Die Kletteraktivistin und Graswurzelrevolution-Mitherausgeberin Cécile Lecomte wurde 2013 wegen einer Anti-Atom-Aktion zu einem Bußgeld von 20 Euro verurteilt. Da sie sich weigerte, dies zu bezahlen, erhielt sie eine Ladung zum Haftantritt zur Erzwingungshaft in der Justizvollzugsanstalt Hildesheim. Als sie am Vormittag des 5. April 2016 ihre eintägige Haft antreten wollte, wurde ihr überraschend mitgeteilt, das Bußgeld sei bereits bezahlt worden, sie müsse nicht in die JVA. Erst auf wiederholte Nachfrage wurde ihr schließlich mitgeteilt, wer das Bußgeld übernommen hatte: Zum großen Erstaunen der anwesenden Aktivist*innen war es die Hauptstelle der JVA in Vechta selber. (GWR-Red.)
Als wir mit einer spontanen Abseilaktion im Mai 2012 das Atommüllschiff EDO auf seinem Weg vom AKW Obrigheim zum Atommüllzwischenlager Lubmin auf dem Dortmund-Ems-Kanal in Münster blockierten, ahnte ich nicht, dass diese Aktion einen solchen Wirbel erzeugen würde. Es war eine sechsstündige erfolgreiche Blockade, die die Aufmerksamkeit von Passant*innen und Journalist*innen auf die trotz angeblichem Atomausstieg weiter bestehende Atommüllproblematik und die gefährliche, sinnlose Verschiebung von Atommüll lenkte (die GWR berichtete).
Strafe muss sein, dachte Papa-Staat, der entschlossene Kritik an seiner Atompolitik nicht leiden kann. Wir erhielten Bußgeldbescheide wegen „grob ungehöriger Handlung“ und „Nutzung bundeseigener Schifffahrtsanlagen entgegen ihrer Zweckbestimmung“. Es wurde vor dem Dortmunder Schifffahrtsgericht verhandelt. Bei Ordnungswidrigkeit gilt das Opportunitätsprinzip. Die als ordnungswidrig angesehene Handlung darf, muss aber nicht verfolgt werden. Menschen, die im Kanal baden gehen, begehen eine vergleichbare Ordnungswidrigkeit wie die, die uns vorgeworfen wurde – geahndet wird dies jedoch in den meisten Fällen nicht.
„Opportun“ ist die Strafverfolgung augenscheinlich dann, wenn die Handlung politischer Natur ist.
Nach drei Verhandlungstagen und einem Vortrag über die Gefahren der Atomkraft wurden wir zu 10 und 20 Euro Bußgeld auf Grund des Verstoßes gegen die Schifffahrtsverordnung verurteilt. Es gab eine ausführliche Berichtserstattung zum Prozess, was der verfahrensgegenständlichen Aktion nach dem Anliegen der Aktivist*innen erneut Öffentlichkeit verschaffte.
„Es ist ganz wichtig, dass es Leute wie Sie gibt“, erklärte der Richter in seiner Urteilsverkündung – und verurteilte uns. Richter*innen sind Rädchen im System, da kann man nicht allzu viel von ihnen erwarten, sie werden das System, von dem sie leben, sicher nicht auf den Kopf stellen.
Wir entschieden uns anschließend dafür, nicht nur Stachel im Arsch der Atomlobby und der Polizei zu sein, sondern auch in dem der Justiz. Wir zahlten das Bußgeld nicht und ließen es auf die Anordnung von Erzwingungshaft ankommen. Mein Mitkämpfer Martin trat seine eintägige Erzwingungshaft in der JVA Lüneburg im Frühjahr 2015 an. In meinem Fall ging es zäher voran. In einem Offenen Brief teilte ich dem zuständigen Richter Tebbe mit, was ich vom Justizsystem und vom Konzept „Strafe“ halte (1).
Ich wies den Richter außerdem auf die Rechtswidrigkeit der Anordnung der Erzwingungshaft hin, weil mein Gehorsam nicht erzwingbar sei. Diese ist nur zulässig, wenn Aussicht besteht, dass die Haft als Zwangsmittel zum Erfolg führt und die Betroffene zum Zahlen des Bußgeldes bewegt.
Das Gericht hielt an der Anordnung der Erzwingungshaft fest. Die für meine eintägige Erzwingungshaft zuständige JVA Hildesheim war jedoch einer anderen Überzeugung, wie es sich im Nachhinein herausstellte.
Der Anordnung der Erzwingungshaft folgte ein Schriftverkehr mit der JVA. Ich wollte sicherstellen, dass ich die Tabletten und Hilfsmittel, die ich aufgrund einer chronischen Erkrankung täglich benötige, erhalten würde. Ich habe bei einem früheren kurzen Gefängnisaufenthalt die Erfahrung gemacht, dass Menschen hinter Gittern häufig der Willkür ausgeliefert sind und elementare Grundrechte zwar auf dem Papier, jedoch nicht in der Praxis gelten. Dabei übte ich grundsätzliche Kritik am Knastsystem und freute mich schon auf den Streit um die Mitnahme meines Eichhörnchen-Plüschtieres. „Die Mitnahme von Plüschtieren muss jedoch abgelehnt werden. Die Sicherheitskontrolle eines Plüschtieres stellt sich als umfangreich dar, während der Verzicht für einen Tag keine gravierende Verletzung von Grundrechten darstellt“, teilte mir die JVA schriftlich mit.
Für eine Gesellschaft ohne Knäste
Am 4. April machte ich mich auf dem Weg nach Hildesheim und nutzte zusammen mit zwei weiteren Aktivistinnen die Gelegenheit für eine knastkritische Abendveranstaltung in der dortigen Projektwerkstatt. Die vorgetragenen Erfahrungsberichte von Gefängnisinsassen gingen den ZuhöhrerInnen nahe und zeigten eindrücklich, wie menschenverachtend und zerstörerisch das Knastsystem ist. Aus den Augen, aus dem Sinn. Durch das Gefängnis wird gesellschaftlichen Problemen oder Herausforderungen aus dem Weg gegangen. Es ist eine Scheinlösung, die mehr Probleme schafft als sie zu lösen vorgibt.
Viele Menschen sind der Auffassung, Gefängnisse seien zum Schutz der Gesellschaft vor schweren Kriminellen notwendig. Mit meinem eintägigen Knast-Aufenthalt wollte ich zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Viele Menschen sitzen wegen Delikten wie Schwarzfahren ein. Dass die Gesellschaft vor diesen Menschen nicht geschützt werden muss, ist offensichtlich. In Frauen-Gefängnissen verbüßt über die Hälfte der Insassinnen eine Haftstrafe im Zusammenhang mit Drogendelikten und Drogenabhängigkeit. Mit dem Knast ist ihnen nicht geholfen – im Gegenteil. Das Gesellschaft-schützen-Argument für die Haft gibt die eingesperrten Menschen auf. Wer dies befürwortet, müsste konsequenterweise angesichts der realen Situation in Knästen gar keine Haft oder lebenslange Haft fordern, weil alles dazwischen die Probleme nur zu verschärfen in der Lage ist.
Ziele von Gefängnishaft sind Rache („Strafe“) und „Resozialisierung“. Diese sind jedoch nicht miteinander vereinbar.
Eine freie, friedliche Gesellschaft braucht Menschen, die selbständig denken und in der Lage sind, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und solidarisch zueinander sind. Das Gefängnis fördert das Gegenteil: Abhängigkeit und Bevormundung, Konflikte und Gewalt, Neid, Denunziation, Isolation, Stigmatisierung über die Haft hinaus, posttraumatische Belastungsstörungen und andere psychische Belastungen. Hinzu kommt, dass der Knast bestehende Herrschaftsverhältnisse reproduziert und verstärkt: Rassismus, Xenophobie und Antiziganismus sind an der Tagesordnung. Armut bestimmt, wer wie lange im Gefängnis landet und wer dort zum Beispiel beim 14-tägigen Einkauf etwas erwerben kann, um den Alltag im Knast besser ertragen zu können.
Im Anschluss an die Kritik am Gefängnissystem wurden Überlegungen zur Schaffung einer herrschaftsfreien Welt ohne Knast und Strafe angestellt.
„Strafe dient nie den Menschen, sondern der Aufrechterhaltung einer Ordnung, die durch Interessen geleitet wird – den Interessen derer, die gerade bestimmen, was geschehen soll. Wer Politik gegen Herrschaft machen will, greift an dieser Stelle etwas sehr Symbolisches an, etwas, was den Kern von Machtausübung betrifft. Deutschland ohne Nazis oder ohne Castor – das ist denkbar. Deutschland ohne Justiz und Polizei aber kaum. Ein Grund mehr, Repression grundsätzlich in Frage zu stellen und damit Visionen einer Gesellschaft jenseits von Staaten, Erziehung und Strafe überall ins Gespräch zu bringen. Das kann über den direkten Angriff auf Repression, Kontrolle und Strafe erfolgen (von Störung, Theater, Graffiti bis Militanz). Zudem ist jede Situation, in der Repression auftritt, eine Chance, selbige zu thematisieren, also Kontrollen, Verhaftungen oder Gerichtsprozesse in eine Aktion zu wenden“, so das Fazit einer Referentin, um dann auf den Sicherheitsgedanken zurück zu kommen: „Freiheit stirbt mit Sicherheit. Der ganze Vorgang des ‚Wegsperrens‘ baut auf Strukturen auf, die sich wie ein Staat im Staate verhalten. So wirkt sich z.B. die reine Existenz der Polizei auf die gesamte Kommunikationsstruktur der Gesellschaft aus: Leute schauen weg, weil andere zuständig sind, oder es gibt keine persönliche Absprache, weil die Angst vor staatlicher Einmischung besteht.
Es wird keine*r irgendwo hingehen, um das persönlich zu klären, weil immer die Befürchtung bestehen muss, dass mensch in einen Sog gezogen wird, der für beide Parteien nachteilig ist. Es bleibt wichtig zu betonen, dass es keine Sicherheit gibt und dass sie auch nicht erstrebenswert ist. Gegenmodell wären Vertrauen und ein ehrliches und reflektiertes Miteinander, denn der Wunsch nach Sicherheit führt zu einer Wiedergeburt des Knastgedankens, da er sich darum bemüht, den Anschein einer Sicherheit zu geben, auch wenn sie überhaupt nicht gewährleistet werden kann.“
Überraschung
Als ich mich am Tag nach dieser spannenden Veranstaltung bei der JVA stellte, kam die große Überraschung. Der Knast wollte mich nicht haben. Das Bußgeld sei bezahlt worden, teilte mir eine wortkarge Beamtin mit. Nach mehrmaliger Nachfrage wurde mir erläutert, die JVA Vechta (Hildesheim ist eine Abteilung von Vechta) habe bezahlt. Ich erhielt die Kopie eines hausinternen Überweisungsbelegs in Höhe von 20 Euro mit der mysteriösen Zuordnung der Buchung als „Hausgeld“. Das Aktenzeichen stimmte mit dem meines Bußgeldverfahrens überein. Die JVA war dabei nicht so gut auf mich zu sprechen, es schien, als würde das Telefon nicht still stehen – an dieser Stelle ein großes Dankeschön an all die Menschen, die mich unterstützt und dazu beigetragen haben, dass der Knast ein bisschen durcheinander gewirbelt wurde.
Journalisten lüfteten anschließend das Geheimnis: Nicht die JVA, sondern der Leiter der JVA persönlich habe das Bußgeld bezahlt. Ob er unsere Kritik am Knastsystem teilte? Ob er die Aktion, für die die Erzwingungshaft angeordnet wurde, gut fand?
„… der frühere Lüneburger Polizeipräsident [hat] sie im Vorfeld eines Castor-Transports einmal als ‚absolut nervig‘ bezeichnet…Der Leiter des Frauengefängnisses in Hildesheim, Oliver Wessels, hatte das Bußgeld an die Justizkasse in Nordrhein-Westfalen schon am 9. März überwiesen. Warum, ist nicht ganz klar. Vielleicht teilt Oliver Wessels die Einschätzung der Französin durch den ehemaligen Lüneburger Polizeipräsidenten Friedrich Niehörster“, rätselte die Hildesheimer Allgemeine Zeitung (2).
Der JVA-Leiter bestätigte dies dem NDR (3):
„‚Ich wusste, dass die Aktivistin die Tageshaft als politische Bühne nutzen wollte‘, sagte JVA-Leiter Oliver Weßels NDR 1 Niedersachsen. Dies habe er verhindern wollen. Die Zahlung bereut er jedoch inzwischen.
‚Nun hat die Aktivistin die Bühne, die sie haben wollte, da habe ich aus Blauäugigkeit nicht dran gedacht‘, gesteht Weßels. Denn Lecomte machte die Bußgeldübernahme öffentlich. ‚Nun habe ich zahlreiche Interviewanfragen‘, ärgert sich der JVA-Chef. Und: Einen Bericht ans Justizministerium wird er auch schreiben müssen. ‚Jetzt habe ich die Arbeit, die ich meinen Mitarbeitern ersparen wollte‘, so Weßels.“
Der Gefängnisleiter hat „privat“ bezahlt, um in seiner Funktion als Gefängnisleiter politisch Einfluss zu nehmen. Im Gegensatz zum Amtsrichter hat er wohl erkannt, dass mein Gehorsam nicht zu erzwingen war.
Das sehe ich als erfolgreichen Abschluss einer Aktion an. Der Rummel um die Erzwingungshaft und die Verwirrung um die Zahlung des Bußgeldes durch die JVA Vechta in Person des Anstaltsleiters waren eine amüsante Krönung. Dadurch, dass ich nicht in den Knast gehen musste, hatte ich umso mehr Energie für die nächste Blockade eines Atomtransportes. Ob dafür auch ein Bußgeld und Erzwingungshaft verhängt werden? Der JVA-Leiter freut sich dann sicher, wenn wir für eine Dauerkundgebung das Zelt vor der JVA aufschlagen! Ätsch!
(1) http://blog.eichhoernchen.fr/post/Der-Stachel-im-Arsch-der-Justiz
(2) www.hildesheimer-allgemeine.de/news/article/gefaengnisleiter-zahlt-bussgeld.html
(3) www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Strafe-bezahlt-Direktor-erspart-Demonstrantin-Haft,gefaengnisdirektor100.html