Die Gruppe "Alpine Anarchist Productions" (AAP) hat ein Papier mit 23 Thesen (1) veröffentlicht, das auf "nicht weniger als eine Punkt-für-Punkt Bewertung der anarchistischen Bewegung und ihres politischen Potentials" abzielt. (2)
Die Thesen beinhalten sowohl wichtige Anregungen als auch problematische Punkte und sollen im Folgenden diskutiert werden.
Die Hauptstoßrichtung des Thesenpapiers ist eine begrüßenswerte Kritik an der postmodernen Beliebigkeit, die sich in Teilen der anarchistischen Bewegung durchgesetzt hat.
In der Einleitung zu ihren Thesen schickt die AAP das Eingeständnis vorweg, dass Begriffe niemals den Kern einer Sache vollständig erfassen können. Trotzdem sei es falsch zu behaupten, Definitionen seien per se ein autoritäres Gedankengefängnis. Es sei unter verschiedenen Gesichtspunkten wichtig, grob zu definieren, was den Anarchismus ausmache und sich nicht mit der Behauptung, den Anarchismus gebe es nicht, gegen Kritik zu immunisieren. Zum einen ist es unvermeidlich, dass Begriffe auf irgendeine Art besetzt werden, da ist es besser, das selbst zu tun, als es den Diffamierungen der Gegenseite zu überlassen, mit denen wir Anarchist_innen ja genügend Erfahrungen gemacht haben. Zum anderen ist ein gemeinsamer Name, der mit einer bestimmten Bedeutung gefüllt ist, eine der Bedingungen dafür, eine solidarische gemeinsame Bewegung aufzubauen. „Es hätte nie eine ‚kommunistische Bedrohung‘ gegeben, wenn es keinen Namen für sie gegeben hätte“, heißt es in der zwölften These. Es gebe viele Gründe dafür, den Titel „Anarchist_in“ selbstbewusst zu tragen, führt die AAP weiter aus und führt eine ganze Liste von Vorzügen an, die die anarchistische Theorie gegenüber dem klassischen Marxismus aufzuweisen hat. Allen voran ist das der differenzierte Begriff von Herrschaft, der weit besser für eine radikale Gesellschaftskritik geeignet ist als der marxistische Ökonomismus.
„Grenzen des Anarchismus“
Im krassen Kontrast zu dieser Forderung nach einem selbstbewussten Auftreten als Anarchist_innen steht die spätere Aufforderung, „die Grenzen anarchistischer Politiken“ anzuerkennen. „Je nach den Zielen eines spezifischen Kampfes“, schreibt die AAP in These 16, „können sozialdemokratische oder leninistische Ansätze sinnvoller sein.“
So dürften sich Anarchist_innen ruhigen Gewissens zu „Unterstützungstruppen für sozialdemokratische Bemühungen“ machen lassen oder maoistische Bauernarmeen in Indien (3) unterstützen. An diesem Punkt möchte man den Genoss_innen von der AAP am liebsten ihre eigenen Erbauungsthesen vorlesen.
Haben wir es wirklich nötig, unsere zentralen Anliegen derart zurückzustecken?
Was bleibt von der distinktiven Schönheit des Anarchismus übrig, wenn wir uns zum Karrieresprungbrett für sozialdemokratische Politiker_innen oder zu Verteidiger_innen eines auf Terror beruhenden Bauernstaates machen lassen? Bündnispolitik wird von zentraler Bedeutung sein, aber, wie die AAP in ihrer 20. These selbst schreibt, müssen wir uns genau überlegen, inwieweit wir uns Organisationen unterordnen, von denen wir wissen, dass ihre Strukturen für den Aufbau einer befreiten Gesellschaft ungeeignet sind.
Als größte Schwäche des Anarchismus identifiziert die AAP die Abwesenheit eines klaren Revolutionskonzeptes oder irgendeiner positiven Vision für die Zukunft. Das Entwickeln einer klaren Strategie werde unter Anarchist_innen oft als autoritärer Masterplan verschrien, was jedoch nicht notwendigerweise zutreffe. „Anarchist_innen müssen ehrlich sein. Entweder müssen sie zugeben, dass sie Reformist_innen mit einer radikalen Rhetorik sind (was nicht schlimm wäre, wenn es explizit gemacht würde), oder sie müssen daran arbeiten, tatsächlich eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln. Radikale Posen und eine Ablehnung ‚reformistischer‘ / ‚liberaler‘ / ‚moderater‘ Politiken sind peinlich, wenn die eigenen Politiken keinen Deut revolutionärer sind als diejenigen von NGOs, Kirchengruppen oder Wohlfahrtsorganisationen.“ Leider belässt es die AAP jedoch bei diesem Appell und skizziert selbst auch keine revolutionäre Perspektive, was die Herausforderung, die ein solches Vorhaben darstellt, noch einmal verdeutlicht. Zumindest aber wird die Notwendigkeit der Organisierung betont. Der Anarchismus sei momentan vor allem eine Subkultur, was die AAP nicht grundsätzlich ablehnt, sie betont aber, dass für einen tatsächlichen politischen Wandel größere Organisationszusammenhänge unumgänglich seien. Diese müssten Spalterei vermeiden, sich jenseits des Szene-Codes bewegen und in einer allgemein verständlichen Sprache Themen ansprechen, die auch über Szene-Grenzen hinweg relevant sind.
Gegen die Organisationsphobie
Die größte Stärke des Thesenpapiers der AAP ist wohl, dass sie diesen wichtigen Punkt in aller Klarheit formuliert und so offen gegen die weit verbreitete anarchistische Organisationsphobie vorgeht. Die Thesen klingen jedoch so, als gäbe es keinerlei derartige Organisationen, was natürlich falsch ist.
Hier wäre eine Bestandsaufnahme zu den Stärken und Schwächen der bestehenden anarchistischen Föderationen interessanter gewesen als allgemeine Postulate. Vor allem, weil die folgende Ausformulierungen, wie die AAP sich eine anarchistische Organisation vorstellt, nur wenig überzeugend sind. So rückt die AAP in These 13 und 14 die „individuellen Qualitäten“ der Organisationsmitglieder in den Vordergrund. Sie setzt die Ablehnung einer Organisationshierarchie gleich mit der Forderung, dass moralische Werte der Mitglieder, wie Zuverlässigkeit und Verantwortungsbewusstsein die einzige Verpflichtung sein dürften.
Damit widerspricht die AAP ihrem eigenen Postulat, dass Moral nicht das ausschlaggebende Kriterium für revolutionäre Politik sein dürfe. Vor allem aber macht ein solches individualistisch-moralistisches Konzept alle Vorteile der Organisierung zugleich wieder zunichte. Eine Organisation, deren einzige Richtlinien die „Werte“ der einzelnen Mitglieder sind, ist keine Organisation. Das Wesen der Organisation besteht gerade darin, dass sie Regeln aufstellt, die für alle Mitglieder gültig und transparent sind, so dass Entscheidungen gerade nicht von der moralischen Integrität der einzelnen Mitglieder abhängen. Genau darin besteht auch der Vorteil der Organisation: Ihre Regeln bleiben bestehen, auch wenn die Werte der einzelnen Mitglieder ins Wanken geraten, ihre Strukturen überleben, auch wenn die einzelnen Mitglieder ausscheiden.
Was eine anarchistische Organisation benötigt, sind „herrschaftsfreie Institutionen“ (4), denn es sind gerade die gemeinsam gefundenen, klar benannten Regeln, die die Herausbildung von Herrschaft unterbinden und keineswegs deren Abwesenheit.
Damit ließe sich auch das Problem der „Führerschaft“ angehen. Dazu schreibt die AAP in der 18. These nur, dass es „in sozialen Gruppen immer Führer gibt, egal ob man sie beim Namen nennt oder nicht“.
Das müsse „diskutiert“ und „anerkannt“ werden. Meine Gegenthese ist, dass dieses Problem nicht einfach „diskutiert“ und schon gar nicht „anerkannt“ werden muss, sondern stattdessen klare Regeln aufgestellt werden müssen, die das Herausbilden einer solchen Führerschaft unterbinden. Für eine derartige institutionalisierte Herrschaftsfreiheit gibt es zahllose mehr oder weniger gut funktionierende Beispiele. Die wichtigsten Elemente dürften jedoch klare, gebundene Mandate und das Rotationsprinzip sein.
Technik als Kampffeld
In ihrer achten These postuliert die AAP, dass „Technologiekritik ein Teil jeder revolutionären Bewegung sein muss“. Als Begründung dafür führt sie an, dass Technologie Menschen abhängig und einen komplexen gesellschaftlichen Organisationsgrad nötig mache, der auf Graswurzelebene unmöglich aufrecht zu erhalten sei. Deshalb müssten „Rationalismus und Wissenschaft hinterfragt“ und der „Fokus auf kleine Gemeinschaften gelegt werden“. Als Beleg dafür führen die alpinen Anarchist_innen die Schriften von Paul Feyerabend und Murray Bookchin an, die sie für Vorreiter der Technikkritik halten. Diese Gleichsetzung des Anarchismus mit Technikkritik und „kleinen Gemeinschaften“ ist in mehrerlei Hinsicht problematisch.
Erstens ist es falsch, Technik auf ihre herrschaftsstabilisierende Funktion zu reduzieren. Dieser Punkt ist auch das zentrale Anliegen von Bookchins Schriften zur Technologie, weshalb es abwegig erscheint, ihn zum Komplizen einer „Technikkritik“ zu machen. So kritisiert Bookchin heftig den unter Anarchist_innen verbreiteten Glauben, dass Technik „ein Dämon sei, beseelt mit einem finsteren Eigenleben, mit dem Ziel, die Menschheit zu mechanisieren oder gar auszulöschen“. (5)
Stattdessen müsste die Technik sowohl in ihrem Potential zu Ausweitung von Herrschaft als auch zur Emanzipation ernst genommen werden. Der technische Fortschritt im Kapitalismus sei die Bedingung für eine zukünftige befreite Gesellschaft, da eine Verallgemeinerung der Güterknappheit auch unter kommunistischen Vorzeichen zu einem Krieg nach dem Prinzip jeder gegen jeden führen werde. Stattdessen schwebt Bookchin ein „Post-Knappheits-Anarchismus“ vor, in dem durch eine hohe Entwicklung der Produktionsmittel menschliche Arbeit auf ein Minimum reduziert wird.
Eine solche hochentwickelte Gesellschaft erfordert in der Tat eine komplexe soziale Organisation – es gibt jedoch keinen vernünftigen Grund dafür, warum eine solche unter anarchistischen Vorzeichen nicht möglich sein sollte. So ermöglichen gerade die Informations- und Kommunikationstechnologien eine globale Vernetzung, die es erlaubt, auch komplexe Problemstellungen basisdemokratisch zu lösen. Nur durch eine globale Vernetzung spezialisierter Produktion wird es möglich sein, einen attraktiven Lebensstandard aufrechtzuerhalten, in dem das Leben nicht größtenteils der Arbeit für die Befriedigung materieller Grundbedürfnisse geopfert werden muss. Dass die Vision autarker Kleinstgemeinschaften jemals über eine winzige Minderheit hinaus zu einer wünschenswerten Utopie werden wird, ist dagegen aufgrund ihres latenten Primitivismus unwahrscheinlich. Und das ist auch gut so, weil sie im Grunde nur denen ein gutes Leben bieten kann, die nicht auf die Hilfe der Wissenschaft und Technik, z. B. der Medizin, angewiesen sind.
Die Ablehnung von Technik ist also sowohl sachlich als auch strategisch falsch. Sachlich, weil sich ohne weiteres zeigen lässt, dass nicht jede Technologie den Zweck der Unterjochung der Menschheit verfolgt. Strategisch, weil sich kaum je eine Mehrheit der Menschheit davon überzeugen lassen wird, in primitiven Kleinstgemeinschaften zu leben. Das Ziel aller Anarchist_innen sollte stattdessen sein, die technologischen Errungenschaften des Kapitalismus so umzufunktionieren, dass sie dem Nutzen aller statt dem Profit einer Minderheit dienen.
Wer dann immer noch lieber im Baumhaus leben will, den wird wohl niemand daran hindern, solange er_sie den anderen ihre Computer lässt.
Natürlich ist Technik nicht notwendigerweise befreiend, genauso wenig wie sie notwendigerweise herrschaftsförmig ist. Stattdessen ist Technologie ein Feld gesellschaftlicher Machtkämpfe, in dem es, genau wie in anderen Feldern, darum geht, um Lösungen zu ringen, die der Menschheit und dem Rest des Planeten Nutzen bringen, anstatt sie auszubeuten.
Das Thesenpapier der AAP ist ein wichtiger Schritt zu einer anarchistischen Diskussion über Strategien und Zukunftsvisionen. Es sind solche strömungsübergreifenden Verständigungsversuche, die die Grundlage für eine Entwicklung des Anarchismus von der Subkultur zur schlagkräftigen globalen Bewegung liefern. Was dem Anarchismus aber fehlt, ist keine Technikkritik und auch keine Rückbesinnung auf individuelle Werte, sondern der Mut, in großen Kategorien zu denken.
(1) www.alpineanarchist.org/r_twenty-three_theses.html abgerufen am 12.5.2016, der Originaltext liegt auf Englisch vor, alle Übersetzungen erfolgten durch P.M. ; Nachtrag d. GWR-Red., 24.8.2016: Die deutsche Übersetzung des AAP-Textes erscheint demnächst als Black-Mosquito-Broschüre und ist jetzt auch online: www.alpineanarchist.org/r_23_thesen.html
(2) www.alpineanarchist.org/r_about.html abgerufen am 12.5.2016
(3) Damit bezieht sich die AAP offenbar auf die Naxalit_innen, die in Indien mit großer Brutalität für die "Vernichtung des Klassenfeindes" und den Aufbau eines Parallelstaates nach maoistischem Modell kämpfen.
(4) Siehe hierzu das empfehlenswerte Buch von Rüdiger Haude und Thomas Wagner: "Herrschaftsfreie Institutionen. Studien zur Logik ihrer Symbolisierungen und zur Logik ihrer theoretischen Leugnung.", Nomos Verlag 1999.
(5) Murray Bookchin: Towards a Liberatory Technology. In: ders.: Post-Scarcyity-Anarchism. 1986, Montreal: Black Rose, S. 108