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Prostitution als Trauma und Gewalt

| Absent Friend

Rachel Moran: Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prostitution, Tectum Verlag, Marburg 2015, 390 S., 17,95 Euro, ISBN: 978-3-8288-3458-3

Die Irin Rachel Moran stammt aus einer zerrütteten, verarmten Familie in Dublin; die Mutter schizophren, der Vater beging bald Selbstmord. Rachel musste als Mädchen ihre vier jüngeren Geschwister großziehen. Mit 14 haute sie ab: ein Jahr Leben als Obdachlose. Mit 15 ging sie in Süd-Dublin auf den Straßenstrich. Es folgten sieben Jahre als prostituierte Frau, als Stripperin, in Zuhälter-Bordells, als Unternehmerin auf eigene Rechnung, als Escort-Prostituierte für eine Agentur - sie hat alles erlebt.

Mit 22 gelang ihr der Ausstieg, geprägt durch eine Liebesbeziehung, in der gegenseitig gewollter Sex ihr den Abgrund zur Prostitution aufzeigte – denn ihr Sex dort war bezahlt, nicht gewollt. In den Jahren danach, in der Erinnerung des Erlebten spricht sie von „Nachbeben“, sie durchlebt eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Erst spät nimmt sie therapeutische Hilfe in Anspruch. Dieses Buch über ihr Leben als Prostituierte schrieb sie im Alter zwischen 26 und 36, über zehn Jahre hinweg, als Teil ihrer Befreiung.

Rachel Moran wurde sich erst in diesem Prozess über alle Dimensionen ihrer Gewalterfahrung bewusst. Selbstbestimmung und Selbstwertgefühlt hatte sie bereits als Obdachlose verloren. Sie hat als Kinderprostituierte angefangen; Kinderprostitution gehört zur Prostitution, überall, auch im „Normalbetrieb“ westlicher Länder.

Im Straßenstrich stellte sie die ersten zwei Jahre die Bedingung, nur „Blowjobs“ zu machen. Rachel Moran wehrte sich gegen damalige irische Gesetze, den Straßenstrich zu verbieten. Sie beschreibt, dass dort durch blitzschnelles Taxieren und die Verhandlung außerhalb des Autos, vor dem Einsteigen, noch die Möglichkeit der Ablehnung bestand, der Job auch relativ schnell zu Ende gebracht werden konnte, während sie später in Bordellen nach Stunden bezahlt wurde und den Prostituierer nicht ablehnen konnte.

Ihre Gewalterfahrungen beschreibt sie einerseits als systematische Tendenz der Mehrheit der Prostituierer, gesetzte und verhandelte Grenzen zu überschreiten, vom unangekündigten Einführen von Fingern und Gegenständen bis hin zu Prügeln; andererseits als Gewalt im Rahmen des Verhandelten, die sie als sexuellen Missbrauch bezeichnet. Er besteht in der ständigen Überwindung physischer und sexueller Abscheu, denn die große Mehrheit der Prostituierer wird als körperlich abstoßend empfunden: „Sexueller Ekel ist eine tagtägliche Erfahrung in der Prostitution.“ (S. 216)

Dieser ist nur zu verdrängen durch Persönlichkeitsabspaltung, „Dissoziation“ (S. 191ff.). Körperlich ist die prostituierte Frau zwar da; mental, emotional aber abwesend: Es ist, als ob es einer anderen Person geschehe. Das abgespaltene Selbst erhält eine Legende: Pseudonym, in seltenen Gesprächen wird gelogen, die Lieblingsfarbe ist rot statt grün. Nichts vom wahren Menschen wird preisgegeben, zur Not wird verdrängt (Alkohol, Drogen, bei Moran vor allem Kokain). Es ist umfassendes „Schauspielern“ (S. 214); die Persönlichkeitsspaltung ist der Grund dafür, „dass Frauen in der Prostitution unglücklich sind“ (S. 213). Ständig präsent ist eine „Angst vor Gewalt“ (S. 171). Der Rest sind „Überlebensstrategien“, z.B. „Brustwarzen mit Parfüm besprühen, um zu verhindern, dass sie abgekaut und gebissen wurden“ (S. 186), langfristig der Versuch, sich weniger abstoßende, nicht-gewalttätige Prostituierer als Dauerkunden aufzubauen.

Systematisch widerlegt Rachel Moran die Mythen der Prostitution, u.a. den Begriff Sexarbeiterin als „rhetorische Waffe“ und „Schönfärberei“ (S. 298f.). Sie ist heute bei SPACE International aktiv, einer internationalen Survivor-Organisation, und hat 2013 der Regierung Irlands die Übernahme des schwedischen Modells vorgeschlagen. In dieser Hinsicht bin ich anderer Meinung, denn trotz unübersehbarer Erfolge wurde Prostitution hier mit repressiver, staatlicher Gewalt zurückgedrängt. Doch Morans Argumente gegen die Normalisierung als Beruf zeigen, dass auch Legalisierung keine Lösung ist, was sie z.B. an der absurden Diskussion in der BRD festmacht, dass arbeitslosen Frauen dann auch Jobs in der Prostitution angeboten gehörten und ihre Leistungen gestrichen werden müssten, wenn sie ablehnten; diese Diskussion wurde erst 2009 durch ein Urteil des Bundessozialgerichts beendet (S. 287). Abschließend bedankt sich Rachel Moran beim Feminismus: „Ich hatte keine Stimme“, aber es gab „da draußen eine ganze Bewegung, die versuchte, mir eine Stimme zu verleihen.“ Es geht hier nicht um die weitgehend korrumpierte Schwarzer, sondern sie zitiert so viele wichtige, klassische Feministinnen wie Sheila Jeffreys, Gerda Lerner, Simone de Beauvoir u.a. Die können weder übersehen noch einfach diskreditiert werden.