grenzenlos

Der Genozid an den Armeniern und die Mitschuld des deutschen Kaiserreichs

Ein Interview mit Garo Paylan, Parlamentsabgeordneter der linken, pro-kurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker), zur Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages (19.6.2016)

| Interview: Alp Kayserilioğlu, 8. Juli 2016

Graswurzelrevolution: Der deutsche Bundestag hat am 2. Juni 2016 fast einstimmig die sogenannte Armenien-Resolution verabschiedet, in der die „fast vollständige Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich“ beklagt wird. Wie bewerten Sie dieses Ereignis?

Garo Paylan: Der Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich ab 1915 wurde in vielen Parlamenten der Welt als solcher anerkannt, aber niemals versetzte mich das in Aufregung, denn die jeweiligen Beschlüsse wurden aus realpolitischen Erwägungen verabschiedet. Die Entscheidung des deutschen Bundestages ist anders, denn hier geht es zu einem Großteil um die Mitschuld des deutschen Kaiserreichs beim Genozid. Zusätzlich wird die türkische Seite dazu aufgefordert, sich mit diesem Teil ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Nach dem deutschen Bundestag gibt es legitimerweise nur mehr ein Parlament auf dieser Erde, das den Genozid anerkennen muss, und das ist das türkische. Aber die Türkei geht gerade leider erneut durch eine dunkle Periode.

GWR: Wie genau sieht das mit der deutschen Mitschuld und der Armenien-Resolution aus? Mir scheint mehr die Klage im Vordergrund zu stehen, dass das Kaiserreich den Genozid nicht verhindert hat. Auf das organische Bündnis vom deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich und dass zum Beispiel der damalige Reichskanzler Bethmann Hollweg die Vernichtung der Armenier bewusst in Kauf genommen hat, um die Türkei an seiner Seite zu behalten, wird eigentlich nicht wirklich eingegangen.

Garo Paylan: Ich würde sagen, dass ein wichtiger Anfang gemacht wurde. Von großer Bedeutung ist hierbei, dass das Thema in die Lehrbücher aufgenommen wird. Bei meinen bisherigen Aufenthalten und Erfahrungen in Deutschland hatte ich den Eindruck, dass sich die deutsche Gesellschaft nicht für den Genozid an den Armeniern und auch nicht wirklich für den Ersten Weltkrieg interessierte und dass es nur um die Auseinandersetzung mit dem Holocaust ging. Vielleicht wird die Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern zu einer erneuten Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg und der Rolle, Haltung und Verbrechen der damaligen deutschen Regierung führen. Deshalb finde ich die Formulierung der Armenien-Resolution fürs Erste ausreichend, aber wir werden natürlich alle die weiteren Entwicklungen verfolgen.

GWR: Denken Sie, dass es einen realpolitischen Grund dafür gibt, dass die Resolution jetzt, im Jahre 2016 akzeptiert wurde? Bisher wurden ähnliche Resolutionen, zum Beispiel diejenige im Jahre 2015, vom selben Bundestag abgelehnt.

Garo Paylan: Ja, natürlich. Merkels Politik führt zu Unmut in der deutschen Gesellschaft und den versucht sie jetzt mit dem Unmut über die Diktatur Erdoğans zu verknüpfen und von ihr selbst und ihrer Politik abzulenken. Hier wird zu verstehen gegeben: „Ja, wir haben einige Zugeständnisse an die Türkei gemacht, setzen uns aber auch mit ihr auseinander.“

Natürlich hätte diese Resolution auch 2015, 100 Jahre nach dem Beginn des Genozids angenommen werden können. Aber überall auf der Welt verging dieses 100. Jahr ruhig, weil man damals der Meinung war die Türkei befände sich an einem sehr kritischen Punkt und es stünde zu viel auf dem Spiel in Syrien. Es war eben das 101. Jahr, in dem die realpolitischen Umstände es Deutschland erlaubten, eine solche Resolution zu verabschieden.

Keine Frage gibt es aber auch viele nicht realpolitisch motivierte Momente in dieser Resolution. Viele deutsche ParlamentarierInnen haben seit Jahren im vollen Ernst für eine solche Resolution gekämpft und nun sind endlich auch die Systemparteien dazu gekommen, die Ergebnisse jener Anstrengungen zu akzeptieren.

GWR: Die Reaktionen in der Türkei auf die Resolution fielen sehr harsch aus. Die Bandbreite reichte von „Deutschland soll sich mit der Vernichtung der Herero und Nama beschäftigen“ bis hin zu „War Hitler etwa Türke?“. Wie schätzen sie diese Reaktionen ein? Und was halten sie von dem, insbesondere von Präsident Erdoğan, wiederholt vorgebrachten Vorschlag der Errichtung einer Historikerkommission, die das endgültige Urteil über die Vorgänge in den Jahren 1915 bis 1916 fällen soll?

Garo Paylan: Ich bin 43 Jahre alt und habe die Geschichte dessen, was damals geschehen ist, von meiner Großmutter väterlicherseits gehört, die den Völkermord miterlebt und dabei alle ihre Angehörigen verloren hat. Sie war meine Quelle, was die Ereignisse von damals angeht. Welcher Historiker soll mir denn diese Quelle widerlegen können? Es leben noch immer Menschen, die den Völkermord überlebt haben, und vieles wird weiterhin mündlich überliefert. Die Ereignisse von damals sind eine große Katastrophe, die nicht zu einem Spielzeug für irgendwelche Historiker degradiert werden sollte. In der Türkei wird seit Jahren versucht, sich mit irgendwelchen Ausreden um die Sache zu drücken, während die ganze Welt die Geschehnisse von damals als Völkermord begreift. Und das wird dann wiederum vom türkischen Nationalismus dahingehend instrumentalisiert, um zu wiederholen, dass die ganze Welt gegen die Türkei sei. Und wenn man sich die gegen ArmenierInnen gerichteten Hassbotschaften an den Wänden der Straßen von Cizre und Silopi anschaut, die die Sicherheitskräfte dort während den militärischen Auseinandersetzungen hinterließen, sieht man, dass der Völkermord an den Armeniern auch im derzeitigen Krieg seitens des türkischen Nationalismus instrumentalisiert wird. Ein Umgang, der nun seit über 100 Jahren Tradition ist.

Interview: Alp Kayserilioğlu, 8. Juli 2016