Cohn, Jesse, Underground Passages. Anarchist Resistance Culture 1848-2011, Oakland u.a. (AK Press), USA 2014
Wo viel geschrieben wird, wird auch viel Minderwertiges geschrieben. Diese Binsenweisheit bewahrheitet sich seit einigen Jahren in der englischsprachigen Anarchismusforschung. Die erfreuliche Dynamik, Intensität und Produktivität der disziplinübergreifenden anarchist studies wird relativiert durch das Niveau einiger ihrer Veröffentlichungen. Dabei werden zwei Trends erkennbar, die sich gegenüberstehen und doch in gleicher Weise kritikwürdig sind.
Zum einen scheint es sich einzubürgern, dass anarchistische Aktivistinnen und Aktivisten, die eine akademische Laufbahn einschlagen, mehr und mehr versuchen, ihre persönlichen politischen Erfahrungen zur Grundlage wissenschaftlicher Arbeiten zu machen.
Anders und polemischer ausgedrückt:
Ein paar (meist willkürlich) herausgerissene Tagebuchseiten über den letzten Demoärger oder das jüngste Protestcamp verwandeln sich, mit allerlei politologischer und soziologischer Theorie aufgeputzt, plötzlich in Doktorarbeiten. Möglich ist dies, weil für die meisten Professorinnen und Professoren lebende Anarchistinnen und Anarchisten noch immer eine seltene, faszinierende, fremde und milde bedrohliche Spezies sind und sie deswegen noch die lachhaftesten Banalitäten des Szenealltags für ähnlich fesselnd und neuartig halten wie Berichte über das Leben auf dem Mars.
Es war wohl David Graeber, der die Neigung, das eigene Engagement zu verwissenschaftlichen, ins Leben gerufen hat – zunächst mit seinem vielbeachteten Aufsatz „The New Anarchists“, der aktiven Anarchistinnen und Anarchisten zwar nichts Neues mitzuteilen hatte, aber in der wissenschaftlichen Welt aus den oben genannten Gründen für Furore sorgte, und dann mit seiner groß angelegten Studie Direct Action über die Anti-Globalisierungsproteste im Kanadischen Québec 2001, an denen er selber beteiligt war. Allerdings ist Graebers Direct Action noch eine methodisch einwandfreie anthropologische Studie, gestützt auf reiches Material, die sich in die wissenschaftliche Tradition der sogenannten Anthropologie der Nähe einreiht, die unter anderem der französische Anthropologe Marc Augé ins Leben gerufen hat.
Bei der Anthropologie der Nähe geht es darum, Untersuchungsverfahren, die für fremde Länder und Kulturen entwickelt wurden, auch einmal vor der eigenen Haustür zu erproben. Die meisten der erwähnten Selbstuntersuchungsdissertationen‘ erreichen dieses Niveau nicht.
Nun ist es natürlich nicht so, dass gelebte Erfahrung für wissenschaftliches Arbeiten unerheblich wäre. Autoren wie Francis Dupuis-Déri oder Uri Gordon haben bewiesen, dass man auch in diesem Feld nützliche und erhellende Arbeiten schaffen kann, ersterer für die Wissenschaft, letzterer eher für die anarchistische Bewegung.
Der Freifahrtschein jedoch, den die aktuellen anarchist studies all jenen auszustellen scheinen, die Materialbeschaffung, Feldforschung und kritische Distanz für verzichtbar halten, wird in die Irre führen. Was man zu lesen bekommt, ist dann keine wissenschaftliche Forschung, sondern eher eine Art politischer Essayismus, der oft, garniert mit ein paar Fremdwörtern, kaum mehr tut, als alte Szenediskussionen aufzuwärmen.
Zum anderen steht dieser Beschränkung der wissenschaftlichen Perspektive auf das unmittelbare, persönliche Erleben eine fast schon aberwitzige Ausweitung des Blicks gegenüber.
Um es bildlich auszudrücken: Während ein Teil der anarchist studies-Autorinnen und Autoren fasziniert auf die eigenen Stiefelspitzen starrt, möchte ein anderer am liebsten die ganze Welt umarmen. Vor allem die libertäre Welt. Seit in einer Reihe bahnbrechender Studien – zuvorderst wäre hier vermutlich der von Lucien van der Walt und Steven Hirsch herausgegebene Sammelband Anarchism and Syndicalism in the Colonial and Postcolonial World zu nennen – der Nachweis erbracht wurde, dass es auch in Afrika, im asiatischen Raum oder in bisher von der Forschung nur wenig beachteten Ländern Lateinamerikas starke und einflussreiche anarchistische Bewegungen gab, hat es bereits mehrere Versuche gegeben, eine Art Globalgeschichte des Anarchismus zu schreiben. Zumal solche Bewegungen meist nicht einfach nur nebeneinander existierten, sondern durch transnationale Netzwerke vielfältig miteinander in Kontakt standen. Man spricht auch von einem methodischen transnational turn in den anarchist studies.
Nun hat die Abkehr von einer national beschränkten Forschungsperspektive zweifellos die wissenschaftliche Erforschung anarchistischer Bewegungen vorangebracht. Sie hat aber auch, durch die enormen praktischen und methodischen Probleme, die eine Ausweitung der Perspektive auf mehrere Kulturen oder gar die ganze Welt mit sich bringt, einer Art von Nachlässigkeit und Oberflächlichkeit die Türe aufgestoßen, die einer Wissenschaft schlecht zu Gesicht steht. Das augenfälligste Beispiel ist in dieser Hinsicht sicherlich die von Lucien van der Walt und Michael Schmidt verfasste Reihe Black Flame, die es fertigbringt, global anarchist studies zu betreiben, ohne auch nur eine einzige nicht-englischsprachige Quelle zu verwenden. Leider gehört auch Jesse Cohns Untersuchung zu anarchistischen Widerstandskulturen, Underground Passages, in diese Nachbarschaft.
Um es nur gleich zu sagen:
Cohns Arbeit ist unter den global anarchist studies noch eine der erfreulicheren Erscheinungen.Cohn bemüht sich zumindest um ein historisches, mehrsprachiges Korpus an Primärquellen, aus dem er seine Schlüsse zieht und so seine Thesen überprüfbar macht. Auch, dass er sich den anarchistischen Widerstandskulturen in einem engeren, differenzorientierten Sinne annähert, ist lobenswert. Er versteht Kultur nicht bloß als „alles, was im Leben der Menschen der Fall ist“, sondern fokussiert ihre spezifischen Ausprägungen, wie Literatur, Theater, Lieder, Musik, bildende Kunst, aber auch Film, Fotographie usw. Zwar lässt seine Behauptung, dieser Ansatz sei „einzigartig“ (S. 4), auf bedenkliche Schwächen beim Bibliographieren schließen – Untersuchungen zur anarchistischen Kunst und Literatur gab es vor dem Erscheinen seines Buches wahrlich schon einige – aber es stimmt, dass insbesondere die anarchist studies sich bisher vor anarchistischen Versen oder Romanen eher geekelt haben. Die Hausmacht dort gehörte (und gehört im Grunde noch immer) den Historikerinnen und Historikern, SoziologInnen und PolitologInnen. Und die lesen andere Sachen.
Cohn besitzt gute Kenntnisse des Anarchismus und seines Kulturverständnisses, eines nicht eben leicht zu fassenden Themas. Vor allem aber sind seine literaturwissenschaftlichen Fähigkeiten erfrischend. Wenn er sich zum Beispiel an anarchistische Lieder und Gedichte heranmacht und sie vor ihrem literaturgeschichtlichen Hintergrund analysiert, merkt man, dass hier ein Könner seines Fachs am Werk ist, der in seinem Leben durchaus mehr gelesen hat als nur den Text von „Dump the bosses off your back!“. Die halsbrecherische zeitliche und räumliche Ausdehnung jedoch – 163 Jahre, rund um den ganzen Globus – führt unvermeidlich dazu, dass seine Untersuchung an Schärfe und Genauigkeit verliert.
Was derart lang und breit gezogen wird, wird dünn.
So ist schon die Ausgangshypothese, auf der Cohn seine gesamte Untersuchung aufbaut, im Grunde anachronistisch. Er versteht anarchistische Kulturarbeit als einen identitätsfestigenden Rückzug aus einer Welt, die für gewöhnlich rein gar nicht so aussehe, wie Anarchistinnen und Anarchisten sie sich wünschten: „Anarchist practice culture as a means of mental and moral survival in a world from which they are fundamentally alienated“ (S. 15).
Das mag für zeitgenössische anarchistische Bewegungen, zumal im globalen Norden und Westen, zutreffen. Auch in der Geschichte des Anarchismus – man denke nur an die frühe Kommune-Bewegung Gustav Landauers – ließen sich Beispiele finden. Für andere anarchistische Bewegungen jedoch ist Cohns Hypothese nicht zutreffend. Die spanische und argentinische anarchistische Bewegung beispielsweise sah ihre kulturelle Praxis mitnichten als einen defensiven Rückzug, sondern im Gegenteil als ein höchst offensives Mittel, um die bestehende Herrschaft der Zustände umzustürzen. In ihrer Wahrnehmung waren beispielsweise Ateneos, anarchistische Kulturzentren, keine Weltfluchtpunkte, sondern kulturelle Kampfbasen, von denen aus die Gesellschaft verändert werden sollte. Die Ausweitung kultureller Kenntnisse und die Freisetzung kreativer Energien in gesellschaftlichen Schichten, die dafür gar nicht vorgesehen waren, waren bis in die 1930er Jahre in diesen Ländern tatsächlich revolutionär. Dass die Revolutionierung der Gesellschaft durch eine Kombination von Kultur und Kampf gelingen würde, wurde in den Reihen dieser Bewegungen kaum je angezweifelt. Sie „isolierten“ sich nicht, wie Cohn behauptet, sondern weiteten im Gegenteil das Feld ihrer politischen und kulturellen Möglichkeiten systematisch aus. Cohns Vorhaben, mit seiner Studie zu überprüfen, wo sich die kulturellen Wege der anarchistischen Vergangenheit mit denen der Gegenwart kreuzen könnten, scheitert also schon am Zugrundelegen einer Hypothese, die zeitliche, geographische und kulturelle Unterschiede zu wenig beachtet.
Noch problematischer ist, dass Cohn überhaupt nicht befähigt ist, sein ehrgeiziges Projekt, nämlich einen zeitübergreifenden globalen Vergleich der anarchistischen Widerstandskulturen, auf wissenschaftlichem Niveau zu verwirklichen.
In seiner Einleitung räumt er freimütig ein, nur eine einzige Fremdsprache (nämlich Französisch) lesen, wenn auch nicht sprechen, und sich mit zwei weiteren (Spanisch und Portugiesisch) leidlich abstrampeln zu können. Diese Offenheit ist lobenswert. Beim Weiterlesen ist man dann allerdings erstaunt, dass Cohn Primärbelege auf Japanisch oder Koreanisch in seine Fußnoten streut (vgl. u.a. S. 73) oder mit unübersetzten deutschen Primärzitaten aufwartet. Das ist dann pseudo-wissenschaftliche Hochstapelei. Wer derart seine persönlichen – zumal sprachlichen – Fähigkeiten überdehnt, wird naturnotwendig abhängig von zum Teil dubioser, fehlerhafter oder offen parteiischer Forschungsliteratur und hat keine Möglichkeit mehr, das Gesagte systematisch an seinen historischen Primärquellen zu überprüfen. Schon gar nicht mit der wünschenswerten kulturellen Tiefenschärfe.
So muss Cohn zum Beispiel immer wieder sehr konkrete Forschungsfragen in abstractum diskutieren, weil er die von ihm bemühten Quellen gar nicht lesen kann. Sich z.B. ausgerechnet am Beispiel der anarchistischen Trivialromanreihe La Novela Ideal aus Spanien Gedanken über die Deutungsambivalenz des literarischen Kunstwerks zu machen, hätte er sich sparen können, wenn er den ein- oder anderen Roman der Reihe wirklich gelesen hätte: Denn deutungsambivalent ist dort rein gar nichts!
Man bekommt das ungute Gefühl, dass der Verfasser in voller Absicht fremde Muskeln schwellen lässt, sich mit Bildungsfedern schmückt, die nicht die seinen sind, und offensichtlich nicht damit rechnet, dass seine Leserinnen und Leser sich nicht einschüchtern lassen könnten. Zu praktisch jeder seiner schwach und brüchig abgestützten Thesen lassen sich Gegenbeispiele finden. Cohns global vergleichende Perspektive ist in Wahrheit eine weidlich willkürliche und erklärungsschwache kulturelle Blütenlese entlang vorgefasster Parameter, oder, schlimmer noch, eine bloße Ansammlung von Kultursplittern‘. Die von ihm zusammengetragenen anarchistischen Angriffe gegen den sentimentalen Roman (S. 46-47) zum Beispiel sind überhaupt nicht repräsentativ.
Gerade tiefe Empfindungen erwarteten etwa die spanischen Anarchistinnen und Anarchisten unbedingt von einem literarischen Kunstwerk. Nach Ansicht des französischen Soziologen Guyau, den Kropotkin einen „Anarchisten, ohne es zu wissen“ nannte, waren es sogar allein die menschlichen Empfindungen, die die Menschheit zu einer großen, harmonischen Familie zusammenschweißen konnten. Kunst und Literatur waren seiner Ansicht nach die Mittel dazu – durch ihren gemeinsamen, fühlenden Genuss.
Leichtfertige Verallgemeinerungen, Oberflächlichkeiten und Nachlässigkeiten beim kritischen Überprüfen des Gesagten finden sich viele in Underground Passages.
Da mag es eine lässliche Sünde sein, dass Cohn sich mit einigem Tamtam – und, wie gesagt, ohne ausreichende Sprachkenntnisse – auch auf Artikel aus der Graswurzelrevolution bezieht, aber noch nicht einmal in der Lage war, kurz im Netz nachzuschauen, seit wann diese Zeitschrift wirklich erscheint. Das Jahr 2000 markiert gewiss nicht ihre Geburtsstunde (vgl. S. 39).
Aber auch bei der von ihm benutzten Forschungsliteratur lässt es Cohn oft an der nötigen Kritik und Gründlichkeit fehlen. Das Petit léxique philosophique de l’anarchisme: De Proudhon à Deleuze (2001) [Kleines philosophisches Lexikon des Anarchismus: Von Proudhon bis Deleuze‘] von Daniel Colson beispielsweise, auf das sich Cohn fast durchgängig zustimmend bezieht und das zeitweise sein theoretisch-ideologisches Rüstzeug darstellt, ist ein mehr als bedenkliches Machwerk. Colsons Bemühungen, ein geistesgeschichtlich erneuertes Bild des Anarchismus zu zeichnen, scheitern nämlich gründlich. Unter dem Eintrag: „Sexualität“ beispielsweise ist Pierre-Joseph Proudhon sein Gewährsmann. Ausgerechnet Proudhon, der im Band vier seines Hauptwerks De la justice dans la révolution et dans l’Église (1860) [Über die Gerechtigkeit in der Revolution und der Kirche‘] hunderte von Seiten darauf ver(sch)wendete, den „Unfug von der Gleichheit der Geschlechter“ auszumerzen und endgültig die „körperliche, geistige und moralische Unterlegenheit der Frau“ zu beweisen. Als dann eine ganze Gruppe kritischer, selbstbewusster und gebildeter Frauen über sein Buch herfiel, ließ er in seiner erst posthum veröffentlichten Schrift La Pornocratie einen derart hemmungslosen Schwall sexistischer Schmähungen von der Leine, dass einem noch heute der Mund offen stehen bleibt. Proudhon also, der eigentliche Begründer des bis heute wirkungsmächtigen anarchistischen Anti-Feminismus, darf in Colsons Lexikon Leserinnen und Leser über anarchistische Positionen zur menschlichen Sexualität aufklären.
Weibliche Autorinnen (wie Emma Goldman oder Voltarine de Cleyre) werden nicht rezipiert. All dies scheint Cohn noch nicht einmal aufgefallen zu sein.
So muss man denn wohl, trotz einiger durchaus interessanter Detailbeobachtungen und diskussionswürdiger Thesen in Cohns Arbeit, Underground Passages als ein gescheitertes Projekt bezeichnen. Anstatt signifikante oder erhellende kulturelle Gemeinsamkeiten zu entdecken, verliert sich Cohn – man ist versucht zu sagen: unvermeidlicherweise – im faszinierenden und verwirrenden Durcheinander anarchistischer kultureller Ausdrucksformen rund um den Globus. Das gesetzte Ziel der Studie wird somit nicht erreicht. Es wäre an der Zeit, die Ansprüche der global anarchist studies etwas zurückzuschrauben. Zwischen der Skylla individueller Partikularität und der Charybdis eines oberflächlichen, weltumspannenden Blahblahs führt nur der Weg über internationale Zusammenarbeit und freien Austausch nationaler Forschungsergebnisse zum Anarchismus, der eben nicht nur einen globalen und universellen Anspruch hatte, sondern immer auch eine nationale, zumal kulturelle Wirklichkeit.
Das neue Selbstbewusstsein, das die institutionelle Verankerung einiger Anarchismusforscherinnen und Anarchismusforscher an US-amerikanischen, kanadischen und englischen Universitäten bewirkt hat, ganz zu schweigen vom gewachsenen Interesse an anarchistischer Geschichte, Kultur und Organisation, darf nicht auf Kosten der wissenschaftlichen Gründlichkeit gehen.
Die Welt (nicht nur die Welt des Anarchismus) ist zu weit, widersprüchlich, vielfältig und kompliziert, als dass man sie vom Schreibtisch aus mit ein paar Büchern und Zeitschriften vor der Nase forsch wissenschaftlich umrunden könnte.