Thilo Sarrazin, ein SPD-Mitglied, das auch auf einer Compact-Konferenz auftritt, um Deutschlands drohenden Untergang, den politischen Tugendterror und andere Leitmotive der Neuen Rechten zu intonieren, hat einen kurzen Text in der FAZ vom 22.8.2016 veröffentlicht, unter "Fremde Federn", einer Rubrik, die Gastbeiträge bringt: "Das Einfallstor schließen". Der Text entspricht der alarmierenden Überschrift: In letzter Minute! Schließt die Tore! Abwehr ist das Gebot der Stunde.
Dass Angriff „die beste Verteidigung ist“, erfahren wir im Text:
Er beginnt, wie schon in der technokratischen SPD der 70er Jahre liebt er ja Statistiken, mit einer Zahl: Von 2007 bis Mitte 2016 wurde von über einer Million Anträgen auf politisches Asyl nur 1% positiv beschieden. Damit ist für ihn und Leute, die so denken wie er, natürlich alles gesagt, das Wort von den „Scheinasylanten“ muss nicht ausgesprochen werden.
Mit verhaltener Empörung wird anschließend erwähnt, dass 55 % dennoch ein Bleiberecht erhielten: Flüchtlinge, subsidiärer Schutz, Abschiebungshindernisse. Bei 45 % wurde der Antrag rechtskräftig abgelehnt, folgt der bekannte Hinweis auf die Vollzugsdefizite. Das Asylrecht ist „Einfallstor für ungeregelte Einwanderung“. Die Schwierigkeiten, daran etwas zu verändern, will Sarrazin durch einen kühnen Streich, einen genialen Kunstgriff überwinden.
„Die Rechtsstellung, die der Einwanderer oder Flüchtling, in dem Augenblick erfährt, in dem er deutschen Boden erreicht und das Wort Asyl ausspricht“ (so versammelt er Klischees, ruft die Vorurteile ab), macht ihn zu „einem Subjekt deutschen Rechts mit Ansprüchen an den deutschen Sozialstaat“ und Anrecht auf Ausschöpfung aller Rechte. Mit Hannah Arendt könnte man sagen: Der Flüchtling hat „das Recht, Rechte zu haben“, eine entscheidende zivilisatorische Errungenschaft in einen Jahrhundert der Lager.
Aber solche Perspektiven sind Sarrazin fremd, er handelt „die falschen Anreize“ ab, die durch diesen Rechtsstatus entstehen, und er weiß auch, wie man eine Abschreckungswirkung noch „im fernsten afrikanischen Dorf“ erzielt: Die Ankunft in Deutschland darf keinen Grund für einen längeren Aufenthalt bilden. Dies gelingt, wenn zwei „Stellschrauben“ (hätte unser Technokrat gut sagen können) geändert werden: Die Genfer Flüchtlingskonvention muss so geändert werden, dass die europäischen Staaten – wie vor 1967 – „Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge anderer Kontinente“ mitfinanzieren, sie aber nicht in Europa aufnehmen müssen.
Und: erst wenn ein nach Deutschland eingereister Mensch (das Wort kommt bei Sarrazin nicht vor, erscheint ihm vielleicht schon als Verharmlosung des „Problems“, vielleicht sollte daran erinnert werden, dass es um individuelle Schicksale geht?) einen legalen Aufenthaltsstatus erhalten hat, kann er klagen und hat Anrecht auf Leistungen des Sozialstaates, „davor muß er rechtlich gesehen als nicht eingereist gelten“!
Interessant, dass das Recht hier contrafaktisch definieren kann, dass jemand gar nicht eingereist ist. Gleich darauf heißt es: „Das Recht ist ein Instrument zur Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens – gemacht von Menschen für Menschen.“ Offenbar ist hier immer schon vorausgesetzt, und wie selbstverständlich! – wer dazu gehört – und wer eben nicht! Und wer die Definitionsmacht beanspruchen kann. Im Zweifelsfall: „Der Souverän“, da meinen die nationalistischen „Wir sind das Volk“-Schreier auf der Straße, sie seien gemeint, und die elitären Intellektuellen, die sie benutzen, wissen: Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, und der das sagte – Carl Schmitt – dekretierte, als Hitler sich 1934 während des „Röhm-Putsches“ der SA-Führer entledigte „Der Führer schützt das Recht!“
Dass Rechte durch neue Definitionen formal unangetastet und dennoch stark beschnitten werden können, wird z.B. durch die Bezeichnung „sicherer Drittstaaten“ längst zur Regel.
Und wann erhält der Flüchtling einen legalen Aufenthaltsstatus? „Wenn eine Vorprüfung ergeben hat, dass die Aussichten auf die Gewährung politischen Asyls gemäß Artikel 16a GG sehr (!) gut sind.“ Wir erinnern uns, das waren 1% der Flüchtlinge, „im ersten Halbjahr 2016 waren es sogar nur 0,3 Prozent“. Alle anderen haben „keinen Anspruch auf Bewegungsfreiheit und das Ausländerrecht findet keine Anwendung“. Diesem Programm, ideal für alle rechtspopulistischen Bewegungen, fallen die bisherigen Regelungen, „auch die Beachtung von Vorgaben des Völkerrechts“, zum Opfer, alle „einschließlich der Europäischen Menschenrechtskonvention sind entsprechend anzupassen“, dekretiert Sarrazin. Diese haben einem zentralen „Kriterium“ zu folgen: „unerwünschte Zuwanderung von außerhalb der Europäischen Union wirksam zu unterbinden“, so wird auch der Weg frei für „eine auswählende gezielte Einwanderungspolitik, soweit sie von den betreffenden Staaten aus wirtschaftlichen oder demographischen Gründen gewünscht wird.“ „Auswählend“ hieß auch schon „selektiv“ und das erinnert an etwas, woran hier nicht erinnert werden darf. Aber so wie die Gesellschaft fortgesetzt „Führungskräfte“ hervorbringt, selektiert sie auch, es ist also „ein ganz normaler Vorgang“, kein Grund sich aufzuregen.
Deutlich wird bei Sarrazin, dass der Nutzen für den Staat und die entsprechende Staatsräson im Zentrum seines Denkens stehen, rechtliche und menschenrechtliche Motive Hindernisse darstellen, Sentimentalitäten, die der vernünftigen Verwaltung einer sozialdarwinistisch interpretierten Realität gefährliche Probleme bereiten.
Bei Sarrazin folgen dann Passagen, die er selbst in Anführungszeichen gesetzt hat, so als könnten das schon Gesetzestexte werden: Konzentration aller Zuständigkeiten bei einer Stelle, die innerhalb von 30 Tagen entscheidet: „Ein weiterer Rechtsweg über die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist ausgeschlossen.“ Weiter: Eine zentrale Datei, die „neben den Angaben zur Person die DNA, die Fingerabdrücke und ein Abbild der Iris“ speichert. „Auf diese Datei haben alle Polizei und Meldebehörden des gesamten Schengenraums Zugriff.“
Juristisch nicht eingereist soll der faktisch Eingereiste sich in einer „Transitzone“ aufhalten: „Durch Verlassen der Transitzone oder illegale Einwanderung wird der Aufenthaltsanspruch verwirkt.“ In der „Wartephase“ „wird der Unterhalt so begrenzt und in solch einer Form gewährleistet, dass finanzielle Transfers in die Herkunftsländer ausgeschlossen sind. Außerhalb der Transitzone wird Unterhalt nicht gewährt.“
Schließlich: Alle illegal Eingewanderten sowie alle Flüchtlinge und Asylbewerber, deren Aufenthaltsbegehren abgelehnt wurde, werden unverzüglich und grundsätzlich ausnahmslos abgeschoben. Die Abschiebung erfolgt in das Herkunftsland oder in das Land des letzten Aufenthalts vor dem Übertritt in die EU. Verweigert ein Herkunftsland die Aufnahme, so werden die Betreffenden gleichwohl grundsätzlich dorthin verbracht, notfalls unter militärischem Schutz.“ Wieso Schutz? Wessen Schutz? Wird hier nicht der groteske Gedanke „ventiliert“ (so würde Sarrazins Klientel sich vielleicht ausdrücken), der Flüchtling würde durch Militärintervention seinem Herkunftsland aufgedrängt?
Sarrazin bietet die Zerschlagung des gordischen Knotens, da ist der gewaltsame Zugriff immer präsent. Erschreckend ist das Verwaltungsdenken: Maßnahmen. Unterbindung. Der Geist der Bürokratie bietet eine Schein-Versachlichung aggressiver Maßnahmen, der Zugriff der Verwaltung ist total. Und glaube doch niemand, „bewährte“ Abläufe und Maßnahmen blieben dann auf Geflüchtete beschränkt! Es ist technokratischer sozialdemokratischer Planungsglaube, der Sarrazin antreibt und letztlich zur Neuen Rechten treiben musste.
Ein Satz noch an SozialistInnen und AnarchistInnen, die immer noch den uralten Satz strapazieren, Sozialismus sei die Ersetzung der Herrschaft über Menschen durch die Verwaltung von Sachen. Seit Jahrzehnten erfolglos kritisiert, gut gemeint, aber hochproblematisch lebt diese 150 Jahre alte Sichtweise (Saint-Simon! In Brasilien gibt es noch eine Religion, die Comte huldigt, so wie „Captain Fantastic“ statt Weihnachten Noam Chomskys Geburtstag feiert!) bis in die neuesten Parolen fort. Herrschaft funktioniert gerade als Verwaltung! Da ist doch sehr zweifelhaft, dass Verwaltung die Auflösung der Herrschaftsverhältnissse sein kann. Sarrazins Text zeigt exemplarisch, wie Verwaltung Herrschaft ausübt.
Er kommt aus einer Tradition des Sozialismus, die Verwaltung von Menschen wie Sachen oder als Sachen groteskerweise für die Alternative zur Planlosigkeit der Marktwirtschaft hielt.
Sarrazin ist nur der letzte Ausläufer dieser Tradition des planenden optimistischen und optimierenden Zugriffs auf Bevölkerungen mit dem Ziel von Homogenität, Voraussicht, Rationalität, Eugenik.
Sarrazin weiß, dass er nicht mehr direkt politisch handeln oder die Gesetzgebung beeinflussen wird. Er weiß aber ebenso, dass er als Bestsellerautor mit einer Massenanhängerschaft Vorschläge macht, die dann über die Medien der Neuen Rechten, Bewegungen wie Pegida und Parteien wie die AfD in offizielle Politik einwandern und das Koordinatensystem verschieben, bei einem kommenden Anlass, wenn wieder „politisches Handeln“ gefordert ist, aus der Schublade gezogen und schrittweise umgesetzt werden können. Etwa wenn wieder mehr Flüchtlinge kommen – oder nach einem Anschlag.