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Imperiale Gewaltkultur

| Wegau

Dierk Walter: Organisierte Gewalt in der europäischen Expansion. Gestalt und Logik des Imperialkrieges; Hamburger Edition, Hamburg, September 2014, 414 Seiten, 32 Euro, ISBN 978-3-86854-280-6

Wer dieses Buch liest und Enttäuschungen vermeiden will, muss den Untertitel genau lesen: Es geht hier um Gestalt und Logik des imperialen Krieges, nicht mehr und nicht weniger.

Wer sich über die Logik imperialistischer Gewalt und Gewalttäter, ihre Selbstbilder, ihr Weltbild, das Funktionieren ihrer Eroberungs-, Raub- und Vernichtungsfeldzüge und die Eskalationsmechanik unterrichten will, der liegt mit dieser Arbeit richtig. Dies wird in Zeiten einer erneuten Konfrontation zwischen NATO und Russland einerseits, den sich steigernden Militäreinsätzen in der Levante und Nordafrika andererseits immer wichtiger. Was die just beschlossenen Bundeswehreinsätze in Syrien und Mali angeht: Wer dieses Buch gelesen hat wird die wahrscheinlichen Abläufe und Resultate dieser Interventionen vorhersagen können.

Denn auch diese Einsätze stehen in einer langen Tradition, die ideologisch und kulturell in die Geschichte Europas und seiner kolonialen Gründungen im nördlichen Teil Amerikas eingeschrieben ist. Weil dies so ist, taugt das Buch nicht dazu, überzeugten „Bellizisten“ die Logik solcher europäischen Interventionen und ihre verheerenden Konsequenzen für die indigenen, wie auch für die angreifenden Gesellschaften aufzuzeigen. Das Buch lässt deutlich werden, vor welcher politischen und kulturellen Herkulesaufgabe Friedensbewegte, PazifistInnen und AntimilitaristInnen stehen, wenn an die Stelle latenter und offener Kriegsbereitschaft und -führung eine friedfertige, freie und gleiche Gesellschaft treten soll, die sich anderer Konfliktlösungsmechanismen bedient.

Walter ist es ein wichtiges Anliegen, auf die Kontinuitäten in dieser von ihm eindrucksvoll illustrierten imperialen Gewaltkultur hinzuweisen. In den letzten fünf Jahrhunderten haben sich zwar die Formen ihrer Herrschaft und die legitimatorischen Figuren gewandelt: offen davon zu sprechen, Kolonialkriege führen zu wollen tut niemand mehr und es müssen schon „humanitäre Ziele sein“, um derentwillen Drohnen zu illegalen Hinrichtungen losfliegen – in Kontrast zu den so oft beschworenen Werten des Abendlandes, in dessen Revolutionen es sehr oft gerade um „fair trial“ und Habeas corpus“ ging! – bevor dann Bomber in Gang gesetzt werden. Aber im Kern herrscht Kontinuität: „Die globale Reichweite des ‚Weltsystems‘ ist heute nahezu absolut; und die westlichen Industrienationen legen (zusammen mit einzelnen Regionalmächten in der Dritten Welt) in diesem System die Regeln fest, nach denen die übrigen Staaten zu spielen haben oder widrigenfalls mit politischen und wirtschaftlichem Druck und in letzter Instanz mit Waffengewalt dazu angehalten werden.“ (S. 10f.)

Im Gegensatz zu den Fata Morgana, mit denen die neoliberalen Hegemonen dem staunenden Publikum weißmachen wollen, dass sich mit dem Markt auch Demokratie und Freiheit von selbst einstellen, ist die westliche Durchdringung der Welt von Anfang an außerordentlich gewaltsam geschehen (S. 12).

Ein analytischer Zugewinn des Buches besteht aber darin, die Gewaltkomponente des Imperialismus als eine Konfliktart ‚sui generis‘ zu bearbeiten (S.13).Könnte es sein, dass das ehrliche Erschrecken über die Erfolge und die Gewaltstrategien des „Islamischen Staates“ auch damit zusammenhängt, dass hier ein im Westen entwickeltes Konzept aggressiver Staatenbildung, gewaltsamer globaler Expansionsansprüche und religiösen Totalitarismus gleichsam zurückschlägt? Und das Europa somit einen Spiegel vorgehalten bekommt und sich in den Zügen der Dschihadisten wohl wiedererkennen könnte? Wer hat wohl die heute im IS wirkenden und planenden Geheimdienstoffiziere des untergegangenen Saddam Hussein-Regimes ausgebildet?

Walter formuliert den Anspruch, „eine Art Idealtypus (mit Variablen) zu entwickeln. (…) Die Dichte wiederkehrender empirischer Beobachtungen in der Gewaltgeschichte des westlichen Imperialismus legt nahe, dass auch die sie verbindende Interpretation des großflächigen Konfliktmusters, der Funktionsweise, der inneren Logik dieser Geschichte, die ich hier versuche, verallgemeinerbar ist. Das Buch macht ein Angebot für die Einordnung solcher Beobachtungen in der künftigen empirischen Aufarbeitung weiterer Konflikte, davon ausgehend, dass die Logik der Gewaltkomponente der europäischen Expansion übertragbare Rückschlüsse zulässt.“ (S. 19).

Die Darstellung dieser Elemente ist nicht nur für eine Forschungsperspektive nutzbar. Mittel, Methoden, Eskalationsstrategien und die dazu gehörenden ideologischen Konstrukte zu erkennen ist eine Voraussetzung jeder antimilitaristischer und gewaltfreier Intervention, jeder Politik in friedensfördernder Perspektive. Dazu kann der Band beitragen.

So ist es bei auch bei den aktuellen militärischen Auseinandersetzungen für die „Heimatfront“, sprich: in der medialen und politischen Vermittlung zur Herstellung und Wahrung von Massenloyalität von Belang, dass die imperiale Gewaltkultur „von der Suche nach einer schnellen, abschließenden Entscheidung in offener Feldschlacht“ geprägt ist (S. 37 et.al.). Die Niederlagen der USA in Vietnam und der Alliierten in Afghanistan sind sicher auch darauf zurückzuführen, dass die europäische Kriegsführung in langanhaltenden, asymmetrisch geführten Kriegen große Schwierigkeiten hat und diese Konflikte ab einem bestimmten Zeitpunkt auch kriegsbereiten Bevölkerungsmajoritäten nicht mehr vermittelbar sind. Was aber nicht heißt, dass solche Kriege nicht „gewonnen“ werden könnten. Voraussetzung dafür ist aber eine schwache Staatlichkeit des Gegners: „Der Ideale Staat als Gegner war also schwach genug, um instrumentalisierbar zu sein, aber gerade stabil genug, um im Fall der Niederlage weiter zu funktionieren, um den Sieg der Imperien abschließend zu machen und die Folgekosten gering zu halten.“(S. 50) Hinzu kommt, dass das „Imperium (…) als praktisch unverletzliche und nahezu unerschöpfliche Ressourcenproduktionsmaschine gelten (kann) – und dabei ist die Natur der Ressourcen, die häufig (…) konstatierte Überlegenheit professioneller westlicher Truppen und westlicher Militärtechnik, noch unerwähnt.“(S. 60)

Dennoch: Die Unterwerfung indigener Gesellschaften dauerte in der Regel Jahrzehnte, bedurfte der Serienkriege und einer andauernden Gewalt. Dabei ist bemerkenswert, dass diese Gewalt in ihrer expansiven Dynamik im Regelfall von den Akteuren an der Peripherie ausging. Gewonnen werden konnten diese Kriege nur, wenn die europäischen lokalen Gewaltunternehmer und die Siedler das demographische Übergewicht durch massive Besiedlung und die Zerstörung der Lebensgrundlagen der indigenen Gegner gewannen (Nord-, Mittel- und Südamerika, Neuseeland, Australien, Tasmanien).

Wo weder die Entscheidungsschlacht – in der die Indigenen in der Regel den kürzeren zogen, auch wenn sie europäische Methoden und Waffen einsetzten – noch die Demographie den Sieg brachten, „ist Imperialkrieg der Versuch der militärischen Raumbeherrschung und der Bevölkerungskontrolle“. (79)

Diese Imperialkriege betrachtet Walter „als temporäre zeiträumliche Verdichtungen einer ohnehin endemischen Gewaltsamkeit an der imperialen Frontier“ (S.82), die auf eine jahrhundertealte und bis ins 19. Jahrhundert wirksame permanente Gewaltstruktur – die Sklaverei – aufsetzte (S. 81). Aber: Ohne eine signifikante Beteiligung eines Teils der Indigenen, der sich im Konflikt oder in der Konkurrenz zu anderen Indigenen befand, an der Gewalt der Europäer kam eine dauerhafte und effektive Beherrschung von Raum und Bevölkerung durch die Europäer nicht zu Stande. Die Europäer wurden oft als willkommene Verbündete in den Bürgerkriegen vor Ort betrachtet. Das auch die indigenen Verbündeten dabei am Ende das Nachsehen haben würden, schien ihnen unvorstellbar. Nach dem gemeinsamen Sieg wurden die Verbündeten selbst in der Regel die nächsten Opfer des Willens zur „völlige(n) Unterwerfung und territoriale(n) Herrschaft“. Die skrupellose Bereitschaft, „etablierte Systeme umzustürzen und rücksichtslos die Vorherrschaft anzustreben“, überforderte das kulturelle Fassungsvermögen vieler indigener Gegnergesellschaften (S. 99).

Auf europäischer Seite dominierte demgegenüber kulturelle Ignoranz, Überlegenheitskult und die Unfähigkeit, die Welt „mit den Augen der Anderen zu sehen“. Daraus resultierte ein Unterwerfungs- und Vernichtungswille, der seine traurigen Höhepunkte im Faschismus und Stalinismus erreichte. Walter untersucht die Facetten dieser Gestalt und Logik des Imperialkrieges in vielen Einzelheiten. Ein wesentlicher Ansatzpunkt für Friedensarbeit besteht in der Entwicklung von Gegenstrategien, die an solchen psychologischen Freund-Feind-Konstrukten und imperialem Größenwahn ansetzen.

Hier bleiben leider auch in der Graswurzelrevolution allzu häufig Leerstellen – gegen die Gewaltkultur reicht die einfache Negation nicht aus.

Es geht Walter nur am Rande um die Ursprünge und Ursachen, die Konzepte, die der europäischen imperialen Gewaltkultur zu Grunde lagen und liegen, es geht nur am Rande um die sozialen und ökonomischen Interessen, die Europas und Nordamerikas Staaten bis heute zu „masters of the universe“ machen. Auch eine Verknüpfung mit der Untersuchung des Zusammenhanges der Gewaltkultur mit Staatlichkeit und kapitalistischer Wirtschaft findet man nicht.

Fazit

Die für das Buch zentrale Figur der imperialen Gewaltkultur wird in ihren Erscheinungsformen spannend und detailreich beleuchtet, aber zu ihrer Genese, zu ihren inneren Triebkräften und Tiefenstrukturen darf man von Walters Buch keine Vertiefung erwarten. Hier bleibt noch einiges zu tun.