"Erich Mühsam in Meiningen. Ein historischer Überblick zum Anarchosyndikalismus in Thüringen: Die Bakuninhütte und ihr soziokultureller Hintergrund. Tagungsband." Wanderverein Bakuninhütte e.V. & Erich-Mühsam-Gesellschaft e.V., Verlag Edition AV, Lich 2015, 133 Seiten, 12 Euro, ISBN 978-3-86841-156-0
Den Tagungsband einer akademischen Konferenz zu rezensieren, haftet unterschwellig immer die Sorge an, eine Sammlung spezieller, für den Alltag irrelevanter, unverständlicher Texte durchzupauken und sich im Anschluss auch noch ein Urteil abringen zu müssen.
Umso erfreulicher ist es, eine Entwarnung geben zu dürfen: Der Band „Erich Mühsam in Meiningen“ ist nicht nur die Bündelung verschriftlichter Vorträge der Konferenz „Sich fügen heißt lügen! Mühsam in Meiningen und seine Anarchisten“ (die GWR 401 berichtete), sondern eine inhaltlich und optisch stimmige Gesamtkomposition, der eine große LeserInnenschaft zu wünschen ist.
Nach einem informativen Vorwort, welches die Entstehungsgeschichte des Tagungsbandes noch einmal für Nicht-Eingeweihte rekapituliert, eröffnet Hartmut Rübner mit einer sehr lesenswerten Einführung in die Geschichte des Anarchosyndikalismus in Deutschland den inhaltlichen Teil. An dieser Stelle wirken die Faksimiles historischer Dokumente auflockernd, anschaulich und in ihrer Bildsprache aufschlussreich.
Es folgt der Beitrag Siegbert Wolfs, welcher umfangreich und genau den anarchosyndikalistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus inklusive des Prozesses des Volksgerichtshofes gegen die FAUD 1936 rekonstruiert. Anschließend zeichnet Klaus Trappmann unter dem Titel „Genralstreik das Leben lang“ ein lebendiges Portrait der Vagabunden-Bewegung der Weimarer Republik. Dabei liegt es leider in der Natur der Sache, dass die von Trappmann verwendeten Filmsequenzen im Tagungsband nur protokollartig wiedergegeben werden können.
Kai Richarz resümiert in seinem Beitrag „Vom Acker zum Ferien- und Schulungsheim“ die wechselhafte Geschichte der Bakuninhütte auf der Hohen Maas in der Nähe von Meiningen. Diese bettet er immer wieder bildhaft in den Kontext großer historischer Entwicklungen ein, ohne dabei das Auge für praktische Details zu verlieren. Im Anschluss steuert Uschi Otten die bewegte Lebensgeschichte von Zenzl Mühsam bei.
Diese liest sich so spannend wie ein guter Krimi und vermittelt einen Begriff davon, was es bedeutet, als Anarchistin (und Frau Erich Mühsams) über die verschiedenen politischen Systeme Deutschlands hinweg seiner Überzeugung treu zu bleiben.
Wolfgang Haug beschreibt umfangreich und von der Pike auf die theoretischen Debatten der anarchosyndikalistischen Bildungspolitik, wobei er sich überwiegend an dem Beispiel Rudolf Rockers orientiert. Es folgt der Beitrag Cornelia Regins über die Lebensreformbewegung und die Anfänge der Freikörperkultur in Deutschland, in welchem sie die Entwicklung, Praxis und Bedeutung dieser Bewegung für die ArbeiterInnen anschaulich herausarbeitet. Den Abschluss steuert Annegret Schüle mit einer Betrachtung des Anarchosyndikalismus in der thüringischen Stadt Sömmerda bei. Nicht nur für gewaltfreie AnarchistInnen ist das beschriebene Spannungsfeld der ArbeiterInnen zwischen anarchosyndikalistischer Organisation bei gleichzeitiger Arbeit in der Rüstungsindustrie besonders interessant.
Freilich kommt es auf den über 130 Seiten in Sprache, Stil und Spannung zwischen den AutorInnen zu Schwankungen. Neben lesefreundlichen Passagen kommt es zwischendurch zu Bleiwüsten mit exzessiven Fußnoten, die den akademischen Anspruch noch einmal unterstreichen wollen.
Die liebevolle Gestaltung des Umschlags und die umfassenden Informationen zur Tagung und darüber hinaus zeichnen ein umfangreiches Bild eines vielen LeserInnen vermutlich unbekannten Aspektes anarchistischer Geschichte.
Wer seine Kenntnisse über Anarchismus im deutschsprachigen Raum erweitern und vertiefen möchte, dem sei dieser Tagungsband ans Herz gelegt.
Wer jedoch einen grundlegenden Einstieg in dieses Thema sucht, wird mit allgemeineren Texten glücklicher werden.
Alles in allem ein wichtiger Beitrag zur anarchistischen Lokalgeschichte, der mit viel Herzblut zusammengestellt wurde.