spanien 36

Spanien 36 heute

Ein Interview mit fünf Mitgliedern der Infogruppe Bankrott zu Effekten und Gegenwart der Spanischen Revolution 80 Jahre danach (Teil 1)

"Die Geschichte ist eine Erfindung, zu der die Wirklichkeit ihre Materialien liefert. Aber sie ist keine beliebige Erfindung. Das Interesse, das sie erweckt, gründet auf den Interessen derer, die sie erzählen [...]." (1)

Hans Magnus Enzensberger, Der kurze Sommer der Anarchie

Politische Biographien

GWR: Die Spanische Revolution jährt sich im Sommer 2016 zum 80sten Mal. Während der Spanische Bürgerkrieg, an dessen Beginn die Soziale Revolution stand, zu einem der besterforschten Ereignisse des 20. Jahrhunderts gehört, zu dem es an ZeitzeugInnenberichten ebenso wenig mangelt wie an literarischen Verarbeitungen, sieht es mit der Sozialen Revolution anders aus. Sie ist beinahe in Vergessenheit geraten.

Als wir mit dem Infoladen Bankrott in den 1990er Jahren in Münster unsere Veranstaltungsreihe begannen, war der Film „El pueblo en armas – Das Volk in Waffen“ fester Bestandteil des Semesterprogramms. Der Film, 1937 in den Reihen der anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT entstanden, feiert die Errungenschaften der Sozialen Revolution und geht nur nebenher auf den Krieg ein. (2)

Nun gilt die Spanische Revolution einerseits als erste und bisher einzige libertäre Revolution in einer modernen Massengesellschaft. Andererseits aber trug diese Gesellschaft Züge, die sich in fast allem von unserer Realität im Deutschland der 1990er Jahre unterschieden: von der Klassenspaltung und den Geschlechterverhältnissen über den Bildungsgrad ihrer Mitglieder bis hin zu den ökonomischen und politischen Strukturen im Allgemeinen. Wieso also – und da frage ich erstmal hinsichtlich der eigenen Sozialisation(en) als bezogen auf die Veranstaltungsplanung in einem Infoladen – hatte „der kurze Sommer der Anarchie“ (Enzensberger) überhaupt so eine Anziehungskraft? Wie trat Spanien 36 in euer Leben?

Bernd: Die Spanische Revolution 1936 bleibt für emanzipatorische Soziale Bewegungen relevant, weil sie ein Beispiel dafür ist, dass eine Gesellschaft auch im großen Maßstab nach anarchistischen Prinzipien „von unten“ umgewälzt werden kann. Anarchie ist eben keine reine Utopie, sondern lässt sich tatsächlich ganz konkret als gesellschaftliche Organisationsform verwirklichen. Dafür ist die Spanische Revolution ein Beweis, auch wenn damals natürlich nicht alles heiter Sonnenschein war und manche AnarchistInnen oft dazu neigen, die damaligen Geschehnisse zu verklären und üble Sachen, wie etwa die Militarisierung und die massenhafte Ermordung von Priestern und Nonnen im Spanischen Bürgerkrieg, auszuklammern.

Spanien 36 trat relativ spät in mein Leben. Ich hatte mich als langhaariger Gymnasiast Anfang der 1980er Jahre in den Friedens-, Anti-Atom-, Antifa-, Anti-Apartheid- und Ökobewegungen politisiert und radikalisiert. Die Frage, welche gesellschaftlichen Konsequenzen aus der nationalsozialistischen Terrorherrschaft für emanzipatorische Bewegungen gezogen werden müssen, hat mich schon damals bewegt. „Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“, das waren und sind Leitlinien, die mein Handeln bestimmten und bestimmen. Lernen aus der Geschichte. Auf die Spanische Revolution bin ich erst ab etwa Mitte der 1980er Jahre gestoßen, zunächst wohl durch das einfach geschriebene und die Spanische Revolution aus heutiger Sicht ein bisschen platt verherrlichende Buch „Was ist eigentlich Anarchie?“ (3) aus dem Karin Kramer Verlag. Im August 1986 zog ich nach Münster, um Politik, Soziologie und Pädagogik zu studieren. Anders als in meiner Heimatstadt Unna gab es hier eine recht große Anarchoszene. In meiner ersten Anarcho-WG wurden neben Arbeiterkampf, taz und Konkret u.a. auch anarchistische Blätter wie Schwarzer Faden, Graswurzelrevolution und DA gelesen. Dort fand sich 1986 einiges zum Thema „50 Jahre Spanische Revolution“. Wobei die Konkret den Anarchismus in Spanien 1936 in einer Extrapublikation in orthodox-marxistischer Tradition als „kleinbürgerlich“ und „konterrevolutionär“ diffamierte. Beeindruckt waren wir vom Text- und Bildband, der 1986 zu den „the ex“-Punk-Schallplatten „the spanish revolution 1936“ gehörte. Später habe ich „Leben ohne Chef und Staat“ von Horst Stowasser (4), „Der kurze Sommer der Anarchie“ von Enzensberger, „Mein Katalonien“ von Orwell und viele andere Bücher zum Thema gelesen. Die libertären Schulkonzepte der Escuela Moderna von Francisco Ferrer, die 1936 in der Spanischen Revolution in tausenden Freien Schulen Realität wurden, spielten eine Rolle, als ich 1995 mit einigen FreundInnen die 2000 leider gescheiterte Initiative für eine „Freie Kinderschule Münster“ gegründet habe.

Ab Ende der 1980er Jahre war ich sehr im Münsteraner Umwälzzentrum (UWZ) engagiert, wo ich anarchistische Zeitschriften und von 1989 bis 1991 auch die „Atomkraft Nein Kalender“ mit produziert habe. 1992 kam es zur Spaltung der UWZ-Ladengruppe, der ich bis dahin angehörte. Gemeinsam mit anderen AnarchistInnen und Feministinnen, die zuvor im UWZ aktiv waren, gründeten wir dann im Mai 1992 den Infoladen Bankrott, der Name war inspiriert durch ein Zitat eines UWZlers: „Entweder ihr oder wir, entweder funktionierende Ökonomie oder Bankrott“.

Der im UWZ verbliebene Besitzer der UWZ-Druckerei wechselte die Schlösser aus und drängte mit Hilfe einiger Freunde und Angestellter alle sich mit der (Ex-)UWZ-FrauenLesben-Archivgruppe solidarisierenden Menschen unter Androhung von Gewalt aus dem UWZ heraus.

Das war eine bittere Erfahrung.

Das alte UWZ wurde daraufhin ab 1992 mehrere Jahre lang von etlichen Infoläden boykottiert, während der Infoladen Bankrott von vielen Infoläden solidarisch unterstützt wurde.

Ein Genosse aus Dortmund schenkte uns 1992 zahlreiche Videofilme, u.a. auch den anarchosyndikalistischen CNT-Agitpropfilm „El pueblo en armas“ und Dokumentarfilme, u.a. „Die lange Hoffnung“ über die SpanienkämpferInnen Augustin Souchy und Clara Thalmann.

In „Die lange Hoffnung“ beschreibt Souchy auch, dass den eigentlich zutiefst antimilitaristischen AnarchosyndikalistInnen der bewaffnete Kampf von den Faschisten (zur Verteidigung) aufgezwungen worden sei. Von ihm stammt der schöne und immer noch richtige Satz: „Anarchie ist nur gewaltfrei denkbar, sie bleibt das Fernziel der Menschheit.“

Unser bundesweit ab Mai 1992 bei Demos und Veranstaltungen präsenter Bankrott-Büchertisch wurde größer. Im Wintersemester 1992/93 machten wir unsere erste wöchentliche Bankrott-Film- und -Veranstaltungsreihe, zunächst im abrissbedrohten Wohnprojekt Breul-Tibusstraße. Ab 1993 machten wir in jeder Semesterwoche eine Veranstaltung im FaRat-Café und später in der Baracke, dem libertären Zentrum an der Uni Münster.

Ab Sommer 1994 hatten wir bis zur „Wiedervereinigung“ mit dem UWZ 2005 unser eigenes Bankrott-Ladenlokal im Emma-Goldman-Zentrum im Dahlweg 64. Die Spanische Revolution thematisierten wir nicht nur an den Jahrestagen 1996, 2001 und 2006. Im Laufe der Jahre lernten wir Spanienkämpfer persönlich kennen. Ich erinnere mich besonders gerne an Helmut Kirschey.

Im Oktober 2001 hatten wir das große Glück, den damals 88-Jährigen persönlich kennen zu lernen. Der Anarchismusforscher Dieter Nelles machte zu dieser Zeit gemeinsam mit dem Spanienkämpfer eine Veranstaltungsrundreise, auch um die mit dem Kulturpreis des schwedischen Arbeiterbildungsvereins ausgezeichnete Biographie „Helmut Kirschey: A las Barricadas. Erinnerungen und Einsichten eines Antifaschisten“ (5) vorzustellen. Als Graswurzelrevolution-Redakteur und Infoladen-Bankrott-Kollektivist hatte ich die Veranstaltung in Münster mitorganisiert. Auch hier erzählte Helmut Kirschey mit dem Elan eines 30-Jährigen seine Lebensgeschichte. (6)

Ein ähnlich beeindruckender Zeitzeuge der Spanischen Revolution, den ich noch persönlich kennenlernen durfte, war Abel Paz (Diego Camacho). (7)

Bewi: Ich würde ganz klar sagen: durch den Infoladen Bankrott und eben die genannten Veranstaltungen! Die müssten auch ergänzt werden: Wir haben neben Filmen eine ganze Reihe Menschen zu dem Thema eingeladen, hervorheben möchte ich mal Vera Bianchi zu den Mujeres Libres, vor allem aber auch ZeitzeugInnen selber: Abel Paz hat in unserer WG gepennt – weder vorher noch nachher gab es jemals so viele volle Aschenbecher in meinem Zimmer – und Helmut Kirschey hat uns in seine Wohnung nach Göteborg eingeladen. Wir sind leider die letzte Generation, die noch die Möglichkeit hatte, persönlich und intensiv mit Teilnehmenden der Revolution zu sprechen. Das ist etwas Besonderes, vor allem, weil diese Kommunikation eben nicht nur eine politische, sondern immer auch eine persönliche war.

Aber zur eigentlichen Frage: Erst mal hat die Spanische Revolution in meiner politischen Sozialisation kaum eine Rolle gespielt. In den Studierendenprotesten 1997 haben einige aus der Hochschulgruppe „Undogmatische Linke“ erst gewerkschaftliche Konzepte reizvoll gefunden. Daraus entstand auch eine Auseinandersetzung mit dem Anarchosyndikalismus.

Für mich persönlich war das vielmehr eine Auseinandersetzung mit der deutschen Revolution 1918/19, später dann auch mit der Geschichte der Industrial Workers of the World (IWW) und den französischen Ursprüngen des Syndikalismus. Vorher – zu Schulzeiten, im Zivildienst und am Beginn des Studiums – habe ich ja relativ viel Antifa-Arbeit gemacht, wenn auch eher historisch als praktisch.

Die Spanische Revolution hat nun diese beiden Komponenten zusammengebracht: revolutionäre Gewerkschaftsarbeit und antifaschistisches Engagement.

Eine wesentliche Rolle spielte sicher unsere Reise zum Zweiten Interkontinentalen Treffen für die Menschlichkeit und gegen den Neoliberalismus in Spanien 1997. Man glaubte, den Geist von 1936 dort zu spüren, sprach mit den GenossInnen der CNT. Vor allem waren wir ja in dem Örtchen Serra d’Almos, das sich bis dato eine weitgehende Selbstverwaltung erhalten hatte und sich auf 1936 berief. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, habe ich auf der Reise auch den „Kurzen Sommer der Anarchie“ gelesen.

Doch, ziemlich sicher, denn eine dort beschriebene Episode haben wir dann sehr ähnlich erlebt: Es gibt in dem „kurzen Sommer“ den Bericht eines britischen Journalisten, der überrascht ist, als die AnarchistInnen in einem kleinen Dorf ihm umsonst sein Motorrad reparieren – gerade nachdem ich das gelesen habe, ist uns das mit unserem Auto passiert.

Dazu muss man sicherlich auch sagen: Mir wurde das irgendwann „zuviel Spanien“. Unter den ganzen historischen Filmen und Vorträgen litt m.E. die aktuelle Praxis und ich hatte auch den Eindruck, dass die Menschen, die wir ansprechen wollten, unsere Faszination oft nicht teilten. Irgendwann habe ich Veranstaltungen zur Spanischen Revolution – wenn es nicht etwas ganz besonderes war – nahezu blockiert.

Eine Anekdote ist sicher noch berichtenswert: 1999 oder 2000 zeigte der AStA der Uni Münster den Film „Land and Freedom“ und wir waren eingeladen, zu dritt eine Einführung in die Spanische Revolution zu referieren. Beamer waren damals noch technische Ungetüme, mit denen kein Mensch umgehen konnte. Derjenige, der das konnte, war ein konservativer Geschichtsstudent, Mitglied der CDU. Der kommentierte unseren Vortrag seinerzeit: „Eins muss man euch Anarchisten lassen: Im Gegensatz zu Sozialdemokraten könnt ihr Fehler eingestehen.“

Baxi: Puh, das kann ich gar nicht mehr so genau sagen. Ich muss deshalb aufpassen, dass ich mir nicht irgendeine frühreif-revolutionäre Politisierung andichte, die ich als verschüchtertes Schülerlein noch gar nicht haben konnte. Aber die Vergangenheit – und die Gegenwärtigkeit von Vergangenheit – spielte in meiner Familie schon immer eine große Rolle. Obwohl sich diese Geschichtlichkeit des eigenen Lebens naturgemäß eher auf die Zeit des Dritten Reiches bezog. Aber ich bin mir doch ziemlich sicher, dass über den Umweg der eigenen Familiengeschichte erst die dreißiger Jahre in Deutschland und dann die dreißiger Jahre in Spanien in mein Leben getreten sind…

Mein Großvater mütterlicherseits kam aus einer glühenden Nazi-Familie in Hamburg. Meine Großmutter mütterlicherseits dagegen war die Tochter eines der bekanntesten politischen Nazi-Opfer in Mainz. Ich habe ihr als Teenager ihre zuweilen wüsten Tiraden gegen die politische Rechte nie so ganz abgenommen und im Stillen vermutet, sie wolle mir, zumal, als meine Haare länger und meine Gedanken krauser wurden, eigentlich nur schön tun. Bis ich begriff, dass sie wirklich keinen Grund hatte, die Nazis zu lieben.

Sie hatten ihren Vater auf dem Gewissen und nach dem Mord ihre Familie, wo nicht ins Elend gestürzt, so doch deren bis dahin recht sicheres und wohlhabendes Leben mit einem Schlag beendet. Bei meinem Großvater reichte es offensichtlich nicht für eine richtige Nazi-Gesinnung, trotz seines familiären Hintergrunds. Aber er gefiel sich zuweilen in pompösen, reaktionären Tiraden – auch zu meiner Zeit noch – die meine Mutter als junge Frau das Schlimmste fürchten ließen. Sie versuchte, herauszufinden, was ihr Vater wirklich im Krieg gemacht hatte, in der Hoffnung, dass er als Wehrmachtssoldat nicht mehr Blut als unvermeidlich an den Händen hatte. Was sich dann zum Glück auch herausstellte.

Aber das, da bin ich mir ziemlich sicher, war die eigentliche Geburtsstunde des „Geschichtsbewusstseins“ in meiner Familie.

Als Lehrerin hat meine Mutter dann mit ihren Schülerinnen und Schülern regelrechte Forschungsprojekte zur Lokalgeschichte während des Dritten Reiches ins Leben gerufen, über die der WDR sogar Dokumentarfilme drehte und ausstrahlte. Gleichzeitig war eine derart kritische Arbeit im erzkonservativen Essener Süden natürlich alles andere als alltäglich, und es kam durchaus vor, dass irgendwelche verkalkten CDU-Hinterbänkler bei meiner Mutter in der Elternsprechstunde auftauchten, um sie väterlich zu belehren. Ich muss, wenn ich mir diese Szenen heute vorstelle, immer an den Kabarettisten Werner Finck denken, der in den fünfziger Jahren einmal zur immer repressiver werdenden Kultur unter Adenauer gesagt hat: „Ich möchte einmal festhalten: Ich bin nie verboten worden. Man hat mir immer nur ‚nahegelegt’…“ All das bekam ich zuhause mit, und war naturgemäß ganz und gar auf Seiten meiner Mutter, die so gemein behandelt und schlecht gemacht wurde.

Sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, hatte für mich also recht früh auch etwas mit Gerechtigkeit zu tun.

Zu einem Schlüsselerlebnis wurde dann eine Exkursion, die die VVN und die DFG-VK organisierten, als ich schon Zivildienst machte. Ich hatte die Ankündigung zufällig am Schwarzen Brett der Essener Stadtbücherei gesehen, einen winzigen, rosa Zettel, den niemand beachtete: „Zeitzeugenexkursion zum Konzentrationslager Papenburg-Esterwegen“. Wir hatten mit der Schülervertretung bis zu diesem Zeitpunkt schon ein paar Veranstaltungen mit Zeitzeugen gemacht, und ich dachte mir: „Naja, das wird wohl so ähnlich sein. Ein Bus voller Schülerinnen und Schüler, und vorne ein alter Mann oder eine alte Frau, die uns etwas erzählen.“

Als ich mir dann ein Herz gefasst und mich pünktlich am Essener Busbahnhof eingefunden hatte, traf mich fast der Schlag: Abgesehen von zwei jungen Lehrerinnen und den Organisatoren der Exkursion war ich der einzige Mitreisende, der nicht mindestens jenseits der Siebzig war – und der mit weitem Abstand jüngste. Ich fuhr tatsächlich ins Emsland mit einem ganzen Bus voller Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Und alle waren aktive Nazi-Gegnerinnen und Gegner gewesen! Einige hatten tatsächlich in dem Konzentrationslager gesessen, das wir gerade besuchen fuhren. Ich werde das nie vergessen: Ich, der winzige, dürre, völlig verwirrte Baxi, saß in meiner Bankreihe und hörte zu, wie sich drei (in meiner Wahrnehmung) uralte Männer vor mir lachend darüber unterhielten, wie die Gestapo sie abgeholt hatte, und sich gegenseitig damit aufzogen, wer den ungemütlichsten Transport gehabt hätte: „Ach komm‘, Du bist doch wenigstens im Zug gefahren! Mich haben sie an den Haaren zum Auto gezerrt…“

„Haare? Was für Haare? Du hattest doch damals schon genauso wenig Haare wie heute!“ Sie lachten und freuten sich, als würden sie sich ihre schönsten Urlaubserlebnisse erzählen.

Es war ein Klassentreffen unter ein bisschen grau gewordenen revolutionären Genossinnen und Genossen. Ich war vollkommen sprachlos.

Der Spanische Bürgerkrieg hatte dann seinen großen Auftritt, als wir zu einer Gedenkstätte für die KZ-Opfer aus Esterwegen wanderten und sich herausstellte, dass viele meiner Mitreisenden trotz ihres vergnüglich großen Mundwerks nicht mehr halb so gut zu Fuß waren, wie sie gerne taten. Es ging auf einem gewundenen Pfad durch die Heide, es war recht warm, und auf dem Weg stand nur eine einzige, steinerne Bank im Schatten von ein paar dünnen Birken. Auf dieser Bank nun knubbelten, drückten und schubsten sich kichernd ‚meine‘ Alten, bestimmt sechs oder sieben, wo allenfalls drei oder vier Platz gefunden hätten.

Als wären sie eine undisziplinierte, aber gut gelaunte Grundschulklasse.

Ich stand schüchtern daneben und starrte auf meine Schuhspitzen, während mir der eine oder die andere unter ausgiebigem Gegluckse zuwisperte, so toll sei es eben leider doch nicht mehr mit den Beinen oder der Hüfte. Ich konnte ja gar nicht anders, als mir im Stillen auszumalen, wie viele Schläge und Tritte wohl für diese Schwächen verantwortlich sein mussten, die sie von den Mördern des Regimes bekommen hatten, als es plötzlich still wurde: Den Weg herunter kam eine in jeder Hinsicht beeindruckende, voluminöse Frau in einer wehenden, grauen Kittelschürzte und mit einem turmhohen Dutt, die mir schon bei der Abfahrt aufgefallen war. Sie rollte mehr, als das sie ging, auf die überfüllte Bank zu, baute sich vor den verknotet Aufsitzenden zu ihrer vollen, durchaus beeindruckenden Größe auf und raunzte sie grimmig an: „Was ist denn los mit euch? Seid ihr alt geworden? Habt ihr keinen Mumm mehr in den Knochen?!“ Dann warf sie einen finsteren Blick zu mir herüber und sagte: „Was soll der junge Mann denn von euch denken?“ Ich hätte im Boden versinken können vor Scham. Sie sprach’s, drehte sich verächtlich um und rollte weiter den Weg hinab. Auf der Bank herrschte betretenes Schweigen. Dann drehte sich ein Herr zu mir um und sagte respektvoll lächelnd: „Das sind die, die früher gekämpft haben. Die haben heute auch noch Kraft.“ „Gekämpft? Wo denn gekämpft?“, fragte ich. „Im Spanischen Bürgerkrieg“.

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt allenfalls entfernt oder nebulös etwas über den Spanischen Bürgerkrieg und die Soziale Revolution gehört. Nun aber hatte auch diese Geschichte plötzlich ein menschliches Gesicht, und ich begann, neugierig zu werden. Für mich wurde die Geschichte des Bürgerkriegs dann vor allem zu einem wichtigen Baustein einer politischen Abgrenzungsidentität von kommunistischen und marxistischen Strömungen und Parteien, die schon zu meiner Schulzeit begonnen hatten, mir widerwärtig zu werden. Im Grunde bin ich Anarchist geworden, weil ich Parteien misstraue. Farbe, Form und Inhalt bekam meine reichlich diffuse libertäre Gesinnung aber tatsächlich erst, als die Geschichte des Bürgerkriegs – im wahrsten Sinne des Wortes – meinen Weg kreuzte.

Kein Wunder, dass wir uns bis heute treu geblieben sind.

Daniel: Tatsächlich hat Spanien 36 in meinem Leben keine besondere Rolle gespielt. Meine politische Sozialisation begann mit meiner Kriegsdienstverweigerung und führte mich von dort zu Pazifismus und Gewaltfreiheit. Spanien war für mich zum ersten Mal von Bedeutung als das Land der Totalen Kriegsdienstverweiger „Insumisos“.

Zur Zeit meiner Totalverweigerung waren das etwa 30 % eines Jahrgangs, die nicht zum Kriegs- bzw. Ersatzdienst antraten, während es in Deutschland gerade mal 100 Totis waren – das gelobte Land.

Von der Spanischen Revolution oder dem Spanischen Bürgerkrieg habe ich zum ersten Mal im Zusammenhang mit „Spanish bombs“ von Clash gehört. Später tauchte sie dann immer mal wieder auf – z.B. bei Arthur Koestler und Peter Weiss – und war für mich vor allem der Beleg, dass eine herrschaftsfreie und sozialistische Gesellschaftsorganisation möglich ist.

Den Klassiker „Mein Katalonien“ von Orwell habe ich erst spät gelesen und „Der kurze Sommer der Anarchie“ von Enzensberger nie.

Petz: Bei mir war es einerseits tatsächlich Enzensberger, den ich 1992 gelesen habe – es gibt Urlaubsfotos aus dem Jahr, da liegt das Buch neben dem Bett, deshalb weiß ich das so genau -, der meine Faszination für die Spanische Revolution geweckt hat. Andererseits war es in einem weiteren Sinne aber meine Suche nach alternativen Politik- und Lebensmodellen, in der schließlich auch Spanien 36 auftauchte. Ich komme aus einer Familie, in der es keinerlei linke Tradition gab, im Gegenteil.

Mein Vater war als Jugendlicher aus Schlesien vertrieben worden und vertrat in den 1980er Jahren im Wesentlichen die Politik der Vertriebenenverbände, gepaart mit einer Begeisterung für Eigeninitiative und Geschäftssinn, die seiner Karriere den richtigen ideologischen Halt gaben und die er seinerzeit in Margret Thatcher verkörpert sah.

Meine Mutter habe ich weitgehend als unpolitisch erlebt, aber ihr Vater, mein Opa, den ich sehr geliebt habe, war deutschnationaler Burschenschafter gewesen. Ich musste mir also erst von Freunden oder in der Schule erzählen lassen, was „1968“ bedeutete, und eignete mir so Stück für Stück ein alternatives Geschichtsbild an. Als Abiturient, also um 1990, verstand ich mich bereits als Anarchist. Und es hat mich schier umgehauen, daran kann ich mich noch erinnern, als ich erfuhr, dass in dem gleichen Jahr 1936, in dem meine Oma als begeisterte Zuschauerin bei den Olympischen Spielen in Berlin gewesen war, in Spanien eine Revolution ausgebrochen war.

Rezeptionsweisen

GWR: Manche von uns haben sich nur am Rande mit der Spanischen Revolution beschäftigt, andere sind regelrechte Spezialisten geworden. Bleiben wir zunächst bei allgemeinen Rezeptionsweisen.

Nach einer recht gängigen Unterscheidung zwischen „alter“ und „Neuer Linker“ gehören die AnarchistInnen des Bürgerkriegs und der Revolution ja noch einer klar proletarisch geprägten Bewegung an, während der Neo-Anarchismus ab den „1968er Jahren“ eher bürgerlich war. Den klassenkämpferischen Inhalten und der selbst unter AnarchistInnen ja recht verbreiteten organisatorischen Disziplin folgten eher subkulturelle Rebellionsmodelle. Dennoch tauchen ja die Inhalte und Symbole der Spanischen Revolution überall auf, auch in unseren Kreisen. Als Subcomandante Marcos, der Sprecher der zapatistischen Bewegung, 1994 über seine Identität sprach, beschrieb er sich unter anderem als „Anarchist in Spanien“. Wir fühlten uns bestätigt in dieser Kontinuität. (8)

Die Platte der Punk-Band Daddy Longleg „Unrest“ (1999) zeigt als Coverbild einen Lautsprecherwagen aus der Revolution. Seht oder saht ihr da auch eher ein Anknüpfen oder auch ein Spannungsverhältnis? Wie äußerte sich das eine oder das andere?

Daniel: Wir beziehen uns auf die Spanische Revolution, weil wir von einer grundlegenden Veränderung der Gesellschaft träumen. Wer mit der Welt, wie sie heute ist, zufrieden ist, tritt das Erbe der Sieger an, und wir sind die Erben der Unterlegenen, die für eine bessere Welt gekämpft haben. „Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten’s besser aus.“

Der Unterschied zwischen uns und den spanischen Proletariern oder den mittelalterlichen Bauern spielt dabei keine Rolle. Warum hat sich der Spartakus-Bund 1918 wohl nach einem römischen Sklaven benannt, der kaum etwas mit dem modernen Kommunismus zu tun hatte?

Baxi: Ich würde sagen, es gibt beides: Anknüpfungspunkte und (gehörig) Spannungsverhältnisse. Einerseits war die Soziale Revolution, die sich in der republikanischen Zone während des Bürgerkriegs bis mindestens 1937 abspielte, so unvollkommen, widersprüchlich und zum Teil blutig sie auch immer gewesen sein mag, ein faszinierendes Experiment radikaler und tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen. Was mich immer besonders fasziniert hat, war die lange, langsame und geduldige Vorbereitung, die vor allem in den zahllosen anarchosyndikalistischen Gewerkschaften auf den revolutionären „Tag X“ geleistet wurde.

Die föderierten Genossinnen und Genossen hatten offenbar keinen Zweifel daran, dass der Tag der Revolution kommen würde, und wollten gut gerüstet sein. Die der CNT angeschlossene Gewerkschaft der Strom-, Gas- und Wasserwerker von Barcelona beispielsweise, mit dem etwas pompösen Namen „Luz y Fuerza“ (‚Licht und Kraft‘), schickte einige ihrer Mitglieder jahrelang auf eigene Rechnung auf internationale Technikmessen und Fachtagungen. Als die Gewerkschaft dann im Juli 1936 die Energieversorgungsbetriebe der Stadt kollektivierte, wussten ihre Mitglieder zum Teil besser über technische Neuerungen Bescheid als die besten Ingenieure der ehemaligen „Mutterfirma“. Die Revolution war für sie keine Phrase, nicht einmal eine Utopie, sondern ein konkretes, umfassendes Lebensprojekt.

Außerdem macht man ja eh einen großen Fehler, wenn man die anarchistische Bewegung Spaniens zur Zeit der 30er Jahre als eine rein proletarische Bewegung versteht. Natürlich war sie vor allem proletarisch, insbesondere in den Gewerkschaften. Aber der Anarchismus war ja weder ideologisch noch was seine kulturelle und politische Praxis anging, auf die Arbeiterschicht beschränkt.

Im Gegenteil: Seine soziale Basis war viel heterogener, als das heute häufig dargestellt wird, mit anerkannten Dichtern wie Gregorio Oliván, der sein Geld als Richter (!) verdiente, oder der anarchistischen gewaltfreien Ärztin Amparo Poch y Gascón, deren Vater in Zaragoza als Offizier arbeitete. Die Befreiung von Herrschaft und Unterdrückung sollte für die gesamte Menschheit gelten, nicht nur für den Teil, der mit Industriearbeit sein Brot verdiente.

Die Versuche vieler Anarchistinnen und Anarchisten, auch ihren Alltag konsequent nach freiheitlichen Prinzipien zu gestalten, haben sicherlich – gemessen am sogenannten „Neo-Anarchismus“ – genauso wenig an Aktualität verloren wie die Schwierigkeiten, denen die Anarchistinnen und Anarchisten bei ihrem Versuch begegneten, eine freiheitliche gesellschaftliche Ordnung Wirklichkeit werden zu lassen und sie, wohl oder übel, zu organisieren.

Aber andererseits reden wir über Spanien während der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, und da war kulturell, politisch und sozial nun wahrlich so einiges anders als heute – in Spanien, Deutschland und Europa. Wer sich zum Beispiel das Verhältnis von Männern und Frauen innerhalb der anarchistischen Bewegung dieser Jahre anschaut, dem wird schnell bewusst, dass es in Spanien sogar noch repressiver zuging als in anderen Ländern Europas zur gleichen Zeit.

Die sexistische (Pseudo)Verwissenschaftlichung der Unterdrückung von Frauen beispielsweise, die der Spätpositivismus Ende des 19. Jahrhunderts bewirkt hatte, galt in Spanien noch bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts als neumodischer Firlefanz oder sogar als Teufelszeug – des großen Einflusses der katholischen Kirche wegen. Man hatte also quasi die Wahl zwischen einem reaktionären und einem noch reaktionäreren Frauenbild. Man sollte daher in der Tat nie vergessen, dass man, wenn man den Blick auf den Spanischen Bürgerkrieg richtet, auf eine andere Zeit schaut, ein anderes Land und eine zum Teil sehr andere Dominanzkultur.

Bewi: Ich glaube, dieser Bruch zwischen „alter“ und „Neuer“ Linke wird überschätzt. Nicht nur die Kultur(en) der AnarchistInnen, sondern überhaupt der ArbeiterInnenbewegung waren immer Subkulturen – oft sogar Parallelgesellschaften – mit absurdesten Auswüchsen.

Wie sich etwa Erich Mühsam über die Bewohner der Kommune in Ascona lustig macht oder wie Hermann Hesse schon früh humoristisch einen Konflikt zwischen einem Vegetarier und einem Veganer darstellt – das passt in den historischen Anarchismus ebenso wie in den sogenannten Neoanarchismus.

Und nur, weil es diesen starken Bezug zur ArbeiterInnenbewegung gab – bzw. der Anarchismus m.E. nur eine Strömung der historischen ArbeiterInnenbewegung war und ist – heißt das nicht, dass es dort keine bürgerlichen Elemente gab. Die historische Arbeiterbewegung war in allen ihren Facetten oft sehr bürgerlich – auch personell, die meisten deutschen SozialdemokratInnen im ausgehenden 19. Jahrhundert waren etwa Lehrer.

So wie der Neoanarchismus mit Rock’n’Roll, Punk, Hardcore oder Hip-Hop z.B. musikalische Nischen gefunden hat, so gab es auch historisch eine eigene musikalische Kultur. Namentlich möchte ich Joe Hill nennen, der ja auch Karikaturist war und sich selber am Klavier in einer Zeichnung für den „Industrial Worker“ um 1910 als „Punk“ bezeichnet hat – im damaligen Wortsinne natürlich, für das amerikanische Bürgertum war er eben „Abschaum“ – aber in dem Sinne haben ja auch die Punks der 1970er den Begriff für sich verwendet.

Das alles gilt auch für Spanien – es gab etwa eine große vegetarische Bewegung innerhalb der CNT und der FAI.

Ich finde das deswegen relevant, weil es immer mal wieder ein paar anarchistische Fundis gibt, die sagen: Hört auf mit euren albernen Gender-, Veganismus- oder sonst was für Debatten und nehmt euch die KämpferInnen in Spanien zum Vorbild, die hatten Besseres zu tun. Hatten sie eben nicht: Sie haben – zeitgenössisch natürlich – genau dieselben Debatten geführt und dabei auch dieselben Spaltungen produziert.

Petz: In den 1990er Jahren gab es an der – oder viel mehr neben – der Uni Münster so genannte Studiengruppen, autonome Seminare, in denen sich Leute zusammenfanden, um bestimmte Themen und Inhalte zu diskutieren, die sie im offiziellen Lehrplan vermissten. Ich habe damals ein paar Semester lang das Studiengruppenverzeichnis mitgestaltet. Auf einem Cover verwendete ich ein Foto von lesenden RevolutionärInnen in einem ateneo libertario, einem der vielen libertären Kulturvereine aus der Spanischen Revolution.

Die Kontinuität wurde also auch hergestellt.

Obwohl ich der Unterscheidung zwischen alter und „Neuer“ Linker schon einiges abgewinnen kann, gründet meine Spanien 36-Begeisterung paradoxer Weise doch stark in einem Punkt, der quer dazu liegt – und damit eher Bewis These bestätigt.

Bei Enzensbergers Schilderung von Durruti hat mich nämlich weniger der Klassenstandpunkt als vielmehr die moralische Integrität fasziniert, mit der das Politische als Angelegenheit begriffen wurde, die alle Lebensbereiche umfasst. Damit meine ich die Haltung, dass die revolutionäre Praxis nicht nur bedeutet, die ökonomischen Verhältnisse umzuwälzen und/ oder den Staat zu zerschlagen, sondern weit darüber hinaus letztlich alle Handlungen des Alltags betrifft. Bei Gustav Landauer hatte ich schon vom „Sozialistischen Beginnen“ gelesen, und diese Unmittelbarkeit begegnete mir bei den Schilderungen aus der Spanischen Revolution wieder.

Als Haltung oder Anspruch war mir diese Weigerung, verändernde Praxis zu delegieren (an die Partei und ganz allgemein an die Zukunft), sympathischer als alles, was ich damals von marxistischer oder gar kommunistischer Seite zu lesen und zu sehen bekam.

Die Leute verabschieden sich von einem Tag auf den anderen mit „Saludos“ („Grüße“) statt „Adios“, weil sie mit Gott (dios) und der Religion nichts mehr zu tun haben wollen. Das hat mich begeistert. Auch in George Orwells Buch „Mein Katalonien“ habe ich die Begeisterung für dieses Alltagshandeln dann wieder gefunden.

Bernd: Ich denke, es gibt da sowohl ein Anknüpfen als auch ein Spannungsverhältnis. Insbesondere Baxi hat ja in der GWR die Schattenseiten der Spanischen Revolution nachgezeichnet und auch die nicht zuletzt von Abel Paz verharmlosend als „Zurückschießen“ dargestellten Morde an Mitgliedern des Klerus als Propaganda aufgedeckt.

Der US-amerikanische Historiker Michael Seidman hat in seinem Buch „Gegen die Arbeit“ (9) u.a. das Verhalten der spanischen ArbeiterInnen in den kollektivierten Fabriken und ihre Reaktionen auf die veränderten Machtverhältnisse am Arbeitsplatz analysiert. Er kommt zu dem ernüchternden Ergebnis, dass die Spanische Revolution am anhaltenden Widerstand der ArbeiterInnen gegen die Arbeit gescheitert sei.

Meine in der Jugend eher naive, glorifizierende Sicht auf die Spanische Revolution ist im Laufe der Jahre einer vielleicht realistischeren Betrachtung gewichen. Dazu hat auch Simone Weil beigetragen. Sie hat auf der Seite der AnarchistInnen am Spanischen Bürgerkrieg und an der Sozialen Revolution teilgenommen. Die Erlebnisse, die sie in Spanien 1936 gemacht hat, führten sie zu Kritik an revolutionärer Gewaltanwendung, die im französischen anarchistischen Milieu noch lange nach ihrem Tod und bis heute diskutiert wird. (10)

Ein Anknüpfen an Spanien 36 ist mit dem heutigen Wissen schwieriger und sollte differenzierter sein. Trotzdem bleibt der kurze Sommer der Anarchie 1936 ein wichtiger Bezugspunkt. Aber wir sollten die Geschehnisse nicht verklären, sondern die Gewalt kritisieren, die Verbrechen, die auch AnarchistInnen begangen haben, benennen, um aus diesen Fehlern zu lernen, um perspektivisch eine gewaltfreie, soziale Revolution denkbar zu machen.

Natürlich gibt es immer auch anarchische Subkulturen (wie Hippies und Punks), die prägend auf den Anarchismus wirken. Ich war vom 15. Lebensjahr an Langhaariger. Mich haben in der Jugend u.a. auch Anarcho-Bands wie Ton Steine Scherben und Cochise geprägt.

Den 1994 aufgekommenen Neo-Zapatismus in Mexiko finde ich interessant, habe mich aber nie in einer zapatistischen Gruppe engagiert. Alles, was ich über den Zapatismus weiß, stammt vom Hörensagen und Lesen, in Mexiko war ich nie. Prägende Erlebnisse hatte ich dagegen u.a. 1993 im türkisch-kurdischen Kriegsgebiet. (11)

(1) Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1977, S. 13.

(2) Was sich u.a. noch eruieren ließ aus Prä-Internet-Zeiten: Am 20.10.1999 haben wir in unserer Veranstaltungsreihe den Dokumentarfilm "Die Utopie leben. Der Anarchismus in Spanien" (Juan Gamero, 1997) gezeigt, am 4.7.2001 gab es eine Infoveranstaltung anlässlich des 65. Jahrestages der Revolution.

(3) Was ist eigentlich Anarchie? Einführung in die Theorie und Geschichte des Anarchismus. Karin Kramer Verlag, Berlin 1985

(4) Horst Stowasser: Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten. Karin Kramer Verlag, Berlin 1986

(5) Helmut Kirschey: A las Barricadas. Erinnerungen und Einsichten eines Antifaschisten. Aufgeschrieben von Richard Jändel. Hg.: Andreas G. Graf & Dieter Nelles. Achterland Verlagscompagnie, Bocholt/ Bredevoort 2000

(6) Siehe: Helmut Kirschey und die Spanische Revolution. Ein Leben gegen den Faschismus, Artikel von Bernd Drücke, in: GWR 314, Dez. 2006, www.graswurzel.net/314/kirschey.shtml

(7) Siehe dazu: "Der Anarchismus wird nie sterben". Interview mit dem Anarchisten, Durruti-Biographen und Spanienkämpfer Abel Paz (83), von B. Drücke, in: GWR 291, Sommer 2004, www.graswurzel.net/291/paz.shtml ; Bernd Drücke, Luz Kerkeling, Martin Baxmeyer (Hg.): Abel Paz und die Spanische Revolution, Edition AV, Lich 2004

(8) Im Postskriptum zum Kommuniqué vom 31.5.1994 heißt es: "Mehrheit, die sich als nicht tolerierte Minderheit verkleidet. In Bezug auf all das Gerede, ob Marcos schwul ist: Marcos ist ein Schwuler in San Francisco, Schwarzer in Südafrika, Asiat in Europa, Chicano in San Isidro, Anarchist in Spanien, Palästinenser in Israel, Indígena in den Straßen von San Cristóbal, Kinderbande in Nezahualcoyotl, Rocker in Ciudad Universitaria, Jude in Deutschland, Feministin in politischen Parteien, Kommunist in der Zeit nach dem Kalten Krieg, Gefangener in Cintalapa, Pazifist in Bosnien, Mapuche in den Anden, Lehrer in der CNTE, Künstler ohne Galerie noch Aufträge, Hausfrau an einem Samstagabend in irgendeinem Viertel irgendeiner Stadt irgendeines Mexikos, Guerillero im Mexiko des ausgehenden 20. Jahrhunderts, Streikender in der CTM, Journalist von Fülltexten für die Inlandsseite, Macho in der feministischen Bewegung, Frau, die alleine um zehn Uhr nachts in der Metro ist, Rentner als Wachposten auf dem Zócalo, Bauer ohne Land, verarmter Verleger, arbeitsloser Arbeiter, Mediziner ohne Arbeitsplatz, unzufriedener Student, Dissident im Neoliberalismus, Schriftsteller ohne Bücher und Leser - und ist sicherlich Zapatist im Südosten Mexikos. Letztendlich ist Marcos irgendein Mensch in dieser Welt. Marcos sind all die nicht tolerierten, unterdrückten Minderheiten, die nicht aufgeben, die explodierend Ya Basta schreien. All die, die in dem Moment Minderheit sind, wenn es darum geht, zu sprechen, und Mehrheit, wenn es darum geht, zu schweigen und zu ertragen. All die Nicht-Tolerierten, die nach Worten suchen, ihren Worten, die diese ewigen Fragmente zur Mehrheit machen, wir. Alles, was der Macht und den guten Gewissen unbequem ist, ist Marcos." Zit. n. Topitas: "Editorial". In: dies. (Hg.): ¡Ya Basta! Der Aufstand der Zapatistas. Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg, S. 7-9, hier S. 8

(9) Michael Seidman: Gegen die Arbeit. Über die Arbeiterkämpfe in Barcelona und Paris 1936-38. Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2011

(10) Siehe: Charles Jacquier (Hg.) Lebenserfahrung und Geistesarbeit. Simone Weil & der Anarchismus, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2007

(11) vgl.: Bîjî Azadî!, Freiheit für Kurdistan! Infogruppe Bankrott, Münster 1993 ; Bernd Drücke: Serxwebûn! Gesellschaft, Kultur und Geschichte Kurdistans. Edition Blackbox, Bielefeld 1998

Die Fortsetzung dieses Interviews erscheint im September 2016 in der GWR 411.