu einer Aktionseinheit zusammengeschlossen haben, der die Alternative libertaire (Kommunistische AnarchistInnen), die CGA (Koordination anarchistischer Gruppen; eine südwestfranzösische Abspaltung von der Fédération anarchiste), die CNT und die Fédération anarchiste (FA) angehören. Der Alternative libertaire ist es gelungen, viele Fahnen auf den Platz zu bringen, sie fallen am meisten auf; die Aktiven der FA gehen fast unter, zumal die Wochenzeitung „Le Monde libertaire“ derzeit nicht mehr erscheint. Ein unzureichendes Ad-hoc-Flugblättchen der FA kann die Zeitung nicht ersetzen, die mangelnde Präsenz der FA spiegelt deren aktuelle Krise wider.

Gleichzeitig ist gerade die Menschenkette auf dem Boulevard Voltaire bis zur Place de la Nation zu Ende gegangen – auf dem Gehweg der Strecke, auf der eigentlich die Demonstration stattfinden sollte. Diese Menschenkette wurde trotz Demoverbot zugelassen, die Ansichten über einen solchen „Erfolg“ sind geteilt: Nicht wenige meinen, sie hätten trotzdem dem Notstandsregime die Straße überlassen. An der Menschenkette nehmen ca. 10.000 Menschen teil, von denen danach noch einige Wenige auf die Place de la République gelangen. Zusammen mit unseren 4.000 auf dem Platz sind wir also insgesamt 14.000, die dem Notstandsregime vor Ort trotzen. Ist das nun viel? Ich bin eher enttäuscht. Eine Massendemo viel größeren Umfangs war vorbereitet worden, die Angst vor dem Unvorhersehbaren, der Willkür des Notstandsregimes hat aber viele vom Kommen abgehalten. Vormittags noch war der Platz mit einer Riesenmenge von Schuhen gefüllt worden – ein Symbol, stellvertretend für den Demowillen von Menschen, die nun aufgrund des Verbots nicht gekommen sind. Das war uns zu wenig.

Immerhin sind wir zu Demobeginn um 14 Uhr noch auf dem Platz und die Stimmung ist prima. Allerdings sehen wir an mehreren Stellen Reihen von ZivilpolizistInnen, in schwarze Kampfmontur gehüllt und vermummt, die wir nur erkennen, weil ein Teil von ihnen noch orangene Polizeibinden trägt, die sie leicht abnehmen können, wenn sie sich unter militante Kämpfer mischen; manche haben sie bereits abgenommen (vgl. Foto unten auf dieser Seite: eine solche Zivi-Reihe, von hinten aufgenommen). Falls es also militante Auseinandersetzungen geben wird, ist damit zu rechnen, dass sie in vorderster Reihe mitmischen.

Um die für den Verkehr längst gesperrte Straße, welche die Place de la République umringt, setzt sich ein Zug mit dem Transparent der anarchistischen Organisationen vorneweg in Bewegung. Wir reihen uns als Gruppe in diesen Zug ein.

Er umkreist den Platz zur Hälfte und erblickt dann eine Lücke in Richtung Boulevard République, in die er dann einbiegt. Erst mehrere Polizeiwannen bei der ersten Querstraße, ca. 500 m tief im Boulevard, halten den Demoversuch auf. Es kommt nicht wirklich zur scharfen Konfrontation, die ersten paar Reihen sind notdürftig vermummt, doch von einem „Black Block“ kann nicht die Rede sein, nichts wird geworfen. Ein Versuch, mit einem Absperrgitter und dem Druck einer Reihe von DemonstrantInnen die Polizeireihen zurückzudrängen, scheitert kläglich, ein besonders mutig Vorstürmender wird direkt mit einem Tränengasspray ins Gesicht von den Beinen geholt – kleine Tränengassprays (kein Pfefferspray, wie in der BRD üblich!) sind effektive Kampfwaffen der Polizei in Nahdistanz zu DemonstrantInnen.

Doch in den hinteren Reihen ist die Stimmung kämpferisch. Die hohen Häuserzeilen lassen die Parolen laut erschallen: „Notstandsstaat, Polizeistaat – ihr werdet uns nicht daran hindern, zu demonstrieren!“ -„Polizei überall, Gerechtigkeit nirgendwo“ – „Notstandsstaat ist uns egal, wir wollen gar keinen Staat“ – in französischer Sprache reimt sich das und klingt kraftvoll. Oder einfach: „Freiheit, Freiheit, Freiheit!“ Der erste der drei Begriffe der bürgerlichen Revolution. Es sind eben doch die AnarchistInnen, die wirkliche Freiheit einfordern!

Das sind die besten Minuten, die ich hier erlebe. Ich habe für kurze Zeit das Gefühl, es sind immerhin 1.000 AnarchistInnen hier, die ein Demonstrationsverbot im Notstandsstaat aktiv zu unterlaufen versuchen.

An ein reales Durchbrechen der Polizeisperre ist jedoch nicht zu denken. Nach einiger Zeit gehen AktivistInnen von vorne wieder zurück auf den Platz, um es bei einer anderen Zufahrtsstraße auf der hinteren Seite des Platzes noch mal zu versuchen. Andere schreien, die Leute sollten hier bleiben und die 500 Meter Straße nicht aufgeben, wozu wir uns schließlich als Gruppe durchringen. Erst später erfahren wir, dass auf der anderen Seite des Platzes, Richtung Boulevard Magenta, ein relativ aussichtsloser, weil weniger geschlossener Versuch, in eine Zufahrtsstraße zu kommen, scheitert und die Polizei hier viel aggressiver vorgeht. Dort fliegen auch vereinzelt leere Flaschen, auch Teelichter und Blumen vom nahen Gedenkmonument – was in der bürgerlichen Presse hernach als skandalöse Zusammenstöße geschildert wird, wobei die Teelichter- und Blumenwürfe, wohl mangels wirklicher Pflastersteine, geradezu wie eine „würdelose“ Grabschändung dargestellt werden. Die offiziellen Fernsehsender in Frankreich sind noch eine Kategorie schlimmer als die deutschen bei der Verdrehung von Tatsachen.

Vor allem wird nicht berichtet, wie dann die CRS-Truppen bei der Räumung des Platzes von hinten her die Trauerutensilien und Blumen massiv zertrampeln, ohne sich nur eine Sekunde um Würde zu kümmern. (1)

Als die CRS den Platz aufrollt, gibt es vielfältige Widerstandsformen, um deren Vorrücken zu behindern: Sitzblockaden wechseln sich mit Clown-Aktionen, Blumenwürfen oder anderen theatralischen Verwirrungsversuchen ab.

Als wir vorne vom Aufrollen des Platzes durch die CRS hören, versuchen wir an zwei Stellen, nach hinten aufzurücken, um die Masse dort zu verstärken. Nun aber schießen die CRS wie wild Tränengasgranaten in rauen Mengen in die Masse der DemonstrantInnen, neben mir gehen mindestens zehn Granaten gleichzeitig nieder. Zum Glück weht der Wind in Richtung der Seitenstraßen und treibt die Gaswolken von mir weg, ich bekomme trotzdem zweimal kurz hintereinander Tränengas in Augen und Atemwege. HelferInnen mit Zitronen und Wasser sind sofort zur Stelle.

Derweil verlassen immer mehr DemonstrantInnen auf der Seite des Boulevard du Temple den Platz, wir werden immer weniger. Gegen 15 Uhr 15 verlassen auch wir den Platz, die Leute werden nur noch einzeln rausgelassen, restliche Plakate werden selbst beim Verlassen des Platzes noch abgenommen.

Wir hören später, dass im weiteren Verlauf bis zum Abend die Ausgänge ganz geschlossen wurden und die Verbliebenen Stück für Stück zum Teil geschlagen, zum Teil auf dem Boden geschleift und in Gefangenentransporter geladen wurden. Es gab insgesamt 340 Festnahmen, davon 317 „en garde à vue“ (Gewahrsamnahme), aber niemand weiß am Abend gegen 20 Uhr, als der Platz geleert ist, was das praktisch bedeutet.

Die rechtliche Beschränkung, Gewahrsamnahmen maximal 24 Stunden durchführen zu dürfen, gilt in Notstandszeiten nicht. Schließlich wird am nächsten Tag klar, dass alle bis auf 9 freigelassen wurden – wie lange und warum diese 9 festgehalten wurden, bleibt unklar.

Anderntags sind sogar die Presseberichte von „Libération“ und „Le Monde“ fast so furchtbar wie die Berichterstattung der Fernsehmedien. In „Libé“ wird es so dargestellt, als hätten die anarchistischen DemonstrantInnen mit Klima nichts am Hut (2); in „Le Monde“ wird die Falschdarstellung immerhin von einem Zugeständnis begleitet:

„Aber die Ausschreitungen auf der Place de la République, die weder Verletzte (!) noch Sachschäden (!) verursacht haben [die Falschdarstellung liegt hier darin, dass es auf Seiten der DemonstrantInnen natürlich zahlreiche Verletzte durch Knüppelschläge und Gaseinsatz gegeben hat; während es auf Seiten der Polizei offensichtlich niemand für nötig befunden hat, auch nur eine Scheinverletzung zu Protokoll zu geben; L.M.], können den Erfolg der Nicht-Regierungsorganisationen, der Gewerkschaften und der ökologischen Gruppen nicht mindern, das Demonstrationsverbot in Paris untergraben zu haben.“ (3)

Genau diese Tatsache hat trotz allem Mut gemacht. Es ist möglich, gegen das Notstandsregime praktisch aufzubegehren. Ich hoffe, diese Großdemo war nur ein Anfang.

Verwirrende Eindrücke vor dem Bataclan

Anderntags gehe ich von der Place de la République aus ein wenig den Boulevard Voltaire hinunter, um nach etwa 500 Metern direkt nach der Métrostation „Oberkampf“ auf das Bataclan zu treffen, den von den Attentaten so stark betroffenen Konzertsaal. Die farbige Fassade steht wie eh und je, auf der großen Ankündigungstafel wird noch immer die Gruppe „Eagles of Death Metal“ angekündigt.

Die Gruppe spielt übrigens nicht wirklich Death Metal, sondern einen eher hippiebeeinflussten Hardrock – und sie hat bereits angekündigt, gerne bei der Wiedereröffnung des Konzerthauses als erste Gruppe spielen zu wollen. Gut möglich also, dass die Ankündigungstafel bis dahin gar nicht geändert wird.

Doch der Blick auf den Eingang ist durch eine hohe Absperrungsplane versperrt, wovor sich eine Unmenge an Blumen, Fotos von Opfern, Zetteln, Kränzen usw. befinden. Auch auf der Gegenseite des Boulevard Voltaire zieht sich über Hunderte von Metern ein Streifen von Blumen und Trauerbotschaften hin.

Als ich an einigen Menschen vorbeigehe, sehe ich ihre Tränen in den Augen. Gut möglich, dass es sich um Verwandte einiger der 90 Opfer allein dieses Attentats handelt. Wild durcheinander stehen die Botschaften, auf verschiedenste Weise am Zaun oder am Boden angebracht – ein Kaleidoskop verschiedenster Ansichten und Denkweisen. Vereint ist mann/frau da nur im Schmerz, dann geht alles meilenweit auseinander. Nationalistische Parolen und Fahnen wechseln mit einfühlsamen Zeilen für ein 17-jähriges Opfer ab; ein Verein tunesischer Jugendlicher verurteilt die Attentate im Namen der Muslime; Aufrufe zum Frieden als Konsequenz der Attentate wechseln sich mit unverhohlenen Racheparolen ab – oft genug überraschender Weise aus der künstlerischen Ecke.

Eine Botschaft wird mit einem Gandhi-Zitat unterlegt: „Der Hass tötet immer, die Liebe wird überleben.“ Viele Grußbotschaften haben mit Rockmusik zu tun: „Rock’n’Roll will never die“, und mit Versprechen, auch weiter auf Konzerte zu gehen. Kurioserweise hat sich ein Trauerkranz des „Präsidenten von Djibouti“ unter die niedergelegten Trauerobjekte verirrt, gleich neben einem offiziellen Fähnchen der französischen Armee: „S’Engager – L’Armee de Terre recrute“ (Sich verpflichten – Die Landstreitkräfte rekrutieren) – da könnten sich die Rache schwörenden KünstlerInnen sozusagen gleich vor Ort zum Kriegsdienst melden. Es ist ein verstörendes Kaleidoskop, das nur einmal mehr dokumentiert: Die Verarbeitungsformen können im Bewusstsein der Leute wahrlich in alle Richtungen gehen.

(1) Dies und fast alle geschilderten Vorgänge sind dokumentiert in einem rund 30minütigen, von einem Bewegungsaktivisten aufgenommenen Video: www.taranisnews.com/post/134258421283/cop21-la-manifestation-interdite-place-de-la

(2) Vgl. "À Paris, de la chaîne humaine aux activistes qui se déchaînent" (Paris: Von der Menschenkette bis zu entfesselten AktivistInnen), in: "Libération", 30.11.2015, S. 6.

(3) Vgl. "Succès de la Marche mondiale pour le climat" (Erfolg des weltweiten Marsches fürs Klima), in: "Le Monde", 1.12.2015, S. 6.