libertäre buchseiten

Gegengeschichten oder Versöhnung?

Erinnerungskultur 80 Jahre nach Beginn der Spanischen Revolution 1936

| Wolfgang Haug

Alexandre Froidevaux: Gegengeschichten oder Versöhnung? Erinnerungskulturen und Geschichte der spanischen Arbeiterbewegung vom Bürgerkrieg bis zur "Transición" (1936-1982), Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2015, 600 Seiten, 28,90 Euro, ISBN 978-3-939045-25-0

Die Erinnerungskultur am Beispiel des Spanischen Bürgerkriegs und der Spanischen Revolution aus den verschiedenen politischen Blickwinkeln aufzuarbeiten und darzustellen, ist bereits ein hoher Anspruch. Ihre Auswirkung auf die spanische Transicón, den Übergang von der Franco-Diktatur zur parlamentarischen Monarchie, zu beschreiben, macht die gestellte Aufgabe umso größer.

Entsprechend voluminös kommt das neue Buch von Alexandre Froidevaux daher. Auf 600 Seiten versucht er seine Forschungsergebnisse aus spanischen Archiven vorzustellen.

Das Wort „Versöhnung“ im Titel bezieht er auf den Versuch, nach Francos Tod 1975 eine Versöhnung der spanischen Gesellschaft herbeizuführen, allerdings um den Preis des „Verdrängens“. So steht zu Recht ein Fragezeichen hinter diesem hohen Anspruch.

Wie soll „Versöhnung“ entstehen, wenn Wahrheiten ausgeblendet, Massengräber verschwiegen und Tote nicht rehabilitiert werden?

Der 1975 vereinbarte „Pakt des Vergessens“ wirkt zum Teil bis heute nach. Zu viele Menschen aus allen politischen Lagern hatten Interesse, nicht allzu genau hinschauen zu müssen.

Seit 2007 intensiviert sich die Suche nach den „Verschwundenen“ in Francos Diktatur. Das ging selbst in Argentinien und anderen oft geschmähten lateinamerikanischen Gesellschaften schneller. Das gewaltsame „Verschwinden Lassen“ von Menschen gilt immerhin seit 2002 im internationalen Recht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

„Es gibt nur eine Sünde, die gegen die ganze Menschheit mit all ihren Geschlechtern begangen werden kann, und dies ist die Verfälschung der Geschichte.“ Christian Friedrich Hebbel (1813 – 1863), deutscher Dramatiker und Lyriker. Quelle: Hebbel, Tagebücher

Prägung

Ganz richtig stellt Froidevaux fest, dass die Erinnerungen an die Spanische Revolution das Selbstverständnis linker Organisationen und AktivistInnen prägten.

Prägten? Sie prägen auch weiterhin; und nicht nur in Spanien, in ganz Europa, in Lateinamerika und etwas abgemildert in vielen anderen Teilen der Welt. Wir werden es in den Jubiläumsjahren 2016 bis 2019 noch häufig beobachten können.

Im Augenblick tun sich z.B. Stuttgarter Kreise sehr schwer damit, zur Jubiläumsveranstaltung einen anarchistischen oder anarchosyndikalistischen Redebeitrag zuzulassen. Deshalb stimmt die These des Buches, dass von der Existenz verschiedener politischer Gedächtnisse ausgegangen werden muss.

Zusätzlich stellt sich Froidevaux 12 komplexen Themenbereichen, angefangen von den Gründen für die innerorganisatorischen Spaltungen der spanischen Organisationen und Parteien, über die Konflikte zwischen dem innerspanischen Widerstand und den ExilantInnen, der Problematik der Täter und der Opfer bis hin zur Frage nach der Selbstkritik für die jeweils eigenen Leichen im Keller oder die Ansätze für die Wiederaneignung der eigenen Geschichte.

Dass dies nicht leicht zu bewältigen ist, wird durch die Aussage deutlich, dass Erinnerungskultur nicht statisch aufgefasst werden kann, sondern sich fortwährend in einem „gesellschaftlichen Aushandlungsprozess“ befindet, in dem die Akteure versuchen, die Deutungshoheit über die Ereignisse und das historische Erbe zu erlangen. In sich wäre dies bereits bedeutsam genug, da jedoch der zweite Aspekt, die Identifikation heutiger AktivistInnen mit ihren historischen Vorgängern, hinzukommt, gewinnen die identitätsstiftenden Interpretationen Macht über zukünftiges Handeln.

Die Francozeit

Großen Raum nehmen die zusammenfassenden Darstellungen der Francozeit und der Ereignisse zwischen dem Francoputsch 1936 und der Niederlage der Revolution und Republik 1939 ein.

Mit dem franquistischen Staat begann die nationale Interpretation von Erinnerungskultur.

Der „rote Terror“ wurde aufgebauscht und ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, die eigenen Massenmorde mit bis zu 200.000 Opfern wurden vertuscht. Vom Gegner wurde als von den „Kommunisten“ gesprochen, eine Unterscheidung wurde bewusst unterlassen, damit der prägende Anteil der AnarchistInnen und SozialistInnen in Vergessenheit geraten sollte und mit der Zeit verschwand.

Bei den Revolutionsschilderungen folgt Froidevaux weitgehend den Untersuchungen von Walter L. Bernecker. Auffällig ist, dass Froidevaux sich sehr auf die neueren Darstellungen stützt.

So liefern die Belege für die Maikämpfe 1937 in Barcelona Reiner Tosstorff, Heleno Sana, Pierre Broué, Emile Témime, Hans Schafranek, Helen Graham, Michael Schumann und Heinz Auweder, Andreas Baumer und eben Walter L. Bernecker, während die ZeitzeugInnen, die zeitgenössischen AutorInnen oder die Darstellungen und Berichte aus den zeitgenössischen Zeitungen oder Briefen fehlen. Dies steht in einem seltsamen Widerspruch zu den zahlreichen Archivalien und Zeitungen, die Froidevaux für seine Gesamtdarstellung ausgewertet hat. Gerade weil er hier augenscheinlich viel Zeit und Arbeit investiert hat, hätte ich mir an solchen Stellen mehr Details aus schwerer zugänglichen Quellen erhofft.

Aufarbeitung linker Debatten

Die eigentliche Bedeutung der Arbeit Froidevaux liegt aber in der Aufarbeitung linker Debatten und Schuldzuweisungen: über den Grund der Niederlage, über die Maikämpfe 1937, über Casados Absetzung der Negrin-Regierung 1939, über den möglichen Widerstand in Francos Spanien, über die wirklichen und vermeintlichen Bündnispartner und über das schwierige Verhältnis zwischen Exil und Untergrundarbeit innerhalb der Diktatur. Langsam begann die selbstkritische Analyse der AnarchosyndikalistInnen, weshalb die Revolution verloren ging, ob die Regierungsbeteiligung der entscheidende Fehler war oder die Aufgabe der revolutionären Milizen.

Sobald es um Erinnerungskultur und innerorganisatorische Debatten geht, greift Froideveaux auf Originalquellen zurück und wertet zahlreiche Zeitungen aus. In diesem Zusammenhang formuliert er eine entscheidende Erkenntnis: „Andererseits waren sich die Anarchisten ab dem Juli 1936 schlagartig bewusst geworden, dass die Revolution freiheitlich nur sein konnte, wenn ein Großteil des Volkes sie mittrug. Selbst in der republikanischen Zone hatte es jedoch starke Kräfte gegeben, die hierzu nicht bereit waren.

Eine anarchistische Revolution hätte deshalb autoritäre Maßnahmen ergreifen müssen, was ihrer Ethik widersprach. Auf dieses Dilemma waren CNT und FAI nicht vorbereitet gewesen.“

Hätten sie es sein können? Lehren aus den vorausgegangenen Revolutionen konnten sie jedenfalls nicht ziehen, es sei denn als Bestätigung dieses Dilemmas, denn hatten die vorausgegangenen Revolutionen nicht genau aus diesem Grund im Terror geendet? Dem Terror Robespierres, dem Terror Stalins oder, weil die Räterevolution in ihrem frühen Stadium nicht erfolgreich genug war, in dem Terror der konterrevolutionären, von der SPD bezahlten, rechtsradikalen Freikorps?

„Da das Buch im anarchistischen Graswurzelverlag erschienen ist, muss man sich nicht wundern, dass phantastischen Auffassungen von der ‚Befreiung von der Arbeit‘ breiter Raum gewährt wird.“ (Der bekennende Stalinist Dr. Seltsam am 30.1.2016 in der marxistischen Tageszeitung „junge Welt“ über das Buch „Gegengeschichten oder Versöhnung?“)

Ein tiefer Riss

Froideveaux macht deutlich, dass der tiefe Riss innerhalb der Franco-feindlichen Kräfte während der Revolution in der Erinnerungskultur des Exils in den verschiedenen Lagern vertieft wurde. Heldenkult und Märtyrertum der ersten Nachkriegsjahre verhinderten zudem lange den Blick auf die eigenen Fehler.

Die Nichtbeteiligung von AnarchosyndikalistInnen und SozialistInnen an Francos Gewerkschaften überließ dieses mögliche Kontaktfeld für die nachwachsende Arbeitergeneration den KommunistInnen, die sich Ende der 60 Jahre über die Arbeiterkommissionen der CCOO als Opposition zum Regime konkurrenzlos etablieren konnten. CNT und UGT wurden endgültig marginalisiert.

Ihre Organisationen waren zusätzlich in Fraktionen zerstritten. Der Bürgerkrieg oder gar die Soziale Revolution war kein Thema mehr, so dass die Opposition genauso zum „Vergessen“ beitrug wie das Franco-Regime selbst. Sprachlosigkeit machte sich breit. Froideveaux belegt, dass dies auch die ExilantInnen im französischen Exil erfasste, die in ihrer neuen Umgebung mit den „alten Geschichten“ keine Aufmerksamkeit erzielen konnten und deshalb sich eher darauf verlegten, über ihre Beteiligung an der französischen Resistance zu sprechen.

Eine Wiederbelebung der Bewegungen und eine Wiederaneignung der eigenen Geschichte musste von außen kommen: Die 68er-Bewegung hätte dies auslösen können. Und man hätte erwarten können, dass mit Francos Tod am 20.11.1975 das Ventil endlich vollends geöffnet wurde.

Doch so einfach war es nicht, wie Froideveaux recherchierte.

Die linken Parteien PSOE und PCE akzeptierten den „Pakt der Versöhnung“ und konzentrierten sich auf die Amnestiekampagne, die natürlich auch die Folterer in den Gefängnissen miteinschloss. Der PCE feierte die „Versöhnungspolitik“ sogar als ureigenste Erfindung. Und für die Legalisierung der Parteien im Jahr 1977 wurde auch die parlamentarische Monarchie geschluckt! Die Morde, die Repressionen während der Diktatur mussten deshalb „vergessen“ werden, damit diese Versöhnung gelingen konnte.

Gegengeschichte

Völlig prägen konnten die alten Mächte und die beiden großen linken Parteien jedoch die politische Atmosphäre im Land nicht mehr. Eine unabhängige Bewegung, die sich erinnern wollte, entstand am Rand der Gesellschaft und erfasste die Jugend. Gegengeschichte lebte auf. 1976 gründete sich die CNT neu und fand schnell 50.000 Mitglieder.

Zu den Jornadas Libertarias in Barcelona strömten im Juli 1977 an die 100.000 Menschen. Die Stimmung im Jahr 1977 war fantastisch und übertrug sich ins ganze Land. Ich verbrachte den Sommer in Galizien, täglich diskutierend auf den Straßen Santiago de Compostellas, täglich bildeten sich Spontandemos der verschiedenen Berufsgruppen, Streiks für bessere Arbeitsbedingungen wurden in die Stadt hineingetragen und eine Bereitschaft, bisherige Orientierungen in Frage zu stellen, beispielsweise vom katholischen Opus Dei zur CNT oder zu den Trotzkisten überzugehen, sich neu zu outen als AktivistIn der Schwulen- und Lesbenbewegung oder der Anti-AKW- und Umweltbewegung, prägte die Szene.

Alles schien möglich… aber diese Aufbruchsstimmung konnte sich nicht halten, zu wenig ließ sich erreichen, und so gebe ich Froideveaux Recht: Der Veränderungswille in der Gesamtgesellschaft war zu zögerlich, gebremst durch den Versöhnungskurs der beiden großen linken Parteien und der Angst vor den Militärs.

Ein Jahr später, an gleicher Stelle, konnte ich nichts davon wiederfinden. Die Straßen waren leer, die Jugendclubs geschlossen, Demonstrationen Fehlanzeige.

Noch weitere zwei Jahre sollte es dauern, bis die CNT in Barcelona 1980 eine erste Erinnerungsfeier an die Spanische Revolution durchführen konnte. Der Putschversuch 1981 scheiterte zwar als Putsch, aber er sorgte doch dafür, dass die aufkeimende Erinnerungskultur wieder in sich zusammenbrach. Zu groß war die Angst vor den Militärs und der Guardia Civil. Eine Sorge, die weitere 20 Jahre anhielt. Froideveaux Buch enthält neben seinem Hauptthema viele interessante organisationsgeschichtliche Details, eingebettet in die politische Entwicklung der spanischen Gesellschaft.

Er schafft es, die politischen Entscheidungen der SozialistInnen, KommunistInnen und AnarchosyndikalistInnen in der jeweiligen historischen Situation nachvollziehbar und transparent zu machen. Sein entscheidender Hinweis, dass Erinnerungskultur sich fortwährend in einem „gesellschaftlichen Aushandlungsprozess“ befindet, sollte uns Hinweis genug sein, uns weiter um die Deutungshoheit über die Ereignisse und das historische Erbe zu kümmern.