Beim Thema "Projekt A" denken sicher viele an den Projektanarchismus, der durch Horst Stowasser und sein 1985 erschienenes Buch "Projekt A" inspiriert und mit initiiert worden ist. Der Film "Projekt A" ist dagegen noch unbekannt. Dieser Dokumentarfilm über "Eine Reise zu anarchistischen* Projekten in Europa" kommt ab Februar 2016 in die Kinos. GWR-Redakteur Bernd Drücke konnte sich das Werk vorab ansehen und war so angetan, dass er am 15. Januar 2016 im Studio des Medienforums Münster eine Radio Graswurzelrevolution-Extrasendung dazu produziert hat, die am 2. Februar 2016 von 20:04 Uhr bis 21 Uhr im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz) und im Livestream auf www.antenne-muenster.de ausgestrahlt wird. Telefonisch zugeschaltet waren die Regisseure Marcel Seehuber (Jg. 1976) aus Altötting in Bayern, und Moritz Springer (Jg. 1979) aus Niederfinow bei Berlin. Wir drucken eine redaktionell überarbeitete Version des Gesprächs. (GWR-Red.)
GWR: Stellt Euch bitte mal vor.
Marcel Seehuber: Ich bin einer der Regisseure und habe auch die Kamera bei Projekt A geführt.
Gerade sitze ich in meiner Wohnung in unserem Hausprojekt in Altötting, dem AMK, das im Mietshäuser Syndikat organisiert ist. Wir haben mit unserem Hausprojekt ungefähr zeitgleich zum Film „Projekt A“ begonnen. 2009 haben wir das Haus nach zwei Jahren Vorarbeit und Planung gekauft.
Ich selber bin nicht so politgruppenspezifisch aufgewachsen und war eher in der Spaßguerilla unterwegs, in den 1990ern als Punk und dann in der APPD (Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands) organisiert gewesen. Obwohl organisiert kann man da ja nicht wirklich sagen. (lacht)
Moritz Springer: Ich bin der zweite Teil des Filmteams. Marcel und ich haben den Film ganz anarchistisch zusammen gemacht. Das ist mein zweites großes Projekt als Filmemacher. Ich habe Horst Stowasser, den du vorhin angesprochen hast, 2007 auf einer Konferenz in Mecklenburg-Vorpommern getroffen und war ziemlich begeistert von ihm als Person, aber vor allem von dem, was er da über Anarchismus erzählt hat. Ich war früher auch punkmäßig unterwegs und auch politisch engagiert, aber mit der Theorie des Anarchismus habe ich mich erst richtig seit dem Projekt beschäftigt.
Stowasser hat da etwas in mir angesprochen, was ich irgendwie tief in mir wusste, aber nie so benennen konnte und so hat das Projekt seinen Lauf genommen. Ich versuche immer, in Filmen Themen zu behandeln, die mich in erster Linie selber interessieren. Es ist ein guter Gradmesser, wenn es einen selber interessiert, wenn man Lust hat, da mehr darüber zu erfahren, da besteht eine gute Chance, dass es andere Leute auch interessiert.
GWR: Wie seid Ihr auf die Idee gekommen, diesen Film zu machen?
Moritz Springer: Als ich Horst Stowasser kennen gelernt habe, war schnell klar, dass ich etwas über Anarchismus machen möchte und Horst Stowasser war auch sofort bereit mitzumachen. Wir haben uns ein paar Mal getroffen.
Moritz Springer: Dann haben wir uns überlegt, was man für einen Film machen könnte.
Ich habe dann angefangen zu recherchieren in Deutschland und bin dann auch nach Barcelona gefahren, wo Stowasser eine Menge Leute kannte.
In München bin ich auf Dr. Peter Seyferth gestoßen, ein Anarchismusexperte. Als ich mit ihm zusammen saß, hat er mich gefragt: „Hast Du schon einen Kameramann? Ich hätte da den perfekten Menschen.“ Und das war dann der Marcel. Das war so Ende 2008 oder Anfang 2009.
Marcel Seehuber: Das war vor den vielen Exposéversionen, die wir dann geschrieben haben.
Moritz Springer: Genau. Dann haben wir das Projekt gemeinsam weiter entwickelt. Der Grundansatz war von Anfang an, dass wir uns auf der einen Seite mit der Theorie des Anarchismus auseinander setzen wollten, weil wir das Gefühl hatten, dass es ganz viele Klischees gibt, wenn der Begriff fällt, die aber eigentlich nicht viel mit der Idee zu tun haben.
Auf der anderen Seite hatten wir beide das Gefühl, dass wir nicht in der Theorie stecken bleiben wollten. Es gibt einen Haufen guter Bücher, unter anderem das grandiose „Anarchie“ von Horst Stowasser. Wir wollten aber vor allem auch gucken, was Anarchisten heute machen. Wie setzen sie die Idee konkret um?
Kann der Anarchismus auch ein Ansatz sein, wie man sich anders organisiert? Von diesem Grundgedanken ausgehend haben wir in Spanien, Griechenland und Deutschland nach entsprechenden Menschen und Projekten gesucht.
GWR: Was bedeuten für Euch Anarchie und Anarchismus?
Marcel Seehuber: Ich denke, dass der zentrale Ausgangspunkt beim Anarchismus die Herrschaftslosigkeit ist, dass niemand über den anderen herrschen soll. Wenn Du das als Prämisse nimmst, leiten sich davon viele Dinge ab. Dann muss man sich überlegen, wie man sich anders in einer Gesellschaft organisiert, was es für die Eigentumsverhältnisse heißt und so weiter.
Der Anarchismus ist auf jeden Fall auch anti-kapitalistisch, also quasi die anti-autoritäre Version des Sozialismus. Wenn Du nicht willst, dass jemand über die anderen herrschen kann, dann darf natürlich auch das Eigentum und der Zugang zu Ressourcen nicht ungleich verteilt sein. Sich mit dem Thema über so eine lange Zeit beschäftigen zu können war spannend und lehrreich, denn nicht nur die breite Mehrheit versteht unter Anarchismus ganz verschiedene Dinge, sondern oft genug auch die Anarchistinnen und Anarchisten selber.
Moritz Springer: Ich kann Marcel da nur vollkommen zustimmen. Kant hat das ja auch ganz schön gesagt: „Anarchie ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt.“ Das Schöne am Anarchismus ist, dass man ihn auch immer an die örtlichen Begebenheiten anpassen muss. Es gibt kein Grundrezept, das man eins zu eins übertragen kann. Es geht immer darum, sich mit den Menschen, mit denen man zu tun hat, zusammen zu setzen und zu überlegen, was anarchistisch denn in unserem konkreten Fall bedeuten würde. Insofern sind die Projekte im Film auch sehr unterschiedlich, auch wenn sie sich fast alle den Anarchismus auf die Fahne geschrieben haben. Das Kartoffelkombinat, das am Ende des Films vorkommt, schreibt sich dagegen den Anarchismus überhaupt nicht auf die Fahne; es ist in unseren Augen aber durchaus anarchistisch.
GWR: Wen habt Ihr interviewt? Wie ist der Film strukturiert?
Moritz Springer: Es gibt unterschiedliche Stationen. Wir waren einmal in Griechenland unterwegs, in Exarchia, wo wir den Parko Navarinou besucht haben, ein Park, der nicht nur von Anarchisten, sondern auch von Anwohnern besetzt worden ist. Wir haben die Stimmung in Griechenland aufgegriffen.
Dann waren wir in Deutschland mit der Anti-Atom-Aktivistin Hanna Poddig unterwegs und haben sie beim Castortransport 2011 im Wendland und einer Schienen-Blockade bei Gronau begleitet. Wir waren 2012 in St. Imier in der Schweiz auf dem großen Internationalen Anarchistischen Treffen mit ungefähr 3.000 Leuten. In Spanien wollten wir den historischen Spuren des Anarchismus nachgehen.
Wir waren bei der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CGT und haben dann noch ein spannendes Projekt besucht, die Cooperativa Integral Catalana (CIC) in Barcelona, die von Enric Duran mit gegründet worden ist. Die versuchen, ein Netzwerk aufzubauen, wo ganz unterschiedliche Bereiche des Lebens selbstorganisiert werden. Zu guter Letzt waren wir in München beim Kartoffelkombinat, einer solidarischen Landwirtschaft.
GWR: Ich zitiere aus Eurem Pressetext: „Unsere Protagonisten sind Anarchisten. Sie träumen von einer freien Gesellschaft. Sie entwerfen konkrete Visionen einer anderen Welt und versuchen diese in ihrem Leben umzusetzen. Sie glauben daran, dass Menschen herrschaftsfrei leben können, ohne Staat. ( ) Ausgangspunkt des Films ist dabei die Frage, ob die anarchistischen Ideen nur eine Vision weniger Menschen sind, oder einen Lebensentwurf für die gesamte Gesellschaft darstellen können.“ Wie würdet Ihr diese Frage beantworten?
Marcel Seehuber: Wir können sehr wohl herrschaftsfrei und selbstorganisiert leben.
Der Knackpunkt ist aber der, wie man das organisiert, welche Strukturen man dafür braucht.
Es geht nicht, dass man denkt, dass sich alle Menschen ändern müssen. Wir müssen uns schon überlegen, wie das mit all den Menschen geht, die wir haben, mit all ihren Fehlern, ihren Problemen, mit den guten und bösen Menschen, wenn ich das mal so schwarzweiß formulieren darf. Wenn ich jetzt auf die Projekte eingehe und mir die Leute, die wir da so getroffen haben, anschaue, dann denke ich, dass es die ersten Schritte in Richtung einer anderen Welt sein können.
Auf der einen Seite hat man da Leute, die sehr individualistisch an die Sache rangehen, wie zum Beispiel Hanna und auch die ganze CrimethInc-Geschichte, die sie ja teils auch vom Englischen ins Deutsche übersetzt.
Auf der anderen Seite haben wir anarchosyndikalistische Organisationen wie die CGT, die schon auf eine gewisse Tradition zurückblicken und sich sehr strukturiert zu organisieren versuchen. Das ist ein Spannungsfeld, das interessant zu beobachten ist, wo aber in keinem der beiden Bereiche für mich die alleinige Lösung liegt.
Ich denke, man muss einen Schritt weiter gehen und sich überlegen, welche Mittel man hat um sich demokratischer, anarchistischer zu organisieren.
Welche Möglichkeiten man hat um Eigentum anders zu verteilen oder Besitz anders zu gestalten, und was es eigentlich heißt, wenn man sagt, dass man eine Revolution machen will. Das ist heute schon etwas ganz Anderes als vor 150 Jahren.
GWR: Ich finde den „Projekt A“-Film sehr sehenswert. Wäre es nicht sinnvoll, ihn als Auftakt zu weiteren Filmen zu verstehen? Habt Ihr da Pläne? Es gibt in Deutschland ja eine vielfältige anarchistische Szene, die im Film nicht beleuchtet wird. Auch das historische Projekt A, dem Ihr Euren Titel entliehen habt, kommt im Film gar nicht vor. Es wäre spannend, da mit einem zweiten Film anzuknüpfen.
Moritz Springer: Wir haben uns nun acht Jahre mit dem Thema beschäftigt. Ich habe für mich alle Bereiche abgegrast.
Dann ist es wichtig, den Kopf wieder frei zu kriegen für andere Projekte. Unsere Projekte werden immer politisch sein. Ich glaube, dass ich da für Marcel und mich sprechen kann.
Mein nächster Film wird keine Fortsetzung sein. Ich möchte mich schon anderen Themen zuwenden. Man kann mit einem Film in 90 Minuten sowieso nicht das gesamte Themenspektrum abdecken. Klar, dass es viele weitere spannende Projekte auch in Deutschland gibt.
Wir haben versucht, die Dinge heraus zu picken, die uns interessant erscheinen. Das von Stowasser in Neustadt initiierte Projekt A war für uns eine Inspiration, ist aber letztendlich gescheitert und hat für mich gerade auch keine aktuelle Relevanz. Ich finde es gut, den Blick mal nach vorne zu richten. Insofern steht für mich das Kartoffelkombinat auch ganz richtig am Ende des Films, weil das Menschen sind, die sich nicht unbedingt das Label Anarchismus aufdrücken, letztendlich aber Dinge machen, die die Gesellschaft nachhaltig verändern können. Das war auch immer eine Diskussion mit den Protagonisten, ob man dieses Label des Anarchismus verwendet oder ob es nicht auch zu viel Energie braucht, um immer wieder mit den Menschen zu diskutieren, was hinter dem Begriff wirklich steckt. Ich finden den Anarchismus sehr aufschlussreich, weil er uns zeigt nach welchen Grundsätzen wir handeln und uns organisieren sollten, in der Außenkommunikation sind mir aber die Grundsätze wichtiger als der Begriff.
Marcel Seehuber: Anarchismus als Label, Style oder auch als Subkultur wird nie eine große gesellschaftliche Relevanz bekommen können. Es widerspricht auch grundsätzlich dem anarchistischen Ansatz, nämlich gesamtgesellschaftliche Veränderungen anzustreben.
Der Anarchismus hat als politische Theorie auch weit mehr zu bieten und da macht es dann auf jeden Fall Sinn, anarchistische Ziele und Prinzipien richtig zu beschreiben und unter dem Begriff zu sammeln, ihn richtig zu benutzen. Ich denke, dass die antikapitalistische Bewegung sich genau überlegen und auch Vorschläge machen muss, wie diese andere Welt, von der so oft gesprochen wird, denn aussehen soll. Klare Begrifflichkeiten und gemeinsame Ziele können uns da nur helfen. Zu Deiner Frage. Ja, da gehören noch viele Filme gemacht, Projekt A wäre ein sehr spannendes Thema. Aber da sind jetzt vielleicht erstmal andere an der Reihe.
GWR: Ihr spielt in „Projekt A“ auch mit dem Klischee des Molli werfenden Anarchisten. Im Film gibt es zum Beispiel eine Szene, die Ihr in Griechenland gefilmt habt.
Da wird erst ein Mercedes abgefackelt, kurz darauf auch das Feuerwehrauto. Da wäre eigentlich ein Ansatzpunkt, etwas zum Thema Gewalt zu sagen. Das fehlt im Film. Ihr stellt kurz eine Frage, aber die interviewte Anarchistin sagt da im Grunde gar nichts zu, nur: „das wäre kein Thema“. Das finde ich schade.
Moritz Springer: Sie sagte nicht, dass es kein Thema sei, sondern dass es angesichts der Situation in Griechenland müßig sei, darüber zu reden.
GWR: Das ist meiner Meinung nach aber nicht unbedingt der Fall. Ich finde Sabotage sinnvoll, wenn sie keine Menschen gefährdet und sich zum Beispiel gegen [Tod bringende] Panzer oder Genmaisfelder richtet. Wenn es also eine emanzipatorische Aussage im Sinne des Anarchismus gibt und sich das Ziel einer gewaltfreien, herrschaftslosen Gesellschaft schon in der Aktionsform spiegelt. Das Abfackeln eines Feuerwehrautos ist dagegen eine bescheuerte und nicht vermittelbare Aktion.
Kann man das überhaupt Anarchisten zurechnen? Bei der Szene habe ich mich gefragt, was sie in dem Film zu suchen hat. Oder wenn, sollte da nicht mehr darauf eingegangen werden? Das fehlte. Da habe ich Kritik.
Marcel Seehuber: Das finde ich gut, dass Du das ansprichst, weil es damit Ausgangspunkt für eine Diskussion über Gewalt ist. Der Film selber ist ja eher als Einstieg in das Thema und in die Diskussion zu sehen. Die Diskussion kann der Film auch gar nicht ersetzen und wir wollen da auch keinen Standpunkt vorgeben. Er ist ein Beitrag zur selbigen. Margarita im Film kommentiert diese Gewaltdiskussionsfrage aus ihrer Perspektive. Ich denke schon, dass die Leute, die das gemacht haben, sich als Anarchisten bezeichnen würden und dass viele griechische Anarchisten der Gewalt gegenüber sehr offen sind. Gewalt hat in Griechenland einen ganz anderen Stellenwert, als zum Beispiel hier. Das führt dann auch dazu, dass dort andere Dinge als sinnvoll erachtet werden.
Dennoch würde ich sagen, dass auch der größte Teil der griechischen Anarchisten das mit dem Feuerwehrauto ziemlich doof findet, aber manche vielleicht auch nicht. Möglicherweise auch deswegen, weil die Auseinandersetzung mit der Staatsmacht in Griechenland einen militanten bzw. militärischen Charakter angenommen hat.
Nicht zu vergessen, dass Gewalt dort auch viel alltäglicher ist und allein dadurch schon einen anderen Stellenwert hat. Es ist wichtig, darüber zu sprechen und eine Haltung demgegenüber zu finden, dass auch das Publikum sich überlegen muss, wie es dazu steht. Unsere Haltung dazu ist, denke ich, relativ klar.
Ich finde es nicht gut, dass Feuerwehrautos angezündet werden. Aber die Szene sollte ein Stein des Anstoßes sein, darüber nachzudenken, was wir eigentlich wollen und welche Mittel adäquat sind.
Moritz Springer: Uns war es schon wichtig, das zu zeigen, weil es gerade in Griechenland, vor allem in Exarchia zur Realität dazu gehört, weil es ein alltägliches Phänomen ist.
Also, das mit dem Feuerwehrauto nicht unbedingt. Aber in der Zeit, wo wir da waren, haben wirklich viele Autos gebrannt.
Margarita sieht die Gewalt im Gesamtkontext, in dem sich die Gesellschaft befindet. Die Krise, der Polizeiapparat, die Gewalt, die sie erfahren, die sehr hohe Arbeitslosigkeit, die Perspektivlosigkeit der Jugend.
Die Leute sind frustriert und das provoziert Gewalt. Margarita hat auch gesagt, das ist nun nicht im Film drin, dass es ihr lieber sei, wenn die Leute auf die Straße gingen und vielleicht nicht unbedingt etwas machen, was sie richtig fände, aber es wäre ihr immer noch lieber, als wenn sie vor dem Fernseher säßen.
Das kann ich zu einem gewissen Teil nachvollziehen.
Ich glaube, dass wir alle diese Wut kennen, die vor allem in jungen Menschen steckt. Die Wut sucht sich ihr Ventil, das muss nicht richtig sein, trotzdem ist diese Wut Realität. Sie ist in gewisser Weise auch berechtigt.
Inwieweit es nun richtig ist, ein Feuerwehrauto anzuzünden oder nicht, führt eigentlich an dem, worum es geht, vorbei.
Wir könnten dann stundenlang diskutieren, welche Gewalt richtig sei und welche nicht, aber eigentlich sollten wir darüber diskutieren, was denn die Ursachen für die Gewalt sind.
Dass der Staat für sich das Gewaltmonopol beansprucht, wird häufig nicht hinterfragt. Aber Du siehst schon, dass es ein sehr weites Diskussionsfeld ist. Man könnte wahrscheinlich nur über dieses eine Thema einen ganzen Film drehen. Ich sehe das wie Marcel, dass wir diese Themen in dem Film nur anreißen können. Jeder soll sich da ein eigenes Bild machen. Es ist nicht unser Anliegen Meinungen vorzugeben.
GWR: Ihr habt auf dem Münchner Filmfest 2015 den Publikumspreis für den Projekt A-Film bekommen. Könnt Ihr dazu etwas erzählen?
Marcel Seehuber: Ja. Wir kamen eher durch Zufall in das Filmfest rein, weil wir spät dran waren. Wir konnten eigentlich gar nicht richtig einreichen und haben den Film in Windeseile fertig gemacht, um überhaupt noch laufen zu können. Das war für uns ein großes Glück und eine Bestätigung, dass sich dann rausgestellt hat, dass der Film doch für viele Menschen recht interessant ist.
Die Vorstellungen auf dem Filmfest waren super besucht. Da ist schon etwas passiert. Aber dass wir eine Chance hätten, gegen Filme, die besser sind, weitaus mehr gekostet haben, konkurrieren zu können, dass wir die Menschen wirklich so berühren und dass sie dann so abstimmen, das hätten wir nie gedacht.
Wir wollten gar nicht zu der Preisverleihung gehen, weil es 35 Grad hatte und wir lieber schwimmen gehen wollten und Moritz auch auf dem Geburtstag seines Vaters eingeladen war.
Aber dann haben die gemeint, dass es cool wäre, wenn wir kämen, und dann haben wir gesagt, okay, dann geht halt einer von uns dahin. Es war eine unglaubliche Überraschung. Ich gebe eigentlich auf solche Preise nicht viel, weil es auch viel mit Glück und den Leuten vor Ort zu tun hat. Es hat aber uns, dem Film und auch dem Thema geholfen, weil wir dadurch viel mehr Aufmerksamkeit bekommen.
Moritz Springer: Ich möchte mich beim Filmfest München bedanken, dass sie den Mut hatten, so einen Film mit ins Programm zu nehmen. Letztendlich ist es bei Filmfestivals auch eine Entscheidung von wenigen, und unser Film ist unkonventionell, schreckt einige Leute auch irgendwie ab. Es hat uns gefreut, dass das Filmfest diesen Mut hatte. Den Preis zu bekommen, hat uns enorm bestätigt.
GWR: Die DA, die Graswurzelrevolution, die G?i Dào, die Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen (FdA), libertäre Verlage und Projekte, … der real existierende Anarchismus in Deutschland kommen in „Projekt A“ nicht vor.
Im „deutschen Teil“ des Films stehen stattdessen eine auch durch Fernsehtalkshows von Maischberger, Jauch, Lanz & Co. eh schon bekannte Aktivistin und ein Kartoffelkombinat im Vordergrund. Das fand ich eher schwach.
Was ich dagegen besonders interessant finde, ist, was Ihr in Griechenland und Spanien dokumentiert habt. Könnt Ihr darauf noch ein bisschen mehr eingehen? In Deutschland gibt es zum Beispiel die Freie ArbeiterInnen Union (FAU), eine kleine, anarchosyndikalistische Gewerkschaft.
In Spanien sieht das anders aus. Da gibt es drei anarchosyndikalistische Gewerkschaften, die aus der Spaltung der großen „Confederación Nacional del Trabajo“ (CNT) hervorgegangen sind: zwei CNTs und die „Confederación General del Trabajo“ (CGT).
Ihr habt die CGT besucht.
Marcel Seehuber: Zur Themenauswahl kann ich sagen, dass wir bestimmte Bereiche versucht haben abzudecken und da der Anarchosyndikalismus mit Spanien für uns quasi schon abgehakt war, sind wir in Deutschland andere anarchistische Themen angegangen. Ansonsten kam auch schon mal die Frage, warum wir nicht bei der CNT gewesen sind, sondern zur CGT gegangen sind. Für uns war die CGT spannender, weil das die größte anarchosyndikalistische Gewerkschaft überhaupt und die drittgrößte Gewerkschaft in Spanien ist. Die hat 60.000 Mitglieder, vertritt aber über die Betriebsräte etwa zwei Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter.
Es ist auch die einzige Gewerkschaft, die während der Krise im Gegensatz zu allen anderen Gewerkschaften keine Mitglieder verloren hat. Da sind sogar Mitglieder dazugekommen.
Insofern sieht man, dass es da eine große Relevanz gibt. Dann gibt es noch den historischen Aspekt, die CGT ging ja aus der CNT hervor und alle dort berufen sich auf die alten, anarchistischen, spanischen oder katalanischen Traditionen, weil der Anarchismus in Spanien in den 1930er Jahren, beziehungsweise noch viel früher, ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr, sehr groß war. Der Anspruch der Gewerkschaft ist einer, der über den Anspruch einer Gewerkschaft in Deutschland wie dem DGB hinausgeht. Die vertreten nicht nur die Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern streben eine Veränderung der Gesellschaft an. Und sie sind dabei anders organisiert, nicht hierarchisch; es entscheiden eigentlich die Syndikate, und nicht etwa irgendwelche Gewerkschaftsfunktionäre. Es gibt quasi überhaupt keine Funktionärsposten, sondern Leute, die die Arbeit machen. Diese Modelle sind spannend.
In Deutschland sehen wir ähnliche Ansätze zum Beispiel im Mietshäuser Syndikat. Dass die Entscheidungen von unten nach oben getroffen werden, dass die Ebenen, die darüber liegen, nicht die unteren, oft regionalen Ebenen überstimmen oder ihnen Anweisungen geben können.
Moritz Springer: Das ist spannend, weil man häufig in Diskussionen entgegen gehalten bekommt: „Ja, das funktioniert vielleicht in einem kleinen, autonomen Projekt oder einem kleinen, selbstverwalteten Betrieb.“ Aber die CGT zeigt, dass es auch auf einer größeren Ebene funktionieren kann.
Das ist das Faszinierende an der Geschichte der anarchistischen Bewegung in Katalonien und in Spanien, dass es durchaus eine gesellschaftliche Relevanz hatte und weit über das Kleinteilige hinausging, dass es auch viele Fabriken gab, die so organisiert waren. Wir denken immer, dass ein großer Betrieb hierarchisch strukturiert sein muss. Ich glaube: Er muss es eben nicht.
Es kommt darauf an, wie man es macht, und auf den Willen der Einzelnen.
GWR: Was hat Euch bei der jahrelangen Filmarbeit am meisten überrascht?
Marcel Seehuber: Ich glaube, dass mich doch am meisten die Differenz überrascht hat zwischen dem, was man so in der sehr zahlreichen anarchistischen Literatur liest und dem, was man dann wirklich vorfindet, wenn man sich auf die Suche nach Projekten macht. Mir hat die Literatur schon irgendwie vermittelt, oder vielleicht habe ich es auch zwischen den Zeilen gelesen, dass es eine ganze Menge an verschiedenen, auch großen Projekten gibt. Als ob da schon produziert werden würde und wir nur umsetzen müssten, was in den Büchern steht und alles ganz einfach wäre.
Auch an unser Hausprojekt gingen wir ähnlich naiv ran. Aber in der Realität war es dann schwieriger, wirklich auch produzierende anarchistische Projekte in Europa zu finden.
Auch zu Spanien hatten wir da eine ganz andere Vorstellung. Und die oft recht ähnlichen Schwierigkeiten in den Projekten und Kollektiven können ja auch sehr erkenntnisreich sein.
Einige dieser Probleme lassen ja auch ein Muster erkennen, aus dem wir besser lernen sollten.
Grundsätzlich würde ich sagen, dass es viele spannende Ansätze gibt, die weiterentwickelt werden müssen. Ich sehe da viele erste Schritte. Die von uns besuchten Projekte sind, bis auf die CGT, ja auch noch jung. Keines ist überhaupt zehn Jahre alt.
Moritz Springer: Ja, das ist eine schwierige Frage. (lacht)
Generell, wenn ich Deine Frage konkret beantworte, dann hat mich am meisten die viele Arbeit überrascht, die wir mit dem Projekt hatten. (lacht)
Ich glaube, wenn uns vorher bewusst gewesen wäre, wie viele Jahre und Lebenszeit wir mit dem Film verbringen, dann bin ich mir nicht sicher, ob wir das gemacht hätten. Aber wenn ich eine Sache anfange, dann will ich sie auch zu Ende bringen.
Was mich am meisten beeindruckt hat, waren die Menschen vor Ort, zu sehen, wie stark sich die Leute engagieren. Und auch, wie vielfältig das Ganze ist. Letztendlich habe ich gemerkt, dass das, was die Projekte ausmacht, auch stark mit der Kultur zusammenhängt. Hanna und das Kartoffelkombinat sind in ihrer Art auch sehr deutsch, das ist sehr durchstrukturiert und gut organisiert. Da kommt viel aus dem Kopf.
Wogegen man bei den Spaniern merkt, dass das Ganze eher aus dem Bauch heraus kommt. Das ist viel entspannter, der Umgang miteinander ist zum Teil auch wesentlich lockerer. Trotzdem ist es allen Leuten geglückt in mir ein Feuer zu entzünden.
Das Schöne am Filmemachen ist auch, dass es mit einem selber viel macht. Ich habe Inspirationen aus den einzelnen Projekten herausgezogen.
Trotz dieser langen Zeit gab es immer wieder Punkte, wo mich die Projekte und Menschen berührt haben. Das kann ich jetzt nicht auf ein einzelnes Projekt herunterbrechen. Jedes Projekt hatte einen Aspekt, wo ich gemerkt habe, wow, da habe ich was gelernt und nehme etwas mit nach Hause. Das versuche ich bei mir, wie ich mit Menschen umgehe oder wie man Projekte angeht, zu integrieren.
Marcel Seehuber: Ich kann auch mit jedem Projekt und mit jedem Ansatz im Film im Grunde genommen etwas anfangen.
Da steckt für mich viel drin. Wenn man sieht, dass die Griechen viermal in der Woche auf ein Plenum gehen und sich engagieren, dann befeuert mich das auch wieder für mein Projekt zuhause. Makis, einer unserer Protagonisten rettet zum Beispiel gerade Flüchtlinge, quasi als Seenotrettung. Wenn ich das höre, dann gibt das auch mir wieder Energie für meine Projekte, wo man manchmal auch frustriert ist, wo man manchmal denkt, wie mühsam es ist.
GWR: Was plant Ihr in den nächsten Wochen?
Moritz Springer: Wir starten ab dem 4. Februar deutschlandweit in den Kinos, davor gibt es einige Vorpremieren. Unter anderem in Berlin am 2. Februar in der Volksbühne und etwas näher bei euch am 31.1. in Düsseldorf.
Ab dem 3. Februar sind Marcel, Hanna und ich in Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Schleswig-Holstein unterwegs.
Dann geht es über Sachsen runter nach Bayern. Da freue ich mich drauf. Wenn das Licht im Saal angeht, dann kommt der spannende Teil. Dann können wir darüber sprechen, was das Gesehene mit uns macht und wo wir Parallelen oder auch Widersprüche sehen. Das ist für uns interessant da ein direktes Feedback zu bekommen.
In dem Sinne kann ich allen sagen: Wenn Ihr wollt, dass der Film auch bei Euch gezeigt wird, dann geht zu Eurem lokalen Kino und sprecht die Leute an. Dann gucken wir, dass wir es möglich machen können vorbei zu kommen. Wir werden das nächste halbe Jahr mit dem Film unterwegs sein und wollen auch nach Spanien und Griechenland.
Dann schauen wir mal weiter, wo es den Film noch hinträgt.
GWR: Welche Perspektiven seht Ihr für den Anarchismus?
Marcel Seehuber: Rosige.
Weitere Infos
Die Radio Graswurzelrevolution-Sendung zum Projekt A-Film kann jetzt auf www.freie-radios.net/75036 gehört werden. Der Film läuft bundesweit schon in einigen Kinos. Am 24.3. wird er um 19 Uhr u.a. auch von der GWR im Cinema Münster präsentiert.
Infos: www.cinema-muenster.de/index.php?id=4508