wir sind nicht alleine

Wo geht’s zur Grenze?

Auszug aus Olga Kálmáns Buch "Álomország - hol a határ?" (Traumland - Wo geht's zur Grenze?)

| Olga Kálmán

Olga Kálmán ist eine bekannte TV-Redakteurin und Publizistin von ATV Ungarn, dem einzigen noch existierenden oppositionellen Fernsehsender in Ungarn. In ihrem Buch "Álomország- hol a határ?" (Traumland - Wo geht's zur Grenze?) schildert sie die im Westen kaum bekannten absurden Methoden des gegen Flüchtlinge hetzenden großen Erfinders neuzeitlicher europäischer Abschottung. Die Übersetzung ins Deutsche ist soeben fertig geworden. Wir dokumentieren einen Auszug als deutsche Erstveröffentlichung. (GWR-Red.)

Die Ungarn sind gastfreundlich und heißen immer alle willkommen. Wäre das nicht ohnehin schon bekannt, belehrte Viktor Orbán sein Volk im Sommer 2015 erneut darüber. Allerdings fügte er hinzu: Anspruch auf diese Gastfreundschaft habe nur, wer mit gültigem Reisedokument durch einen offiziellen Grenzübergang kommt. Kriegsflüchtlinge, die ohne Papiere über die grüne Grenze kommen, werden ins Gefängnis gesteckt.

Orbáns Plakatkrieg

Die Menschen zu informieren ist Pflicht der Regierung, koste es, was es wolle. Es fragt sich nur, welche Menschen? Am 4. Juni 2015 legte die ungarische Regierung mit der Plakatkampagne gegen Einwanderer los. Die drei Riesenplakate sollten offensichtlich die Flüchtlinge ansprechen. Aufgestellt wurden sie jedoch innerhalb Ungarns in ungarischer Sprache (!). Die Übersetzung der Plakattexte:

Kommst Du nach Ungarn, darfst Du uns die Arbeit nicht wegnehmen!
Kommst Du nach Ungarn, musst du unsere Kultur respektieren!
Kommst Du nach Ungarn, musst Du unsere Gesetze respektieren!

Alle Daten belegten, dass die Flüchtlinge sich in unserer Heimat einen, höchstens zwei Tage aufhalten, genau solange, bis sie von der einen Landesgrenze zu der anderen gelangen. Die Kosten: eine Million Euro. Eine Woche lang wurde Ungarn mit diesen Plakaten in Großformat überflutet, als sich der Ministerpräsident zu Wort meldete. Viktor Orbán erklärte, die Botschaft an die Schlepper und Wirtschaftsflüchtlinge sei: Ungarn ist das Land, um das sie einen Bogen machen sollten.

Also: Auf dem ersten Plakat hat man die Leute ermahnt, dass sie während dieser 24 Stunden, bis sie das Land durchquert haben, den Ungarn die Jobs nicht wegnehmen sollen. Fürchtete sich die Regierung vielleicht davor, dass die ausländischen Schlepper den ungarischen Schleppern die Arbeit streitig machen? Oder etwa davor, dass diese Kriminellen, nachdem sie die Flüchtlinge für einen Wucherpreis bis nach Ungarn gelotst haben, sich bei uns als Tischler, Lehrer oder Parkwächter verdingen und so den Magyaren die Arbeitsplätze wegnehmen würden?

Demzufolge haben die beiden anderen Riesenplakate auch die Schlepper ermahnt; kämen sie nach Ungarn, müssten sie unsere Kultur und Gesetze respektieren. Eine Irritation lag beim Deuten dieser Plakate auf der Hand, denn bis jetzt konnte man nicht daran denken, was die Fremden, die diese Flüchtlinge über den Tisch ziehen, mit der Kultur Ungarns anstellen könnten. Würden sie zum Beispiel ein Tanzlokal stürmen, die Band davonjagen, in voller Lautstärke arabische Songs über die Anlage brüllen? Sie könnten vielleicht mit dem Bau einer Moschee direkt an der grünen Grenze beginnen, nur um die einheimischen Christen zu ärgern. Oder sie stampfen die Meisterwerke der ungarischen Literatur öffentlich ein und werfen sie auf den Scheiterhaufen? Vielleicht machen sie nach 22 Uhr Krach? An solch gefährliche Szenarien hat außer den Politikern anscheinend keiner gedacht.

Unser Verständnis für die Mahnung zur Achtung unserer Gesetze hielt sich auch in Grenzen. Bis jetzt war man der Meinung, dass Menschenschmuggel gesetzwidrig ist. Wenn das stimmt, fragt man sich, warum der Plakattext nicht mit rigoroser Festnahme drohte, sollte jemand das versuchen. Damit würde man aber übers Ziel hinaus schießen, denn wie es sich etwas später herausstellte, hätte die Behörde dafür keine freie Kapazität gehabt, da inzwischen alle Mann zum Aufbau und zur Bewachung des Grenzzauns abkommandiert wurden.

Sollte aber der Plakattext die Aufmerksamkeit der Schlepper nicht auf die Niederträchtigkeit des Menschenschmuggels lenken wollen, sondern nur so allgemein zur Einhaltung der Gesetze auffordern, dann könnte man damit auch selbst die Ungarn wöchentlich ansprechen, zum Beispiel, du musst Parkscheine lösen, du sollst nicht nach links blinken, wenn du rechts abbiegen willst, jäte regelmäßig deinen Garten, raube keine Bank aus – oder so. Im Allgemeinen war es sehr problematisch, den Zweck dieser Plakate nachzuvollziehen. Es könnte sein, dass man den Text so verstand: Sehr geehrte einstige, jetzige und zukünftige Wähler der Orbán-Regierung! Es ist Zeit, packen wir es an! Wir müssen gemeinsam kämpfen, unsere Heimat vor dem Feind zu schützen!

Was? Ihr meint, im Moment hätten wir keine Feinde? Von wegen… Es sind DIE FREMDEN! Wegen ihnen gibt es zu wenig Jobs. Ach so, du hast noch einen? Da ist es! Den werden sie dir im Nu wegnehmen, wegen ihnen wirst du schlechter leben… Es verschwindet alles, was dir lieb ist: die Zigeunermusik, das Schnapsbrennen, das Schinkenräuchern, die Operette und die Kultur im Allgemeinen. Niemand kann die Fremden aufhalten, sie sind imstande zu klauen, zu betrügen, zu morden – alle sind Gesetzlose. Sie lösen keine Fahrkarte für den Bus, während man dich zum Bußgeld verdonnert, sie betreiben Schwarzhandel, du zahlst Steuern, bis du schwarz wirst.

Wir müssen sie also aus unserem Land ekeln! Ob dies gelingt, hängt nur von uns ab. Das Gegenteil davon wollen unsere Feinde in Brüssel (ja, ja, die, mit deren Geld die Kanalisation in unserer Straße bezahlt wurde, aber das gehört auf ein anderes Blatt). Gefährlicher sind nur noch die Liberalen!

Die Regierung und der Ministerpräsident begründeten die Plakatkampagne natürlich ganz anders.

„Wir können den Einwanderern keine Jobs anbieten“, erklärte Viktor Orbán im selben Interview. Er fügte noch hinzu, die Botschaft der Plakate bedeute auch: Du hast keine Chance, hier zu bleiben, das ist kein Ort, wo du glücklich sein könntest. Das gilt auch für die mit allen Wassern gewaschenen Menschenschmuggler. Wow! Das hatte der gutmütigen ungarischen Bevölkerung so richtig eins reingewürgt, sie hatte nämlich von ihrer Regierung in den vergangenen fünf Jahren just das Gegenteil gehört; endlich gäbe es jetzt die Chance, in Ungarn glücklich zu werden, die Zukunft hätte bereits begonnen. Nun erfährt man, dass ein besseres Leben in diesem Land nicht möglich sei.

Unsere Zweifel beseitigte die Regierung etwas später, indem sie eine neue Plakatkampagne startete, diesmal für zwei Millionen Euro. Geld spielt natürlich keine Rolle, wenn den Menschen endlich vermittelt werden kann, wie gut es ihnen geht. Das Riesenplakat „Die ungarischen Reformen schlagen an“ teilte den Menschen mit, dass die ungarische Wirtschaft stärker wachsen würde als in der EU, das Lohniveau erneut gestiegen sei, wir durch verminderte Energiekosten viel sparen könnten, die Steuervergünstigungen eine große Hilfe für Familien wären, so dass wir keine illegalen Einwanderer brauchen. Das müssten wir so lange wiederholen, bis wir es alle kapieren.

Die Erfolgsmeldungen auf den Plakaten konnte man sich durch ein zusätzliches Informationsblatt erneut in Erinnerung rufen. Damit wurden vier Millionen ungarische Haushalte bedacht. Auch diese Aktion kostete einige Millionen Euro.

Auf die Riesenplakate für Flüchtlinge – genauer Schleuser – hatte die Öffentlichkeit reagiert, indem sie die gesamte Kampagne der Regierung Orbán als deren eigene Karikatur aufgefasst hatte. Zahlreiche Parodien und abgerissene Plakate schufen wochenlang eine Atmosphäre, die man zuletzt bei der Wende 1989/90 erlebt hatte. Derart flächendeckend lächerlich wurde eine Veröffentlichung der Regierung bisher kaum gemacht. Die Kehrseite der Medaille: Orbán ist es gelungen, die Flüchtlingsproblematik in der Öffentlichkeit zum beherrschenden Thema zu machen.

Der doppelschwänzige Hund

„Bist Du Ministerpräsident von Ungarn, musst Du unsere Gesetze respektieren!“ – von diesem Plakat erschienen achthundert Stück auf den Straßen – landesweit. Das war die Antwort auf die fremdenfeindliche Plakatkampagne der rechtspopulistischen Regierung. Als Organisatoren zeichneten die „Partei des doppelschwänzigen Hundes“ (Kétfarku Kutya Párt) und die Internet-Blogger „Dickes Fell“ (Vastagbör). So reagierten sie ihrer Meinung nach auf die manipulative, aus Steuergeldern bezahlte Plakatkampagne.

Die Mitglieder der Partei mit dem witzigen Namen begannen, für die Gegenplakate zu sammeln. Man wollte zehntausend Euro bekommen, es wurde in zwei Wochen das Mehrfache davon überwiesen. Auf den Unsinn der Plakate der Regierung wiesen auch die zivilen Organisationen mit zum Teil ironischen Texten hin. Sie meinten, die Regierung wolle damit nur von den echten Problemen des Lebens ablenken.

Außer den witzigen Plakaten tauchten auch Beschädigungen der Regierungsplakate auf. Es waren AktivistInnen von oppositionellen Parteien und von zivilen Organisationen, die im Schutze der Nacht die Plakate zusammengekritzelt und abgerissen hatten. Daraufhin hatte Viktor Orbán im früher öffentlich-rechtlichen – jetzt Staatsfunk – erklärt, dass die meisten Menschen der Ansicht seien, die Einwanderung bedeute eine Gefahr, doch ein kleiner Kreis lautstarker liberaler Intellektueller sei mit seinen „lebensfernen“ Ideologien dagegen. Er betonte, sie hätten das Recht, ihre Meinung zu äußern, aber das Recht zur Randale hätten sie nicht. Das sei der Beweis, dass die Opposition nicht ungefährlich sei, sie randaliere auf den Straßen, schlimmer noch: Sie beziehe Stellung gegen den Volkswillen. Von diesen Liberalen könne man etwas anderes gar nicht erwarten.

Wann kommt endlich der Feind?

Orbán kennt das Gebot der Stunde: Immer schön die Emotionen der WählerInnen anpeilen! Dazu eignet sich am besten ein Feindbild, das man gemeinsam bekämpfen kann. Das aktiviert die Wählergruppen und knüpft die Beziehungen zwischen Gleichgesinnten fester. Obwohl die Regierung Orbán vom Frühling 2015 an am gemeinsamen Feindbild systematisch gebastelt hat, war es in der ungarischen Öffentlichkeit im Sommer noch nicht angekommen.

Im Mai und Juni war der ungarische Fernsehzuschauer höchstens mit den Aufnahmen von Schlauchbooten voller Flüchtlinge im Mittelmeer konfrontiert, nicht aber mit den Feinden, die in Ungarn Jobs und Kultur gefährden und Gesetze missachten. Noch hat weder die „Flüchtlingsflut“ die Bahnhöfe in Budapest erreicht, noch gab es am Grenzübergang Röszke zu Serbien unhaltbare Zustände. Ohne sichtbaren Feind ist es aber schwierig, in den Krieg zu ziehen. Entsprechend wurde die Rolle des Feindes – wenn auch für kurze Zeit – der bösen, abtrünnigen Opposition zugeteilt.

Anzeigen in Syrien und Afghanistan

In den ersten Julitagen begaben sich bereits Zehntausende aus Syrien, Afghanistan, Irak und der Türkei auf die Balkanroute. Bei uns war man aber noch immer dabei, die Antworten auf die Volksbefragung zu analysieren und Plakate zu kleben, oder sie abzureißen, um den Bürger mit den Ereignissen möglichst umfassend zu versorgen und ihn auf die Ankunft der Flüchtlinge bestens vorzubereiten. Der Bürger sollte dann wissen, was er von ihnen halten soll. Inzwischen beschloss die Regierung, das Land an der südlichen Grenze zu Serbien in einer Länge von 175 km mit einem Zaun aus Stacheldraht zu schützen. Mit informativen Plakaten und Gegenplakaten wurde eine neue Epoche eröffnet. Als im August 2015 alle dachten, das sei nicht weiter steigerungsfähig, stellte sich heraus, dass die Regierung Orbán auch im Ausland eine Informationskampagne startet. So schaltete die Regierung im September in Syrien und in Afghanistan Zeitungsanzeigen mit der Botschaft, dass Ungarn an seiner südlichen Grenze einen Zaun errichtet hat und der Eintritt ins Land erschwert wird. Das unabhängige Internetportal index.hu hatte den Lesern die Frage gestellt, welcher Text sich dazu eignen würde, die Flüchtlinge abzuschrecken. „Afghanistan ist 6000 km von Ungarn entfernt, Syrien 3000. In Afghanistan sprengen sich Selbstmordattentäter in die Luft, die Taliban greifen Muslime an, die in ihren Augen nicht radikal genug sind. In Syrien köpfen die Schergen des IS die, die vorher nicht erschossen wurden oder die Assads Armee nicht aus ihren Häusern gebombt hat. Millionen sind auf der Flucht. Wie soll die ungarische Regierung die um ihr Leben laufenden Flüchtlinge dazu bewegen, zuhause zu bleiben? Mit einer Anzeigenkampagne in Syrien und Afghanistan!“

Diese Idee fand das Team von index.hu schon deshalb absurd, weil die meisten Flüchtlinge erst beim Erreichen der ungarischen Grenze von Ungarn erfahren. Sie konzentrieren sich nur darauf, wie sie nach Deutschland kommen. Alle Zwischenstationen zählen für sie nur als Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Index.hu versuchte am 12. August zusammenzufassen, was die Regierung alles in eine Anzeige hineinpressen sollte:

  • Ungarn ist ein kleines Land am Rande von Europa
  • Dieses kleine Land liegt notwendigerweise auf dem Weg.
  • Dieses kleine Land baut an einem Teil seiner Grenze einen Zaun.
  • Die Ungarn hassen Flüchtlinge.
  • Ungarn hat die meisten Nobelpreisträger.

Zusätzlich haben Journalisten im Internet eine Befragung gestartet; sie wollten der Regierung helfen, was sie den Millionen von Flüchtlingen alles mitteilen sollte. Welche Formulierung könnte die nach Europa strebende Menschenmenge von ihrem Vorhaben abhalten? Womit könnten wir uns im Ausland noch mehr blamieren? Die Internetgemeinde hat folgende Botschaft am meisten überzeugt:

„Ungarn: Wir sind schlimmer als der sogenannte Islamische Staat.“

Einen der vorderen Plätze an der Ideenbörse belegte auch die Mitteilung, die einen Flüchtling aus Syrien laut bösen Zungen besonders beeindrucken könnte:

„Mit dem reichsten Oligarchen, Lajos Simicska sind wir fertig geworden, auch du hast keine Chance!“