es wird ein lächeln sein

Hut ab, compañer@s

Ein Rückblick auf das Anarchistische Sommercamp 2016

| Elmore Y.

Rund 240 Personen folgten dem Aufruf zum Anarchistischen Sommercamp 2016, das vom 12. bis 21. August auf dem sanft-hügeligen Gelände eines Bauernhofs nahe der niederösterreichischen Kleinstadt Haag zwischen Linz und Wien stattfand.

Nicht allein aufgrund der TeilnehmerInnenzahl kann das Camp als Erfolg gelten, auch die Durchführung verlief nach allem, was ich beobachten konnte, reibungslos und geschmeidig, ja harmonisch. Zwar nicht Love, Peace and Happiness – so etwas kann man kaum planen – aber respektvoll und diszipliniert, anregend und entspannend, ja erholsam.

Es waren überwiegend junge Leute im Alter zwischen 18 und 30 Jahren aus dem deutschsprachigen Raum angereist, aber auch Menschen aus England, Frankreich, Finnland und osteuropäischen Staaten, sogar aus Georgien und Mazedonien. Es kamen auch ein paar handvoll Kindern samt Eltern.

Vormittags wie nachmittags fanden beeindruckend viele, gut besuchte Workshops auf dem weitläufigen Gelände des stilvoll ausgebauten Böllerhofes statt, der im Alltag der Region als beliebter Veranstaltungsort für Konzerte und Ausflugsziel für jung und alt etabliert ist. Das Wetter war sonnig, was ebenso zur friedlichen, gemütlichen, fast schon idyllischen Atmosphäre beitrug, wie die harte Arbeit des autonomen Kochkollektivs Retroduktion aus Bremgarten, Schweiz, welches von GenossInnen der befreundeten cocina perdida aus Brno, Tschechien verstärkt wurde. Auch funktionierten die freiwilligen Putz-, Spül- und Hilfsdienste einigermaßen gut. Die Köchinnen und Köche schufteten zwölf Stunden am Tag, lieferten morgens, mittags und abends vegane Speisen, die weit über dem kulinarischen Niveau jener Volxküchen-Pampe lagen, die wir uns noch Ende der 1980er Jahre angetan haben (Reis mit Scheiß). Hut ab, compañer@s!

 

Was es zum Glück nicht gab

Kurz vorab verschickten die OrganisatorInnen Emails, die besagten, dass die „Awareness Gruppe“ (eine Art selbstorganisierter Mediations-Wachschutz, der in vielen „autonomen Strukturen“ mittlerweile zum Standard gehört) noch dringend personelle Verstärkung bräuchte. Ob sich hinter der libertären Fassade womöglich doch wieder ein verkapptes autonomes Szene-Selbstzerfleischungs-Lager verbergen könnte? Wer das No Border Camp 2012 in Köln erlebt hat, weiß wovon ich rede: Eine Insider-Veranstaltung mit rigider Gruppenmoral, die über tägliche Plena und individuelle Maßregelungen durch (weibliche) Big Chiefs und ihre Peer Groups durchgesetzt wurde und gestresste, verdatterte bis geschockte BesucherInnen in den Alltag entließ. (1)

Doch von solchen Exzessen war beim Anarchistischen Sommercamp kaum eine Spur.

Mit einer Ausnahme vielleicht: Einzelne AktivistInnen starteten den Versuch, eine Fatwa gegen das öffentliche T-Shirt-Ausziehen von Männern durchzusetzen, wie es in machen autonomen „Freiräumen“ in Deutschland inzwischen Usus ist. Hier soll neuerdings nicht die weiße Hautfarbe, sondern eine konstruierte oder behauptete oder gefühlte Geschlechter-Identität Einzelner offenbar als Hebel einer szene-internen Bewusstseinserweiterung fungieren. (2)

Zwar wurde das T-Shirt-Auszieh-Verbot in den ersten Tagen breit in einen Plenum sowie Aushängen thematisiert, aber es entwickelte keineswegs die (erhoffte) Gruppendynamik bzw. -hysterie. Den Meisten ging diese Art von Kontroll-, Verbots- und Moralpolitik doch am Arsch vorbei. Es gab kritische bis zynische Kommentare („Sollen wir auch unser Kopfhaar bedecken?“). In den letzten Tagen wurden gar junge Frauen beim Oben-Ohne-Baden im neben dem Camp gelegenen Tümpel gesichtet.

Dass solche Dinge im Jahr 2016 immer noch erwähnenswert erscheinen, zeigt allerdings, welche Irrwege zwischen „sexueller Befreiung“ und Prüderie die transatlantische links-alternative Subkultur seit den NudistInnen der Weimarer Zeit und seit den Hippies aus Woodstock 1967 beschritten, welche Zirkelschlüsse sie vollzogen hat.

Und es scheint mir für die Zukunft wichtig, eine grundsätzliche Trennungslinie zwischen libertärer, proletarischer Kultur und jener Spießbürgermoral zu finden, die sich ausgehend von akademischen Moden selbst als revolutionär überhöht, aber bei näherer Betrachtung doch nur der Abgrenzung und hierarchischen Ausdifferenzierung dient – zwischen denen, die den richtigen Habitus drauf haben, und denen, die „es noch lernen müssen“. Oder die, wie die meisten Prolet*innen, keinen Bock auf sowas haben und tunlichst die Biege machen (sollen). (3)

Doch genug davon.

Was es alles gab

Die Freude, sich weiter zu bilden, zu üben, zu diskutieren und zu lernen, war ansteckend und macht Hoffnung. Sie bildete den wahren anarchistischen Kern der ganzen Veranstaltung, denn hier wurde die Trennung zwischen ExpertInnen und TeilnehmerInnen beständig aufgehoben. Viele, die etwas konnten, fühlten sich animiert, ihr Wissen in kleinen oder auch größeren Runden weiter zu geben; die ReferentInnen waren an anderer Stelle selbst TeilnehmerInnen der Workshops anderer. Das Spektrum war sehr weit.

Sie reichte von „harten“ politischen Themen wie „Antisemitismus – Chancen und Grenzen der Aufklärung“, Informationen über die rechtsextreme „identitäre Bewegung“ aus Österreich und Deutschland, das größte Knast-Bauwerk Belgiens namens MAXI-Prison bei Brüssel, eine Selbstdarstellung des anti-autoritären Netzwerks Beyond Europe (jenseits von Europa) bis zu einem ganzen Antifa-Tag, der von der Autonomen Antifa Wien gestaltet wurde. Und das sind nur Ausschnitte.

Es gab praktische Workshops zu Formen der Sabotage im Alltag (gegen Fahrkartenautomaten, Werbung und Gen-Plantagen), Einführungen in zahlreiche Kampfsportarten oder andere körperliche oder gymnastische Bewegungsformen (Tai Chi, Krafttraining ohne Gewichte); die Clown Army Wien vermittelte in drei Tagen das Basiswissen, um Mitglied der „klandestinen Aufstandsarmee der Clowns“ zu werden. Weiter ging es um „Bildungsklotzerei“ – Zorn über das Bildungswesen, die Schulen und Unis, auch zunächst vielleicht abseitig erscheinende Themen wie die Classwar Games (strategische Kriegsspiele) des Situationisten Guy Debord. Ferner lyrische Schreibübungen oder eine Kräuterwanderung zu essbaren Waldpflanzen, Kräuter-Tee-Tasting, Müll-Recycling. Das alternative bäuerliche Kommune-Projekt Ganz viel Land, das seit 2015 Äcker bei Berlin besitzt, stellte sich vor.

Hervorheben möchte ich zwei Beiträge:

Erstens den Vortrag eines Genossen der DAF (Devrimci Anarsist Faaliyet, Revolutionäre Anarchistische Föderation) aus Istanbul, der das Verhältnis von türkischen und kurdischen AnarchistInnen zum Konter-Staatsstreich der AKP, dem kurdischen Befreiungskampf, zu Rojava und zur PKK thematisierte. Gut besucht und breit diskutiert war zweitens ein fachlich fundierter Vortrag zu demokratischen Wahlen, Wahlfälschung und Manipulation, der aber nicht in orthodox-anarchistischer Manier das Wählen an sich pauschal ablehnte, sondern sich Gedanken machte über einen „mathematischen Blick auf Wahl-Systeme, Graswurzel-Demokratie und feine faire Entscheidungsfindung für große Gruppen“.

Die Live-Musik an den Abenden war ebenfalls abwechslungsreich. Faulenza aus Berlin beeindruckte durch Darbietungen an der Gitarre und beachtliches Reim-Talent. Die Erweiterung des Faulenza-Repertoires in den Hip-Hop – Faulenza sang zu Tracks aus dem Laptop – bedarf allerdings einiger Nachschulung in Sachen Beats und Samplings.

Messerscharf, energetisch, bisweilen hassgeladen war der Grind-Core des Ein-Mann-Projekts das_programm, ebenfalls zu Tracks aus der Konserve; Mona & Hummel hatten ein paar echte Hits in ihrem Set, brachten die Leute nur mit Gitarre und Gesang zum Pogen (Anti-RWE-Song) und könnte richtig was werden. Eine selbstbwusste Frau mit großer Präsenz. Das Kölner Duo The Overall Brigade (Akkordeon, Banjolele) interpretierte Songs von Hobos, Bergarbeitern und Outlaws aus den anderen USA im Countrybilly-Stil. Was ebenfalls gut ankam.

Gesungen wurde auch an abendlichen Lagerfeuern und in kleinen Runden. Hier fehlte oft ein internationales Liederheft nach Vorbild des Little Red Songbook (IWW). Im Mondschein auf dem Smartphone nach den Texten der CNT-Hymne A las Barricadas und Brechts Lied der Communarden zu suchen, bringt es nicht.

Was es leider nicht gab

Die veganen KöchInnen aus Bremgarten und Brno hatten selbst keine Zeit, an Aktivitäten des Camps teilzunehmen. Dennoch gehörten sie zu den wenigen, die einen substantiellen inhaltlichen Beitrag zum Thema Arbeit, Ausbeutung und Selbstorganisation leisteten. Wenn er auch nur aus einem Zettel mit Edding-Beschriftung bestand. An ihrer Essensausgabe hing ein Plakat, das besagte: „Effizienz bedeutet weniger Arbeit für alle. Und weniger Arbeit ist ein Ziel der anarchistischen Bewegung.“

Es sollte zum gezielten Sortieren von Geschirr und zum gemeinsamen Spülen – statt zur individuellen Spülhandlung – animieren. Ein Dummbeutel musste das direkt mit unsinnigen Verweisen versehen. Dabei war in der Idee von Arbeits-Effizienz als Hebel zur Befreiung eine der wenigen Spuren einer Synthese zwischen Anarchismus und Marxismus zu finden, die ja mit der schwarz-roten Fahne ursprünglich einmal symbolisiert werden sollte.

Ansonsten gab es auf dem Anarchistischen Sommercamp 2016 für GewerkschafterInnen, SyndikalistInnen, Wobblies und KlassenkämpferInnen leider nicht viel zu holen. Weder die anarchosyndikalistische FAU noch die CNT Frankreichs oder Spaniens waren – außer durch vereinzelte Mitglieder – als VeranstalterInnen von Workshops vertreten.

Die beeindruckende Bewegung „nuit debout“ (vgl. GWR 409) gegen die nunmehr per Dekret durchgesetzten Arbeitsgesetze in Frankreich fand überhaupt nicht statt! Auch Griechenland war Fehlanzeige.

Jenseits der Szene-Ghettos?

Eine weitgehende Entkoppelung von der Lohnarbeit, ein naives Verhältnis zur kollektiven Selbstausbeutung, eine ungerechtfertigte Romantisierung von Szene-Ökonomien und Gegen-Welten dürfte es dieser Form anarchistischer Bewegung somit weiter schwer machen, zum riesigen Widerstandspotential der Ausgebeuteten und Lohnabhängigen, Bildungsverlierer und Arbeitslosen aufzuschließen, das sich seit Jahren in Europa zusammen braut. Dafür müsste die Bewegung ihre tief sitzende Lust an der Möchtegern-Andersartigkeit zumindest teilweise abstreifen und eine Lust an den tatsächlichen Gemeinsamkeiten mit den „normalen Leuten“ entdecken.

Nichts gegen AbiturientInnen, die sich die Nägel lackieren und auf Sommercamps in Ballet-Tütüüs herum laufen. Aber wie wäre es, wenn ein paar dieser weißen Mittelklasse-Kids nicht nur das Transgender-Wunder-Wesen in sich entdecken, sondern zur Abwechslung auch den Arbeiter, die Arbeiterin, den Proleten, die Malocherin? Kann das nicht auch irgendwie hip werden?

Der Einstieg ist eigentlich leicht: Dafür reicht es, die Stellenanzeigen der örtlichen Zeitungen zu durchblättern und sich die exotische Ausbeutungs-Erfahrung der Niedriglohnarbeit nach einem kurzen Bewerbungsgespräch mal am eigenen Leib reinzuziehen – mit solidarischer Unterstützung einer Gruppe (Organizing!). Vielleicht kommt dann der Moment, in dem die Party wirklich beginnt und nicht nur wir und unsere „Identitäten“, sondern die Verhältnisse zu tanzen beginnen.

(1) Damals schwappte die Critical Whiteness mit Wucht über US-Uni-Zirkeln nach Germany - man wollte den KölnerInnen gar das abendliche Kölsch verbieten, weil ArierInnen mit Bierflaschen in der Hand angeblich anwesende MigrantInnen verängstigen könnten. Wobei die Hardlinerinnen dieser Richtung allesamt weiße Akademikerinnen aus der Mittelklasse waren.

(2) Frauen, Lesben und Transgender-"Wunderwesen" können nicht öffentlich oben-ohne herum laufen, ohne begafft zu werden. Daher soll das Oben-Ohne-Gehen nach dieser Denk-Schule als eine Art von Diskriminierung durch das Ausspielen von Privilegien begriffen werden.

(3) Meines Erachtens hat sich dieser repressive Einschlag nicht aus einer libertären Tradition entwickelt, sondern eher aus Restbeständen maoistisch-leninistischer K-Gruppen (Marx-Lesekreise, Kritik und Selbstkritik) und Psychosekten wie der Otto-Mühl-Kommune der 1970er Jahre (siehe auch: Urschrei-Therapie, Rebirthing etc.) in die entstehende Autonomen-Szene der 1980er Jahr übertragen.

Mehr Infos

Politik, Gruppen etc.

Anarchist Summer Camp - https://www.acamp2016.org/
Devrimci Anar?ist Faaliyet - http://anarsistfaaliyet.org/
Kochkollektiv Retroduktion - www.retroduktion.ch
Kochkollektiv Cocina Perdida - https://www.facebook.com/cocina.perdida/
Class Wargames - www.classwargames.net/

Musik

Faulenza - http://faulenza.blogsport.de/
Mona & Hummel - https://monaundhummel.noblogs.org/
das_programm - https://das-programm.bandcamp.com/
The Overall Brigade - https://overallbrigade.wordpress.com/