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Vertuschte Atomunfälle

Steuergelder für das Restrisiko

| Eichhörnchen

Im März 2016 wurde bekannt, dass es im französischen Fessenheim bereits vor zwei Jahren einen vertuschten, schwerwiegenden Atomunfall gab. Trotzdem regt sich auch 30 Jahre nach dem Super-GAU von Tschernobyl und fünf Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe in Fukushima derzeit kaum Widerstand gegen die internationale Atomstaatspolitik. Eine Analyse von GWR-Mitherausgeberin Cécile Lecomte. (GWR-Red.)

Fünf Jahre nach Fukushima scheint das Thema Atomkraft die Massen nicht mehr zu bewegen. Die Kundgebungen und Demos zum Jahrestag der Katastrophe haben lediglich ein paar Tausend Menschen auf die Straße gebracht. Viele Menschen begnügen sich mit der Illusion eines deutschen Atomausstiegs, die PolitikerInnen glänzen mit NIMBY-Mentalität (1), indem sie gegen störanfällige AKW auf der anderen Seite der Grenze in Belgien und Frankreich schimpfen – ohne dabei die eigene Verantwortung beim Namen zu nennen.

Mit der Förderung der Atomkraft unter dem Deckmantel der „Forschung“, mit unbefristet weiter laufenden Atomanlagen wie der Urananreicherungsanlage (UAA) in Gronau und der Brennelementefabrik Lingen, mit der Versorgung von Atomanlagen dienenden Atomtransporten trägt Deutschland zum weltweiten Bau und Betrieb von Atomanlagen bei. Die „heimischen“ AKW sind darüber hinaus nicht weniger gefährlich!

Vertuschter Zwischenfall im AKW Fessenheim

Als deutsche JournalistInnen vor wenigen Wochen die Vertuschung eines Beinahe-GAU aus dem Jahr 2014 im französischen AKW Fessenheim öffentlich machten, zeigten sich die Bundesumweltministerin und die verantwortlichen PolitikerInnen der Fessenheim nahen Bundesländer empört. Sie forderten die Abschaltung des AKW – ohne dabei zu erwähnen, dass Deutschland seit Jahren zu dessen Weiterbetrieb beiträgt: Das AKW Fessenheim wird – wie viele AKW in Frankreich und Belgien – u.a. mit Brennelementen aus der Atomfabrik Lingen versorgt.

Über den Hamburger Hafen verkehrt das Uranerzkonzentrat, das anschließend in Frankreich verarbeitet wird und als Rohstoff für die Versorgung der Atomanlagen dient. Doch weder der rot-grüne Hamburger Senat noch die rot-grüne niedersächsische Regierung noch die schwarz-rote Bundesregierung sind bereit, Atomanlagen und Transporte zu stoppen. Hinzu kommt der Verdacht, dass beim Ausstiegsgesetz nach Fukushima absichtlich gepfuscht wurde, um das Gesetz juristisch durch die Konzerne angreifbar zu machen. (2)

Das Ganze hört sich noch absurder an, wenn man sich den Diskurs der VertreterInnen der Regierung im aktuell laufenden Verfahren um die Schadenersatzforderung der Atomunternehmen vor dem Bundesverfassungsgericht anschaut. Man habe die acht Meiler nach Fukushima abschalten lassen müssen, weil die Atomkatastrophe gezeigt habe, dass das Restrisiko Atomkraft nicht beherrschbar sei.

Späte Einsicht – und da fragt man sich, weshalb nur acht Reaktoren abgeschaltet wurden. Wieso sind zahlreiche Atomanlagen vom Ausstiegsplan nicht betroffen? Mit der Alterung der Anlagen wächst die Gefahr ständig – auch in Deutschland.

Der Unfall im AKW Fessenheim ist nur ein weiterer Beweis dafür. Der Unfall ist tatsächlich besorgniserregend. Der Betreiber EDF verlor auf Grund einer Überschwemmung des Steuerungsraums die Kontrolle über das AKW. Es wurde einige Minuten „blind“ gesteuert. Die Kontrollstäbe ließen sich nicht mehr bedienen, die Kettenreaktion drohte vollständig außer Kontrolle zu geraten. Die Mannschaft rief den Krisenplan auf und entschied sich für den Einsatz von Borsäure zur Unterbrechung der Kettenreaktion. Eine Maßnahme, die nur im Katastrophenfall vorgesehen ist. Der Unfall wurde anschließend vertuscht und selbst von der zuständigen Atomaufsichtsbehörde ASN herunter gespielt. Dass er nun öffentlich wurde, ist der Arbeit von JournalistInnen zu verdanken. Behörden und Politik haben versagt. Die Gefahr, dass die Kontrolle über das AKW im Falle einer Überschwemmung verloren geht, besteht auf Grund eines Konzeptionsfehlers bei 16 französischen Atomreaktoren

Besorgniserregend ist, dass diese Vertuschung von ernsthaften Zwischenfällen zum Normalbetrieb gehört.

Beispiele für vertuschte Unfälle und Beinahe-Unfälle

Wenig bekannt ist der Fall der AKWs Saint Laurent des Eaux an der Loire – er wurde erst im vergangenen Jahr durch Investigativ-JournalistInnen der Sendung „pièce à conviction“ ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Es kam 1969 zu einer Teilkernschmelze im Graphit-Gas-Reaktor Nummer 1 der Anlage. 50 Kilo Uran sind geschmolzen. 1980 ereignete sich eine weitere Teilkernschmelze, diesmal im Graphit-Gas-Reaktor Nummer 2. 20 Kilo Uran sind geschmolzen. Die Brennelemente befanden sich schon zwei Jahre im Reaktor, so dass die freigesetzte Strahlung höher war als 1969. Ca. 500 ArbeiterInnen wurden zur Begrenzung und Vertuschung des Unfalls eingesetzt. In Bodenproben aus der Umgebung des AKW Saint Laurent des Eaux sind heute noch Spuren von Plutonium zu finden. Interne Unterlagen bezeugen, dass Plutonium fünf Jahre lang peu à peu freigesetzt wurde. Das findet der ehemalige Präsident des Stromkonzerns EDF „nicht schlimm“. Er vergleicht den Unfall mit einem Autounfall (siehe Kasten). Neben den stillgelegten Reaktoren in Saint Laurent des Eaux sind heute Druckwasserreaktoren in Betrieb. Versorgt mit Brennelementen aus Lingen!

Als 1999 das AKW Le Blayais bei Bordeaux auf Grund eines Sturmes notabgeschaltet wurde, die Kühlung ausfiel, die Brennelemente im Reaktor kurz vor der Kernschmelze standen und Radioaktivität ins Meer freigesetzt wurde, wurde die Öffentlichkeit ebenfalls nicht informiert. Obwohl hier auch ein nur im Katastrophenfall vorgesehener nationaler Krisenplan ausgerufen wurde und ein GAU erst in letzter Minute verhindert werden konnte. (3)

Die Öffentlichkeit erfuhr von dem Unfall erst nach zehn Tagen, dank der Aufklärungsarbeit von AtomkraftgegnerInnen. Das AKW Le Blayais wird regelmäßig mit Brennelementen aus Lingen versorgt.

Ich erinnere mich an einen Unfall auf der Autobahn, 2004 in der Nähe von Orléans, wo ich aufgewachsen bin. Ein mit Brennelementen beladener LKW stieß mit einem anderen LKW zusammen, die Autobahn musste voll gesperrt werden. Der andere LKW hatte glücklicherweise keine brennbare explosive Flüssigkeit wie Benzin geladen, sondern Handys. Radioaktivität wurde offiziellen Angaben zur Folge nicht freigesetzt. (4)

Dies zeigt aber, dass nicht nur der Betrieb von Atomanlagen Gefahren mit sich bringt, sondern auch die Atomtransporte selbst.

Diese Beispiele zeigen: Wir sind mehrfach haarscharf an einer schwerwiegenden Katastrophe vorbei geschrammt. Es ist noch mal gut gegangen. Wie lange noch?

Kein Verlass auf die Politik

Frankreichs Präsident Hollande hat im Wahlkampf die Schließung des AKW Fessenheim spätestens 2016 versprochen. Sein Versprechen hat er nicht eingehalten, und es ist nicht damit zu rechnen, dass er dies noch tun wird. Im Januar hieß es seitens der Regierung, man werde in diesem Jahr (2016!) entscheiden, wann das AKW stillgelegt wird. 2017 sind Präsidentschaftswahlen, die nächste Regierung kann dann das Abschaltdatum nach Belieben nach hinten schieben.

Nach dem Bekanntwerden des vertuschten Unfalls hieß es dann, man werde das AKW doch in diesem Jahr schließen. Konkret wurde die Regierung jedoch nicht. Stattdessen hat die französische Atomaufsichtsbehörde die Laufzeitverlängerung für zahlreiche marode AKW genehmigt.

Flamanville

Weiter geht auch der Bau des EPR Reaktors in Flamanville in der Normandie. Der Bau verzögert sich auf Grund von diversen Mängeln, die Kosten explodieren. Von anfangs 3 Milliarden Euro sind sie auf 9 Milliarden gestiegen. Der Beton ist porös und weist Unregelmäßigkeiten auf. Die atomare Aufsichtsbehörde ASN bemängelte außerdem die Zusammensetzung des Edelstahls, aus dem der Reaktorkessel besteht.

Sie hat Untersuchungen angeordnet. Von deren Ergebnis, das für den Sommer zu erwarten ist, hängt ab, ob der Kessel ersetzt werden muss. Die Untersuchungen finden in Deutschland in Karlstein statt. Deutschland unterstützt dem versprochenen Atomausstieg zum Trotz den Bau des neuen AKW! (5)

Die französischen SteuerzahlerInnen werden auf den Mehrkosten sitzen bleiben. Es ist zu hoffen, dass der Bau sich für eine Ewigkeit verzögert und der Reaktor nie in Betrieb geht. Die Mehrkosten wären hier das kleinere Übel.

Die französische Regierung steckt weiter den Kopf in den Sand. Der AREVA-Konzern, der weltweit Atomanlagen baut und betreibt sowie Uran fördert, ist pleite. Die Pleite hat mit den fehlenden Aufträgen nach Fukushima, mit den Pannen beim Bau von EPR-Reaktoren in Frankreich und Finnland sowie mit diversen Korruptionsskandalen zu tun. Der Stromkonzern EDF soll deshalb AREVA NP (nuclear products) übernehmen und 2,7 Milliarden Euro hineinpumpen. Bis 2017 benötigt AREVA jedoch 7 Milliarden Euro. Die SteuerzahlerInnen sollen die Atomindustrie retten und für das tägliche Restrisiko zahlen.

Willkommen im Atomstaat Frankreich!

Diese verantwortungslose, menschenverachtende Politik müsste – egal auf welcher Seite der Grenze – die Menschen in Scharen auf die Straße bringen.

Es ist aber leider oft so, dass die Mehrheit lieber die Beruhigungspillen der Regierungen (Versprechen eines Atomausstiegs, die Behauptung, dass keine Gefahr für die Öffentlichkeit bestanden habe) schluckt und erst aktiv wird, wenn es zu spät und der eigene Garten gefährdet ist.

Die Antiatombewegung hat viele Atomanlagen erfolgreich verhindert und Abschaltungen erzielt. Es ist jedoch noch viel zu tun! Atomausstieg bleibt Handarbeit!