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With a little help from my friends

| Oliver Steinke

Unsichtbares Komitee: An unsere Freunde, Edition Nautilus, Hamburg 2015. Aus dem Französischen von Birgit Althaler, 192 Seiten, mit 10 S-W-Fotos illustriert, 16 Euro, ISBN 978-3-89401-818-4

Liebe Freunde,

es geht um die Revolution, also um Alles! Manchmal sind sich auch unsere Feinde dessen bewusst. Wer Widerstand zerschlagen will, der argumentiert nämlich so, wie der Technokrat in der inzwischen leider von der Wirklichkeit überholten Science Fiction-Satire Brazil von 1985: „Alles ist miteinander verbunden! Alles! Ursache und Wirkung! Das ist für mich das Schöne daran… Und unsere Arbeit ist es, die Verbindungen aufzudecken!“

Ihr seht das im Prinzip genauso:

„So offensichtlich es ist, dass sich die Mächtigen verabreden, um ihre Stellung zu halten und auszubauen, so offensichtlich ist auch, dass Verschwörung überall stattfindet – in den Eingangshallen von Gebäuden, an der Kaffeemaschine, hinter den Kebabbuden, bei Besetzungen, in den Werkhallen, beim Hofgang, auf Abendgesellschaften, in der Liebe. Und all diese Verbindungen, all diese Gespräche, all diese Freundschaften verweben sich im wechselseitigen Austausch zu einer historischen Partei, die weltweit am Werk ist – ‚unsere Partei‘, wie Marx sagte.“

Der unglückliche Sam Lowry in Brazil aber hat Schwierigkeiten bei seinen Verschwörungen und erkennt zu spät die Stimme in der Maschine als die der totalen Entfremdung. Er entkommt den Terroristenjägern und Folterern nur durch Wahnsinn. Wir aber begegnen seit einigen Jahren nicht mehr dem imaginären Tuttle, sondern greifbar gewordenen Aufständischen, wir haben euch, das unsichtbare Komitee.

Viele der Menschen, die aus Sicht des Kapitals als kleine Räder funktionieren oder die von Teilhabe abgehängt und angeblich überflüssig sind, werden eure Schrift nicht lesen. Sie lesen ohnehin meist kaum und falls doch, dann jedenfalls auch kein anderes vergleichbares Buch. Einige wenige, die es nicht aufgeben wollen, diese Welt aus den Angeln zu heben, werden eure Flugschrift in die Hände bekommen und im Proletariat herum wuseln, egal ob sie schon dort hineingeboren wurden oder als „Drop Out“ oder „Go Out“ aus anderen gesellschaftlichen Klassen kommen. Nicht alle lassen sich mit Kleinwagen, Reihenhauswohnung und sozial-darwinistischen Spielshows abspeisen. Eure Schrift wird übersetzt werden. Mit Übersetzen ist in diesem Fall Handeln gemeint, eure Sprache, mit der ihr die Möglichkeiten des Umsturzes auslotet, braucht keine Umgestaltung.

Sie ist präzise, eure Beispiele sind gut gewählt, treffend und mit eurer Poesie seid ihr, auch wenn ihr es nicht wollt, die Kinder Camus. Deshalb will ich erst gar nicht versuchen, alles, was in diesem Büchlein steckt, wiederzugeben. Es ist die ganze Welt, ich käme nicht weit. Wer euch verstehen will, muss „An unsere Freunde“ lesen.

Ihr klart unsere Depressionen auf, seid aus dem lakandonischen Urwald hinaus geschleuderte Zapatistas, denn ihr verbindet euch wie einst Sitting Bull und die Weiße Büffelfrau mit Erde, Baum und Tier.

Großes Lob, wenn ihr keinen „Ismus“ bemüht, nicht einmal den Anarchismus. Unsere Seelen sind weit mehr als Schachteln für Ideologien. Es gibt sie, die „Hui wie verwegen“-Anarchisten, die bei einem „Das Schwarze Auge“-Rollenspielkreis besser aufgehoben wären, als in politischen Zusammenhängen, vielleicht spricht sich am Ende aber auch bei ihnen herum, dass wir alle mit etwas Selbstironie und Eingeständnis unserer Unperfektion nur gewinnen können. Wichtigtuerei, sich selber groß und andere klein machen, sich mit fremden Federn schmücken, sind geistige Beschränkungen, die auf einen schlimmen seelischen Hunger hindeuten. Wir wollen doch zusammen Wesentliches ändern. Immer ist entscheidend, was wir tun und was wir daraus lernen. Genau deshalb müsst ihr die Frage, was es eigentlich mit Revolution und Revolutionären auf sich hat, verstörend beantworten:

„Seit der Niederlage der 1970er Jahre ist an die Stelle der strategischen Frage der Revolution unmerklich die moralische Frage der Radikalität getreten. Die Revolution hat also dasselbe Schicksal erlitten wie alles in diesen Jahrzehnten: Sie wurde privatisiert.

Sie ist zur Möglichkeit geworden, sich persönlich aufzuwerten, und das Bewertungskriterium ist die Radikalität.

Die ‚revolutionären‘ Taten werden nicht mehr vor dem Hintergrund der Situation, der Möglichkeiten bewertet, die sie eröffnen oder verschließen. Vielmehr extrahiert man aus jeder von ihnen eine Form. Eine bestimmte Sabotage zu einem bestimmten Moment auf eine bestimmte Art aus einem bestimmten Grund wird schlicht eine Sabotage. Und die Sabotage als Gütesiegel revolutionärer Praxis reiht sich artig ein auf einer Skala, in der der Molotowcocktail über dem Steinewerfen, aber unter dem Schuss ins Bein steht, der wiederum unterhalb der Bombe angesiedelt ist. Das Drama liegt darin, dass keine Aktionsform per se revolutionär ist: Sabotage wurde von Reformisten ebenso betrieben wie von Nazis. Der Grad an ‚Gewalt‘ einer Bewegung sagt nichts über ihre revolutionäre Entschlossenheit aus. … Wo sich der Pazifist vom Lauf der Welt freisprechen und gut bleiben möchte, indem er nichts Böses tut, spricht sich der Radikale durch kleine illegale Aktionen, verziert mit unversöhnlichen ‚Stellungnahmen‘, von jeder Beteiligung am ‚Bestehenden‘ los. Beide sehnen sie sich nach Reinheit: der eine durch gewalttätige Aktion, der andere, indem er sich diese versagt. Jeder ist der Albtraum des anderen. Es ist zu bezweifeln, dass diese beiden Figuren lange bestehen könnten, wenn nicht jede die andere tief in sich tragen würde.“

Das trifft tatsächlich auf viele Rebell*innen zu. Ich erkenne mich selbst auch zum Teil wieder, jedenfalls früher, als ich durch die karrierebesessene Konsum- und Gewalterlebniswelt des wiedervereinigten Deutschlands irrte und versuchte, Trennungen zu ziehen, gegen die Hass und Angst getriebenen Pre Pegida zum Beispiel. Auf unseren Demos rief ein Freund den unbeteiligt oder ärgerlich davoneilenden Passanten manchmal fast sehnsüchtig zu: „Ihr werdet es nicht vermuten, wir sind die Guten!“

Und das war genau jene Falle, aus der wir nicht mehr herauskamen: Uns selbst mit scheinbar richtiger Identität getrennt von den anderen vorzustellen! Dabei wurde vor unseren Augen der kommunistische Anarchist zum auspressenden, Profit besessenen Unternehmer und ein Straßenkämpfer zum Außenminister. Nicht die edelste Gesinnung macht einen Menschen aus, sie ist nur eine Hülle, die abgestreift werden kann, sondern sein Charakter. Kommunist, Anarchist, Pazifist, Jesuit, Christ, Muslim, und die entsprechenden …innen (außer Jesuit), das alles sind nur Verkleidungen, von der jede und jeder zudem eine andere Vorstellung hat; niemand ist je alles ganz und gar.

Nun aber zum Aufstand:

Ihr beschriebt nicht nur seine Sackgassen, sondern macht Vorschläge und Beobachtungen, wie er funktionieren kann: Die MACHT sitzt nicht mehr in den nationalen Parlamenten, wenn sie es denn je tat, heute schweift sie offen umher und entpuppt sich als hochtechnisierte, multinationale, Drohnen bewaffnete Aufstandsbekämpfung. Obama ist in erster Linie nicht Präsident des US-Imperiums, sondern Priester dieser MACHT, und der Putschist und Mordpate Kissinger ist ihr Heiliger.

Ihr argumentiert überzeugend, dass es heute Logistik ist, Straßen, Pipelines, Schienen, Datenkabel, durch die wir beherrscht werden.

Genau aus dem Grund ist die Besetzung von zentralen Plätzen wirksam, alles bleibt stehen. Durch diesen Stillstand werden neue Verbindungen möglich.

Soziale Revolutionen wurden nie nur von einzelnen Radikalen gestrickt, werden nicht von Besessenen gemacht, sagen wir mal drei Menschen, die, nachdem sie aus ihrer Sicht alle anderen hinter sich gelassen haben, widerwillig und Zähne knirschend anerkennen, dass die anderen beiden an ihrer Seite ähnlich, nämlich fast(!) genauso radikal zu sein scheinen wie sei selbst. Diese Überheblichkeit und versteckte Herrschsucht der Hyper-Radikalen, ein Wahn, der meist nur ein bis fünf Jahre lang andauert, aber zusammengenommen Tausende aus unseren Reihen vertrieben hat, bewirkt bei empfindsamen Menschen nämlich Abscheu.

Zu Recht! Nein, Revolutionen sind konkrete Handlungen, die von jedem gemacht werden können, der oder die zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und das Richtige tut. So waren es in Ägypten und in der Türkei die nach Maßstäben der puritanischen Radikalen durch das Raster fallenden Fußballfans, die sich der entfesselten Polizeigewalt entgegenstellen konnten.

Ich habe auch Bedenken, die ihr mir nicht ganz zerstreuen konntet: Zum einen ist davon auszugehen, dass ein Herrschaftssystem, wenn es Menschen wie Räder behandeln will, besser damit fährt, Fluchtwege zuzulassen, ja diese sogar fördern sollte. Die totalitären Systeme scheitern (hoffentlich alle) irgendwann genau daran, dies nicht zu tun. Im Kapitalismus aber sind diese Fluchten Religionen, Halleluja Sekten, Filme, Computerspiele, Internet und vieles mehr. Vielleicht zählen auch alle (!) Ismen dazu!? Ihr beschreibt, wie der Kapitalismus es sich zum System gemacht hat, zu zerstören, um neue Produktionsverfahren aufzubauen und engere Ausbeutungsnetze zu knüpfen. Was aber, wenn wir Aufständischen diejenigen sind, die den Reichen helfen zu zerstören, damit sie ihre Mauern nur umso höher wieder aufbauen? Oder schlimmer: Was, wenn das Ergebnis unseres Aufstandes nach unserer vollständigen Niederlage ein gerade durch den Aufstand legitimierter Überwachungsstaat wäre oder die Willkür von fanatischen Mörderbanden wie Islamischer Staat und Boko Haram bedeutet?

Die Antwort liegt wohl in dem, was ihr als anarchistisches Milieu in Barcelona bis 1936 beschreibt: Eine Vielzahl von Gruppen, Werkstätten, Händlern und Gewerkschaften hat ein widerständiges Netz geknüpft. Es ist dieses Geflecht, aus dem die neue Gesellschaft erwachsen kann. Die Gesellschaft der selbstverwalteten, freien Kommunen. Dieses Netz aus CNT-FAI plus anderen Organisierten und Unorganisierten war über Jahrzehnte nicht nur unregierbar, sondern auch unbesiegbar, jedenfalls bis zur verhängnisvollen Entscheidung eines fast unsichtbaren Komitees am 23. Juli, eures Schatten Bruders sozusagen, den Aufstand nicht bis zum Ende durchzuführen. Laut Garcia Oliver war dies der entscheidende Wendepunkt der Spanischen Revolution bis zum Mai 1937, als Gewalt und Politik dieses Netz endgültig zerschlugen. Dennoch: Wir betrachten die vergangenen Revolutionen nicht, um uns an ihnen zu berauschen, sondern aus ihren Stärken und Schwächen zu lernen. Die Voraussetzung für diesen Sommer der Anarchie war das widerständige Netz. Also ist es richtig, alternative Strukturen aufzubauen, auch in der Wirtschaft, nur müssen sie sich ständig mit dem Widerstand verbinden, oder sie kippen um und werden zum verbesserten Rad im Getriebe des Systems. Gegenseitige Hilfe durchbricht Ausbeutung. Ohne diese Vorbereitung, ohne viele kleine dauerhafte Verschwörungen, genügend Menschen, die erkannt haben, dass sie nicht nach mehr Konsum, sondern nach Seele hungern, keine Revolution!

Außerdem müssen wir nicht nur zornige, sondern auch glückliche Revolutionäre werden, oder wir tragen in uns selbst die kommende neue Unterdrückung und sollten es dann lieber gleich lassen.

Wie es Durruti ausdrückte, sind wir fähig, eine neue Welt mit unseren Händen und unseren Herzen aufzubauen. Ihr und nicht Syriza oder andere staatliche Vertreter von Castro oder Chavez seid entscheidend. Denn allzu leicht ersticken Staatsparteien die Kreativität der Menschen, verführen nicht zurück zum bodenständigen Begreifen und Staunen, sondern zur Entfremdung, damit zur Gier, die Leere zu füllen, damit zu Korruption und Vetternwirtschaft.

Liebe Freunde, ihr habt das Kommunistische Manifest von Marx und Engels weiterentwickelt und es auf den Stand von Gegenwart und Zukunft gebracht. Da es Freiheit atmet, mag ihm ein hoffnungsvolleres Schicksal vergönnt sein als seinem Vorgänger.