"Wer die Leiharbeit aus der Schmuddelecke herausholen will, der muss dafür sorgen, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit gezahlt wird." Das ist kein Zitat aus dem Jahre 1972, als das Verbot der Leiharbeit durch die erstmalige Einführung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) von einer SPD/FDP Koalition - mit Unterstützung der DGB-Gewerkschaften - aufgehoben wurde! Es stimmt, die deutschen DGB-Gewerkschaften waren damals und lange Zeit danach immer noch für ein Verbot der Leiharbeit, weil sie in der Tat in die Schmuddelecke gehört. Pikant an diesem Zitat ist, dass es aus dem Jahre 2013 stammt, vom damaligen DGB-Vorsitzenden Michael Sommer.
Ausgesprochen hat er es nur kurz bevor die DGB-Tarifgemeinschaft aus den meisten der DGB-Gewerkschaften zum wiederholten Mal Tarifverträge zur Regulierung der Leiharbeit mit den großen Verbänden des Gewerbes geschlossen haben.
Ich stifte Verwirrung: Was kann pikant sein an Tarifverträgen?
Kann Tarif denn Sünde sein?
Viele von uns glauben, Tarifverträge dienen der Besserstellung der Lohnabhängigen gegenüber der gesetzlichen Regelung – ob in Sachen Gehalt, Arbeitszeit oder sonstiger Arbeitsbedingungen. Das sollten sie unbedingt und immer noch. Doch bereits seit Ende der 1970er und verschärft der 1980er Jahre fingen einige Belegschaften an, beim Wort „Tarifverhandlungen“ die Geldbörse festzuhalten, denn immer üblicher wurden Absenkungen erkämpfter Standards durch Tarifvorbehalte, Differenzierungsklauseln und Standortvereinbarungen.
Die Motivation der Gewerkschaften bzw. ihrer Betriebsräte?
Einerseits „Rettung“ von Arbeitsplätzen vor Arbeitsplatzabbau und -verlagerung durch ihre Verbilligung. Eine Dumpingspirale, die um die Welt zieht und bis heute kein Ende gefunden hat. Und andererseits pure Regulierungssucht, mit der die Gewerkschaftsapparate ihre Notwendigkeit unter Beweis stellen: „Hauptsache mit Tarifvertrag“ und mit dem berüchtigten „Fuß in der Tür“.
Schmuddeltarif
Die Tarifverträge in der Leiharbeit sind dennoch besonders pikant, denn sie verhindern das auf europäischer wie nationaler Ebene festgeschriebene Equal-Pay-Gebot – ein echter Schmuddeltarif eben.
Dieses neue Kapitel sowohl für die Branche Zeitarbeit als auch für die gewerkschaftliche Tarifpolitik begann am 1. Januar 2003 und – wie sollte es anders sein – im Zuge der Agenda 2010 als das Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz I“) zum Zwecke der „Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“.
Für das AÜG bedeutete dies die ersatzlose Abschaffung aller Beschränkung (Höchstüberlassungsdauer, Befristungsverbot, Wiedereinstellungsverbot und Synchronisationsverbot). Als Anpassung an das europäische Recht, jedoch als Ausgleich verkauft, erfolgt gleichzeitig die Einführung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (sog. Equal Pay und Equal Treatment als Gleichstellung der LeiharbeiterInnen gegenüber den Stammbelegschaften hinsichtlich Lohn, Urlaub und Arbeitszeit).
equal pay
Die Aussicht auf gleiche Bezahlung wie im Entleihbetrieb (equal pay) bedrohte die Zeitarbeit mit dem Aus, so das Horrorszenario des Kapitals, denn dann hätten die Unternehmen kein Interesse an LeiharbeiterInnen. Durch die gleichzeitige Demontage auch des Kündigungsschutzes hätte dies sogar stimmen können.
Der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) jedenfalls wollte beides: den Kündigungsschutz lockern und die Zeitwirtschaft retten, was er auch den Gewerkschaften dringend angeraten haben soll. Daher stellte er das neue AÜG unter einen sog. Tarifvorbehalt: „Ein Tarifvertrag kann abweichende Regelungen zulassen“.
Danach ging es schnell
Bereits Ende Februar 2003 erfolgte der erste Tarifabschluss zwischen einer Interessengemeinschaft der Zeitarbeitsunternehmen und der Tarifgemeinschaft der Christlichen Gewerkschaften Zeitarbeit und PSA (CGZP) – der wie die weiteren 2011 mangels Tariffähigkeit der CGZP rückwirkend als nichtig erklärt wurde. Um diese schlimmeren Tarifverträge „christlicher Gewerkschaften“ zu verhindern (die in Wirklichkeit in Teilen besser als diejenigen der DGB-Tarifgemeinschaft waren), unterzeichnet diese im Mai/Juni 2003 erstmals Tarifverträge mit den Verbänden iGZ sowie BZA – und erneuert sie fortan immer wieder.
2002 versuchten die DGB-Gewerkschaften noch, sich gegen den Artikel sechs im ersten Hartz-Gesetz, den Tarifvorbehalt, zu wehren – bekanntlich im Gegensatz zu den restlichen Hartz-Gesetzen.
Gleichzeitig (!) wurden jedoch durch das gewerkschaftliche „Gütesiegel Zeitarbeit“ die PSA (PersonalServiceAgenturen) – in den Zusammenhang eingeführte staatliche Sklavenhändler – veredelt und laut damaligem Wirtschaftsminister Wolfgang Clement (SPD) ihm zugesichert, Tarifverträgen für Zeitarbeiter zuzustimmen, die 20 Prozent unter den Löhnen der Stammbelegschaft liegen.
Es kam noch schlimmer
Ein Tarif, der z.B. erst ab dem 54. Beschäftigungsmonat für Ungelernte gleiche Bezahlung wie im Entleihbetrieb vorsieht, obwohl sich DGB wie dessen Einzelgewerkschaften fürchterlich über den Vertrag der Christlichen Gewerkschaft Deutschland aufregten – der dies nach 37 Monaten vorsah – diese Lösung hat der DGB zuvor als einen Witz bezeichnet. Für die LeiharbeitnehmerInnen spielt dies allerdings keine Rolle, denn die wenigsten verbleiben länger als 6 Monate im Unternehmen. Deshalb ist übrigens jeder Streit um Angleichungsfristen – ob gesetzliche oder tarifliche – reines Ablenkungsmanöver.
Reinhard Dombre, Verhandlungsführer der DGB-Gewerkschaften, soll nach den Verhandlungen zugegeben haben, dass für die Zeitarbeitnehmerinnen mehr zu holen gewesen wäre, doch nicht ohne die Branche abzuwürgen. In der Tat ist ihm an anderer Stelle zuzustimmen: „Durch diesen Abschluss wird die Zeitarbeits-Branche zu einem ganz normalen Wirtschaftszweig“. Unterstützung bekam er vom DGB-Chef Sommer, der die Position des DGB zu diesem Tarif verteidigte: „Jeder Tarif ist besser als keiner.“ Denn es geht um die „moralische Verpflichtung“, Menschen „in Arbeit zu bringen“ – existenzsichernd muss sie längst nicht mehr sein.
Die gewerkschaftliche Veredelung der Niedriglöhne in der Zeitarbeitsbranche führt seitdem zur zunehmenden Praxis, Stammpersonal durch dauerhaften Einsatz von LeiharbeiterInnen zu ersetzen („Drehtüreffekt“). Viele Konzerne betreiben ihr eigenes „Personal pool“.
Die bis 2003 relativ stabile Nischen-Branche (1996: 177.935 Beschäftigte, 2003: 327.789) hat sich allein bis 2011 nahezu verdreifacht und wird 2016 sehr wahrscheinlich die Millionen-Marke knacken.
Besonders pikant: 2010 bezogen nach Angaben der Bundesregierung mindestens 52.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in der Branche der Arbeitnehmerüberlassung aufstockendes Arbeitslosengeld II, darunter waren etwa 43.000 Vollzeitbeschäftigte (ohne Auszubildende). Neuere Daten dürften höher werden.
Einmal ist keinmal?
Zwischenzeitlich – und nur kurz – hat der krisenbedingte Boom der Zeitarbeit v.a. die IG Metall entdecken lassen: „Leiharbeit setzt die Tarife unter Druck“. Selbst DGB-Verhandlungsführer Reinhard Dombre entdeckt 2007 die „Zwei-Klassen-Gesellschaft in Betrieben“! Für die LabourNet-Redaktion Grund genug für ein hoffnungsvolles Special: „Kann der Sklavenhändler-Tarifvertrag etwa ein Fehler gewesen sein?“
Den Höhepunkt gewerkschaftlicher Selbstkritik haben wir darin als die Erkenntnis der Woche 1/2007 bezeichnet: „Damals sind die Gewerkschaften davon ausgegangen, dass die ehemalige Schmuddelbranche mit einem Tarifvertrag eine bessere, geordnete Entwicklung nehmen würde. Das hat sich als Fehleinschätzung erwiesen. Trotz Tarif bringt die Zeitarbeit Lohnkonkurrenz in die Betriebe. Und der DGB-Zeitarbeitstarif selbst steht auch auf wackligen Füßen.“ So der damalige NRW-Bezirksleiter Detlef Wetzel in einem Interview.
Die Selbstkritik hielt jedoch nicht lange an – die der Betroffenen sowie kritischen GewerkschafterInnen schon. Zuletzt 2013 (nach Protesten auch in 2006) gab es eine (erfolglose) Kampagne: Equal Pay durchsetzen statt Lohndumping tarifieren – Nein zum DGB-Tarifvertrag in der Zeitarbeit! Der Offene Brief gegen DGB-Zeitarbeits-Tarifverhandlungen erhielt fast 500 Unterschriften, hielt aber nicht vor erneuten Tarifverträgen ab. Doch 2016 bietet sich eine neue Gelegenheit.
Zurück in die Schmuddelecke, in die der Sklavenhandel gehört!
Leiharbeit hat immer noch keinen guten Ruf und das zu Recht. Für die meisten LeiharbeiterInnen ist sie alternativlos, denn die meisten offenen Stellen sind in Leiharbeit und die Jobcenter vermitteln dahin unter Sanktionsdrohung. Bis zu 40% weniger Lohn (mit starker Spaltung je nach eingesetzter Branche mit ihren unterschiedlich ausgehandelten Zuschlägen), meist keine Zusatzleistungen und viel weniger Rechte. Von ihren wenigen Rechten wissen die wenigsten oder verzichten darauf, diese einzuklagen aus Angst, auch noch diesen Job zu verlieren. Und im Einsatzbetrieb gelten sie als Lohndrücker, das Symbol der Angst der Stammbelegschaften und zudem auch noch als zusätzliche Belastung, die immer wieder eingearbeitet werden muss. Die Zeitarbeitswirtschaft hingegen lebt von der Lohndifferenz und von der Kunst, ihre Opfer in verleihfreier Zeit mit diversen Tricks um den Lohn zu bringen. An diesen Tricks wird auch das neue Gesetz zur Regulierung von Zeitarbeit und Werkverträgen nichts ändern. Auch hier geht es nicht um die Gleichstellung der Lohnabhängigen (Beschlusslage aller beteiligten Gewerkschaften!), sondern den Kampf zwischen dem Kapitalinteresse an weiterer Deregulierung und gewerkschaftlicher Forderung nach Eindämmung des „Missbrauchs“ und stärkerer Mitbestimmung beim Einsatz von Leiharbeit und Werkvertrag im Betrieb.
Das Thema Leiharbeit ist – nicht nur bei der IGM – inzwischen dem Thema Werkverträge untergeordnet worden bzw. auf das Abstellgleis verschoben. Von der Abschaffung der Leiharbeit ist keine Rede mehr, sie soll nur noch gestaltet werden und ihr „Missbrauch“ verhindert. Der aktuelle gewerkschaftliche Fokus auf den Kampf gegen Werkverträge liegt daran, dass diese nach dem Inkrafttreten eines Mindestlohnes Leiharbeit am 1. Januar 2012 und verschiedenen Branchenzuschlägen seit November 2012 eine noch billigere Alternative bieten, die zunehmend genutzt wird – aber voraussichtlich weder verboten werden wird, noch (bislang) tariflich geregelt ist, sich also dem gewerkschaftlichen Einfluss entzieht.
Das Übel Werkverträge macht den Skandal gewerkschaftlicher Unterwanderung des „equal pay“ jedoch nicht geringer. Namhafte ArbeitsrechtlerInnen haben seit Jahren darauf hingewiesen, dass die wirkungsvollste Anhebung der Löhne und Verbesserung der Arbeitsbedingungen von LeiharbeiterInnen – neben dem Verbot der Leiharbeit – darin besteht, dass der DGB die Tarifverträge kündigt und seine Absicht mitteilt, keinen neuen Vertrag abzuschließen, um damit ihre Nachwirkung auszuschließen. Diese Gelegenheit bietet sich erneut: Die Tarife in der Leiharbeit sind nun zum 31.12. 2016 kündbar, aber die DGB-Tarifgemeinschaft will weder alle derzeitigen Tarifverträge, noch diese ersatzlos kündigen.
Sie setzt einerseits auf einzelgewerkschaftliche Zusatzverträge (Branchenzuschläge), die je nach Kampfkraft und Branche unterschiedlich hohe Aufstockung zum DGB-Tarif bieten, auch in 20 Jahren nicht an den equal pay heran reichen werden (von gleichen Arbeitsbedingungen, equal treatment, ganz zu schweigen) – aber die LeiharbeiterInnen an die jeweilige Gewerkschaft binden.
Andererseits verweist sie auf die angeblich ungeklärte Frage der Nachwirkung der zu kündigenden Verträge – obwohl alle uns vorliegenden juristischen Gutachten hier keine Probleme sehen. Nebenbei stellt allein dies einen tarifpolitischen Offenbarungseid dar: Als ob wir einen Versicherungsvertrag abschließen würden, der keine Kündigungsfristen regelt!
Den Vogel schießt das neueste Argument für die erneute Tarifierung der Leiharbeit und damit die Absage an gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Es stammt von der EVG (Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft im DGB und dessen Tarifgemeinschaft Leiharbeit) und verweist u.a. auf die Notwendigkeit eines Entgelttarifvertrages für die ebenfalls fällige Erneuerung eines Mindestlohntarifvertrages.
Er sichert den LeiharbeiterInnen in den verleihfreien Zeiten eine Aufstockung des gesetzlichen Mindestlohns um noch nicht einmal 50 Cent! Zum Vergleich: In Frankreich gibt es für LeiharbeiterInnen zusätzlich zum gleichen Lohn eine 20%ige Flexibilitätsprämie als Belastungsausgleich, die dafür sorgt, ihren Einsatz auf die gewerkschaftlich akzeptierten Notfälle einzugrenzen.
Ansonsten kann man in der Tat nur das Verbot der Leiharbeit fordern. Momentan fehlt hierfür der notwendige Druck. Er fehlt auch gegen die bald beginnende Tarifrunde Leiharbeit 2016/17: nicht nur der Druck der betroffenen KollegInnen, sondern der von Betriebsräten und GewerkschafterInnen. Um diesen Druck aufzubauen, gibt es nun eine Kampagne u.a. mit einem Offenen Brief an die DGB-Tarifgemeinschaft Zeitarbeit und die beteiligten Gewerkschaften: „Equal Pay für LeiharbeiterInnen, diskriminierende Tarifverträge ersatzlos kündigen!“ Er hat in kürzester Zeit fast 300 Unterschriften erhalten – um weitere wird dringend gebeten!
Der Offene Brief ist im LabourNet Germany zu finden unter www.labournet.de/?p=100678 - von dort aus sind alle Informationen rund um Leiharbeit und die Kampagnen dagegen leicht zu finden.
Mag Wompel ist Industriesoziologin und Redakteurin des LabourNet Germany. Wompel ist Industriesoziologin, freie Journalistin und verantwortliche Redakteurin des LabourNet Germany.