Alle fünf Jahre, wenn in Indonesien der Wahlkampf anläuft, reagieren kritische AktivistInnen. Progressive MusikerInnen und bildende KünstlerInnen starten politische Bildungsprojekte, in denen sich Herrschaftskritik und Kreativität vereinen.
Gitarrenzupfen, das Trommeln der Djembe und Trompetenklänge leiten den Song „Pilu Pemilu“ (Die Wahl, die traurig macht) ein. Er stammt von Kepal SPI, einer Gruppe von Straßenmusikern und ist eine entspannte Einladung zur Wahlverweigerung. Wer den Rhythmus hört, dem wird es schwer fallen, nicht mit zu wippen.
Für mich, als in den 80er Jahren Geborene, klang der Rhythmus des Liedes äußerst vertraut, obwohl das Video dazu erst seit 2014 im Netz zu finden ist: https://www.youtube.com/watch?v=HqspaGE9U_s#t=41
Kepal SPI haben für „Pilu Pemilu“ einen Wahlmarsch gecovert, der während der Suharto-Diktatur bis 1998 ständig in Radio und Fernsehen gespielt wurde.
In der Originalversion des aus Makassar stammenden Komponisten Mochtar Embut ist der Gesang eines Chors, begleitet von Pianoklängen, zu hören.
Kepal SPI veränderten nicht nur die instrumentelle Begleitung und den Gesang, sondern auch die Verse des Liedes. Und schufen so mit ihrem 2009 aufgenommenen Song eine Parodie des ehemals staatstragenden Musikstücks.
Die Originalverse des Wahlmarsches lauten:
pemilihan umum sedang memanggil kita// Die Wahl ruft uns.
seluruh rakyat menyambut gembira//Das Volk freut sich darauf.
hak demokrasi pancasila// Sie ist das demokratische Recht aus unserer Verfassung,
hikmah Indonesia merdeka// die Kraft der Unabhängigkeit Indonesiens.
pilihlah wakilmu yang dapat dipercaya// Wähle den Vertreter, der vertrauenswürdig ist,
pengemban ampera yang setia// das Mandat des Volkes treu zu erfüllen.
di bawah undang-undang dasar 45// Gemäß unserer Verfassung von 1945
kita menuju ke pemilihan umum// gehen wir zur Wahl.
Und so lautet der „Wahlmarsch“ von Kepal SPI:
pemilihan umum telah menipu kita// Wir wurden betrogen durch die Wahlen.
seluruh rakyat dipaksa gembira// Das Volk soll sich darüber freuen,
hak demokrasi dikantongi// dass es seiner demokratischen Rechte beraubt wird.
hidup kita belum merdeka// Unser Leben ist noch nicht unabhängig.
semua partai asu tak dapat dipercaya// Keiner Arschloch*-Partei kann man mehr vertrauen,
ujung-ujungnya cuma duitnya// am Ende geht es allen nur ums Kohle machen.
di bawah undang-undang warisan Belanda// Unter einem Grundgesetz, das uns [die Kolonialmacht] Holland vererbt hat,
jangan nyoblos ayo tinggal tidur saja//ist es besser, auszuschlafen, als zur Wahl zu gehen.
* „Asu“ bedeutet wörtlich „Hund“, wird jedoch im Sinne des deutschen „Arschloch“ verwendet.
Kepal ist das Akronym für Keluarga Seni Pinggiran Anti Kapitalisasi/ Familie der marginalisierten Künste gegen die Kapitalisierung). SPI steht für Serikat Pengamen Indonesia/ Gewerkschaft der Straßenmusiker Indonesiens. Die seit 2001 bestehende Band hat zwei feste Mitglieder, den Sänger Mantopane (auch Gonzales genannt) und den Gitarristen Tole. Seit sie auf der Straße singen, wissen die beiden, wie die Lebensbedingungen für die Ärmsten der Bevölkerung aussehen. Daher bestehen ihre Texte – wie bei „Pilu pemilu“ immer aus Herrschaftskritik.
Die Wahlen der letzten Jahre hätten deutlich gezeigt, wie das Volk betrogen worden sei, sagen die Mitglieder von Kepal-SPI. Die schweren Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit seien nicht aufgearbeitet und dauerten, wie zum Beispiel in Westpapua, immer noch an. Die wahren Schuldigen der Ermordungen der Arbeiter-Aktivistin Marsinah (1993) und des Menschenrechtlers Munir Said Thalib (2004), die im Militär bzw. Geheimdienst vermutet werden, seien nach wie vor straffrei. Das Verschwindenlassen des kritischen Poeten Wiji Thukul und weiterer AktivistInnen 1998 wenige Wochen vor dem Rücktritt von Diktator Suharto sei nicht aufgeklärt. Und Indonesiens „Volksvertreter“ betrieben trotz schwerer Umweltschäden und Marginalisierung weiter Teile der Bevölkerung einfach weiter eine Politik für die Investoren und ihre Großprojekte.
Am Ende ihres Videos, das kurz vor den Parlamentswahlen im April 2014 ins Netz geladen wurde, geben Kepal SPI der indonesischen Bevölkerung ihren Segen bei der Verrichtung der „religiösen Pflicht“ der Wahl-Abstinenz – in Anlehnung an die Transparente, die im Land mit der weltweit größten muslimischen Bevölkerung vor Beginn des Fastenmonats die Straßen und Plätze füllen.
Der Begriff der „Gruppe der Weißen“, wie sich die NichtwählerInnen in Indonesien nennen, kam zum ersten Mal im Jahr 1971 auf, als nach der Machtergreifung von Diktator Suharto 1965/66 zum ersten Mal Wahlen abgehalten wurden. Damals wurde die Wahlverweigerung für einige Intellektuelle und AktivistInnen zu einer Form der Opposition, da die Wahlen nur dazu dienten, das bestehende System zu legitimieren. Eine wirkliche Alternative, die zur Wahl gestanden hätte, gab es nicht. Die Begründer der „Gruppe der Weißen“ (golongan putih, golput) riefen also die WählerInnen auf, zu den Wahlurnen zu gehen und ihren Einstich ins Papier außerhalb der Partei-Felder auf dem weißen Rand zu machen. Viele, die sich zur Bewegung der Weißwähler zählten, blieben den Wahlurnen aus Protest auch ganz fern. Das Spiel wiederholte sich bei allen Wahlen während der Suharto-Diktatur.
Auch heute, in der so genannten reformasi, der Zeit nach Suhartos Rücktritt, gibt es viele Menschen, die den Wahlurnen fern bleiben und die weiterhin als golput bezeichnet werden. Bei den Parlamentswahlen 2014 waren es 24,89 Prozent der Bevölkerung. Die Zahl ausschließlich als Ausdruck politischen Protests zu werten, wäre jedoch irreführend, da sie auch jene Menschen umfasst, die wegen Registrierungsproblemen nicht wählen können oder die aus akuten Gründen verhindert sind.
Als ich den Kepal-SPI-Sänger Mantopane Ende Juli für diesen Artikel interviewte, sagte er, die golput-Bewegung habe noch immer eine wichtige Bedeutung, da viele der KandidatInnen „alte Gesichter“ seien, die eng mit dem Suharto-Regime verknüpft seien. Zwar konkurrierten diese „alten Gesichter“ um die Stimmen des Volkes, doch Hoffnung auf wirkliche Veränderung gebe es nicht, weder bei Parlaments- noch bei Präsidentschaftswahlen. Der im Wahljahr 2009 entstandene Song „Pilu Pemilu“ spiegele dieses Gefühl, so Mantopane. „Wenn keiner zur Wahl ginge, wäre sie ungültig. Dann könnte die Frage, was das Volk will, erst wirklich gestellt werden. Und dann könnten wir gemeinsam eine Lösung dafür suchen, was wirklich das Beste für die Menschen ist“, erklärt Mantopane.
Die Parodie des Wahlmarsches erwies sich als effektiver Schritt. Millionen von Menschen, die die Suharto-Diktatur miterlebt haben, kennen den „alten Marsch“, für die Mehrheit der Bevölkerung hat er noch immer die größere Gültigkeit. Und die etablierten Parteien haben im Wahljahr zusätzlich eigene Hymnen, in denen in großen Worten verkündet wird, welche Segnungen nach der Wahl auf das Volk warten, und die für teuer erkaufte Sendezeit im Radio und Fernsehen laufen.
Mit „Pilu Pemilu“ hat die „Gruppe der Weißen“ nun endlich auch ihre eigene Hymne, eine, die viele AnhängerInnen und viel Verbreitung findet – und das ganz ohne teure Sendezeiten. „Ich hab den Song oft von bettelnden Menschen auf der Straße gehört“, sagt Mantopane.
Im Video von Kepal SPI sind auch einige Poster zu sehen, die zum Wahlboykott aufrufen. Sie stammen von der Gruppe Serikat Kebudayaan Masyarakat Indonesia (Gewerkschaft der Volkskunst), kurz Sebumi genannt, die aus der SPI hervor gegangen ist. Auf einem der Poster heißt es „Lieber nicht wählen als falsch wählen“, auf einem anderen „Lasst nicht zu, dass das Militär die Macht hat“ – ein Verweis auf die Biographien zahlreicher Kandidaten im Parlaments- und Präsidentschaftswahlkampf. Sebumi bringen diese Botschaften mit Postern und Murals auf Straßen und Plätzen an die Öffentlichkeit, die dort eine Gegenposition zu den massenhaft aufgehängten Postern der verschiedenen KandidatInnen bilden.
Ähnlich verfährt auch das Künstlerkollektiv Taring Padi aus Yogyakarta. 2009 begann die Gruppe, mit Linoldruck hergestellte Poster auf die Wände der Stadt zu kleben, die zu einer kritischen Sicht auf das politische Establishment einluden. Bei den nächsten Wahlen, 2014, wurden diese Poster in größerer Stückzahl und mit weniger Aufwand reproduziert. Aufnahmen einer der nächtlichen „Tapezieraktionen“ wurden vor den Präsidentschaftswahlen 2014 ins Netz gestellt: https://www.youtube.com/watch?v=VprDJivzvrI&feature=youtu.be
Das Künstlerkollektiv, das sich im Zuge der Studentenproteste gegen Suharto 1998 gegründet hat, ist für klare Botschaften bekannt. Diese sprechen sowohl aus den Slogans als auch aus der bildlichen Darstellung auf ihren Postern. „Unabhängig denken“, heißt es dort, „Verweigert euch der Verdummung!“ oder „Habt Selbstvertrauen, trefft frei eure Wahl, lasst Euch nicht unter Druck setzen!“
Laut Taring-Padi-Mitglied Fitri DK gibt es inzwischen eine Serie von 22 verschiedenen „Wahl-Poster“. Sie stellten ein Instrument der politischen Bildung dar, so die Künstlerin Fitri. Deshalb gehörten sie auch in den öffentlichen Raum, damit möglichst viele vorbei laufende Menschen die Botschaften sehen. Diese Botschaften umfassen die Rechte von ArbeiterInnen und Bauern, Gleichberechtigung von Frau und Mann und Anti-Militarismus – all das, wofür Taring Padi als Kollektiv steht. Im Wahl-Kontext heißt das für die KünstlerInnen, die Bevölkerung an ihr Recht zu erinnern, niemanden zu wählen, der ihr Vertrauen nicht genießt. Und wenn es eben keine Volksvertreter gibt, denen man vertrauen kann, dann heißt das Resümee, wie auf einem der Poster: „Wählen oder Nicht wählen ist die Wahl“.
Anmerkungen
Übersetzung aus dem Indonesischen: Anett Keller
Idha Saraswati ist freie Journalistin in Yogyakarta. Sie schreibt gern über die Verbindungen zwischen Kunst und Politik und koordiniert www.serunai.co, eine Website über Kultur und Aktivismus.
Der Artikel in indonesischer Sprache:
serunai.co/pratayang/2016/09/09/seni-kampanye-menolak-pemilu/