quergestellt

Adieu, Marianne

Ein Nachruf

| Wolfgang Hertle

Marianne Fritzen (7.4.1924 - 6.3.2016) war maßgebend an der Gründung der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg im Dezember 1973 beteiligt. Damals sollte in Langendorf an der Elbe ein Atomkraftwerk gebaut werden - 1977 wurden die Pläne für ein so genanntes "Nukleares Entsorgungszentrum" in Gorleben bekannt. Seitdem repräsentierte die mutige Frau den bürgerlichen Kern der Protestbewegung im Wendland.

Auf den Tag genau 35 Jahre nach der ersten Kundgebung in Gorleben wurde Marianne Fritzen unter großer öffentlicher Anteilnahme in Lüchow begraben.

Am 12. März 1977 fuhr ich mit Sönke Wandschneider, einem der „Brokdorf-Pastoren“, von Hamburg zu dieser Demonstration im abgebrannten Kiefernwald, ich erinnere mich noch genau an den Ruß, der den Sandboden bedeckte und innerhalb kurzer Zeit Gesichter und Kleidung der Demonstrierenden schwärzte. Dort erlebte ich zum ersten Mal Marianne als Vorsitzende der Bürgerinitiative, als sie die anderen Sprecherinnen und Sprecher der Kundgebung vorstellte.

Seit Beginn des Gorleben-Konfliktes nutzte ich die Möglichkeit, in Hamburg wie im Wendland die internen Diskussionen der Widerstandsgruppen zu verfolgen. Einmal die Woche trafen sich im Martin-Luther-King-Haus der Hamburger ESG die „Gorleben-Emigranten“, die am Wochenende meist zu ihren Familien oder in ihr Häuschen ins Wendland fuhren. Oft kam ich mit und konnte an Gesprächen mit diversen Aktiven in Lüchow-Dannenberg teilnehmen.

Wenn sich die verschiedenen Fraktionen der Anti-Atombewegung bei den überregionalen „Trebeler Treffen“ über die Köpfe der Einheimischen hinweg über Protestformen und Definitionen von Gewalt stritten, sah Marianne Fritzen die Vertreterinnen und Vertreter der gewaltfreien Gruppen als willkommene Verbündete an. Es herrschten damals starke Befürchtungen, es könnte in Gorleben, ähnlich wie zuvor an den AKW-Baustellen in Brokdorf und Grohnde, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei kommen und damit die Sympathie und das Verständnis der konservativen Bevölkerung des Wendlands verloren gehen. Das Verständnis von Legalität und Legitimität war noch stark von der konservativen Gleichsetzung von Gesetzesüberschreitung und Gewalt bestimmt. Das spürten Aktive durch negative Reaktionen auf die ersten Sitzblockaden gegen die Flach- und Tiefbohrungen im Wald zwischen Trebel und Gorleben.

Als ich ab Anfang 1979 begann, Verbündete für die Gründung einer Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion zu suchen, hatte insbesondere Marianne Fritzen ein offenes Ohr für dieses Vorhaben. (1)

So wie die Wendland-Bauern die Treckerdemonstration vom südfranzösischen Larzac 710 km nach Paris 1973 zum Vorbild für ihren Treck 1979 vom Wendland nach Hannover nahmen, gab das Zentrum für Gewaltfreiheit „Le Cun du Larzac“ entscheidende Impulse für den Aufbau eines Tagungshauses für gewaltfreie Aktion im Wendland. Die im Elsass aufgewachsene Marianne wusste u. a. durch ihre Kontakte zu Aktiven in Wyhl und Marckolsheim, wie Solange Fernex, Walter Mossmann oder Jean J. Rettig, dass der gewaltfreie Widerstand im Larzac ein Vorbild für die Ökologie-Bewegung am Oberrhein gewesen war (2).

Marianne nahm sich stets viel Zeit für Besucherinnen und Besucher aus Frankreich, wie z.B. Hervé Ott vom Cun, Pierre Parodi von der Arche-Gemeinschaft oder Didier Anger, Sprecher von CRILAN, der Initiative gegen das Atomzentrum La Hague.

Marianne Fritzen war 55 Jahre alt, als sie am 19. März 1979 zum ersten Mal an einer Straßenblockade teilnahm. Sie wollte mit ihren MitstreiterInnen die Abfahrt von Bohrfahrzeugen verhindern, mit denen der Salzstock bei Gorleben auf seine Eignung als atomares Endlager erkundet werden sollte. Die wendländischen Bauern waren empört, dass die Geräte ausgerechnet auf dem Gelände „ihrer“ Ländlichen Warenabsatz-Genossenschaft in Lüchow geparkt wurden.

Straßenblockaden wurden damals nicht wie heute als Ordnungswidrigkeit, sondern als Straftat geahndet. Noch fehlte die Überzeugung, dass begrenzte Regelverletzungen legitim sein können und ein wichtiges Element des Zivilen Ungehorsam darin besteht, sich offensiv den Konsequenzen ihrer Aktion zu stellen: Die Bauern stellten ihre Traktoren vor die Tore des Depots, der Polizei gegenüber stritten sie ab, ihre Fahrzeuge dorthin gelenkt zu haben. Genützt hat ihnen das allerdings nichts, die Fahrzeughalter waren leicht zu identifizieren und damit der Kreis, der für die Zahlung von Schadensersatz und Ausfallentschädigung herangezogen wurde, die von den Betreibern gefordert wurde. Die sog. Gesamtschuldnerische Haftung, eine niedersächsische Besonderheit, erleichterte den Justiz-Behörden die Arbeit, da sie sich im Zweifelsfall nur an den reichsten der beteiligten Bauern zu halten brauchten, der sich dann seinerseits bemühen musste, die jeweiligen Anteile bei seinen Kollegen einzutreiben. Außerdem verzichteten die Landwirte durch den vermeintlichen Schutz vor Repression auf die Möglichkeit, ihre Argumente vor Gericht und in der Öffentlichkeit vorzutragen. (3)

Im Wendland wurde die Wiederaufbereitungsanlage gleich zweimal verhindert, erst in Gorleben, dann noch einmal in Dragahn. Vom ursprünglich geplanten „Nuklearen Entsorgungszentrum“ ist nicht viel übrig geblieben. Marianne Fritzen sagte in einem Interview: „Das haben wir verhindert. Ich habe erlebt, wie in der Umweltschutzbewegung Leute miteinander ins Gespräch gekommen sind und an einem Strick gezogen haben, die sonst nicht viel miteinander zu tun haben: Schüler, Studenten, Bauern, Ärzte, Anwälte, Adelige, Hausfrauen. Das haben wir dieser Gesellschaft geschenkt, diese schichtenübergreifende Bewegung, das geht auch nicht wieder verloren, glaube ich.“

Hier liegt eine der herausragenden Eigenschaften von Marianne. So manche Autonome aus den Städten konnten nicht verstehen, dass Marianne bereit und fähig war, mit Politikern aller Parteien, mit Polizisten und Beamten ebenso zu sprechen wie mit Landwirten, Adeligen oder Journalisten. In einem der vielfältigen Nachrufe in der Elbe-Jeetzel-Zeitung, schreibt z.B. der frühere Bürgermeister der Samtgemeinde Lüchow, Eberhard von Plato, CDU, über Mariannes lokalpolitische Arbeit:

„Marianne hatte eine überzeugende Art, war hellwach dabei, sie war einfach pfiffig und so schnell im unkonventionellen Denken, dass ich mich dauernd zusammenreißen musste, um nicht zu sagen: ‚Super, Marianne Fritzen, seit Jahren haben wir eine Lösung gesucht und Sie haben genau die richtige Idee!'“

Marianne handelte nach der selben Überzeugung wie die Larzac-Bauern: Es geht nicht darum, bei Wahlen die Mehrheit der Stimmen zu gewinnen, sondern parteiübergreifend mit Argumenten, konstruktiven Alternativen und direkten gewaltfreien Aktionen die Köpfe und Sympathien der landesweiten Öffentlichkeit zu gewinnen.

Zufällig fiel im Rahmen der Kampagne „Gorleben 365“ die Endlager-Blockade einer Gruppe aus Frankreich am 7. April 2012 auf den 88. Geburtstag von Marianne. Sie freute sich sehr darüber und nahm gern an der Aktion teil. So könne sie manchen Gratulanten entkommen und die anderen würden auch nach Gorleben kommen. Nicht nur die französischen DemonstrantInnen sahen erstaunt, wie mitten in der Aktion Zivilen Ungehorsams Polizisten Marianne mit einem Strauß Rosen zum Geburtstag gratulierten. Marianne und die gut 30 Aktiven aus dem Widerstandshaus in Bure/Lothringen und aus dem Netzwerk „sortir du nucléaire“ lernten sich in den Tagen vor der Blockade kennen und tauschten sich über Erfahrungen im Widerstand aus.

Bei meinem letzten Besuch in Mariannes Haus am Kolborner Waldwinkel machte ich sie mit der Konfliktforscherin Veronique Dudouet bekannt, die in ihrer Jugend mit ihrer Familie in Les Truels auf dem Larzac lebte, einem Bauernhof, den die Armee schon gekauft hatte, der aber trotzdem von der gandhianischen Arche-Gemeinschaft gewaltfrei besetzt worden war. Heute arbeitet Veronique in Berlin bei der Berghofstiftung zu internationalen Konflikten, interessiert sich aber weiterhin für die Praxis gewaltfreien Widerstands im eigenen Land. Mit Marianne waren wir uns einig, dass internationale Solidarität ihre Ausgangsbasis in der soliden Verbindung mit den Bewegungen „zuhause“ haben muss. Marianne war immer dankbar, wenn ich ihr Berichte von Basisbewegungen innerhalb Frankreichs schickte, wie z.B. von der geplanten Atommülldeponie Bure oder vom Widerstand gegen den Großflughafen „Notre Dame des Landes“ bei Nantes.

Was wäre der Widerstand im Wendland ohne große Frauen wie Marianne Fritzen – oder Undine von Blottnitz, Marianne von Alemann, Lilo Wollny und einige andere?

(1) Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion - Über die Anfänge der Kurve Wustrow, www.castor.divergences.be/spip.php?article644

(2) Larzac - Gewaltfreier Widerstand in Südfrankreich, www.castor.divergences.be/spip.php?article541

(3) Ich finde es bedauerlich, dass sich die Bürgerinitiative nie eindeutig für den Zivilen Ungehorsam entschieden hat. Um die Gemeinnützigkeit des e.V. nicht zu verlieren, verzichtete sie des Öfteren darauf, die Verantwortung für Aktionen zu übernehmen, und damit auch darauf, die Linie des Widerstands eindeutig vorzugeben. In dieser Hinsicht nahm die BI Lüchow-Dannenberg nicht den Larzac-Widerstand zum Vorbild.

Anm. der GWR-Red.:

Dr. Wolfgang Hertle (*1946) war 1972 Gründer der Graswurzelrevolution. Viele Jahre hat er in Hamburg das Archiv Aktiv für gewaltfreie Bewegungen mit aufgebaut und im Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung gearbeitet. Vgl.: Eine lebendige "Institution". Zur Geschichte und Zukunft der Graswurzelbewegung und ihres Organs. Ein Interview mit GWR-Mitbegründer Wolfgang Hertle, in: Bernd Drücke (Hg.), ja! Anarchismus. Gelebte Utopie im 21. Jahrhundert, Karin Kramer Verlag, Berlin 2006, S. 147 ff. ; Kurzfassung: www.graswurzel.net/289/hertle.shtml