Daniel Defoe: Libertalia: Die utopische Piratenrepublik, Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2015, 240 Seiten, 22,90 Euro, ISBN 9783957570000
Piratengeschichten sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Insbesondere wenn man weiß, dass der sogenannte Jolly Roger, also eine „schwarze Flagge mit weißem Totenkopf und gekreuzten Knochen“ wahrscheinlich „eine spätere Erfindung der Populärkultur“ ist. (S. 118). Die Geschichte um die Piratengemeinschaft von Kapitän Misson fällt dabei sowieso schon aus dem Rahmen, da diese „eine weiße Flagge mit der Göttin der Freiheit, Libertas, darauf“ (S. 26) für sich als Symbol gewählt hat.
Bei Kapitän Misson und seinem engsten Vertrauten Caraccioli fällt zunächst deren für damalige Verhältnisse absolut ungewöhnliche Haltung auf. Denn die Geschichte, die in den beiden Libertalia-Kapiteln im zweiten Band der „Allgemeinen Geschichte der Piraten“ von 1728 über sie erzählt wird, ist an sich eher trivial. Beide ergreifen gemeinsam die Gelegenheit, ein Schiff zu übernehmen, und segeln plündernd und raubend durch die Weltmeere, bis sie sich im nördlichen Teil von Madagaskar mit Gleichgesinnten niederlassen und ihre Piratenrepublik Libertalia gründen. Diese wird später von Einheimischen zerstört. Dabei kommt Caraccioli ums Leben, Misson stirbt kurze Zeit darauf beim Untergang seines Schiffes.
Zu dieser Haltung gehört die anständige Behandlung von Gefangenen („ihre Gefangenen sollten sie so behandeln, wie sie selbst behandelt werden wollten“, S. 17), die Verteidigung bzw. Wiederherstellung der Menschenwürde („indem sie Seeleute [also gerade Gefangengenommene] ohne oder mit entwürdigender Bekleidung als Erstes aus gemeinschaftlichem Besitz neu einkleiden“, S. 198). Außerdem gleiche Rechte für alle und Gütergemeinschaft („dass alles allen gehören und die Habgier eines Einzelnen nicht das Eigentum aller verletzen solle“, S. 26), das Freiwilligkeitsprinzip (Gefangenen wurde das Angebot gemacht, anzuheuern, und sie, aber auch alle anderen Männer der Piratengemeinschaft, hatten das Recht, das Schiff zu verlassen und sich auszahlen zu lassen), gegen Sklaverei („dass es […] nie geziemlich sein könne, die eigene Art für Geld zu handeln, und dass kein Mensch Macht über die Freiheit eines anderen habe“, S. 39), die Ablehnung der Todesstrafe („dass es zu seinen [Missons] Glaubensgrundsätzen gehöre, dass niemand außer Gott allein, da er es schenke, Macht über das Leben eines anderen habe“, S. 78) sowie die Ablehnung von Religion („eine Fessel für den Geist der Schwachen“, S. 12).
All das basiert auf der Grundannahme, „dass jeder Mensch frei geboren sei und auf die Dinge, die er zum Leben brauche, ebenso viel Recht habe wie auf die Luft zum Atmen“. (S. 20) Das ist auch die Legitimation dafür, „rechtmäßig der ganzen Welt den Krieg [zu] erklären, weil sie ihn [Misson bzw. den Menschen ganz allgemein] der Freiheit beraubt habe, auf die er nach dem Naturgesetz ein Anrecht habe.“ (S. 23) Diese Haltung prägt auch ihr ganzes Selbstverständnis: „Sie seien keine Piraten, sondern Männer, entschlossen, die Freiheit zu behaupten, die Gott und die Natur ihnen geschenkt hätten; sie würden sich keinen anderen Regeln unterwerfen als denen, die für das Wohlergehen aller nötig seien. Gehorsam gegenüber Vorgesetzten sei nötig, wenn diese die Pflichten ihres Amtes kennten und danach handelten“. (S. 24) Dabei gebärdeten sie sich als Sozialrebellen, die „Krieg mit den Unterdrückern führe[n] und nicht mit den Unterdrückten.“ (S. 70)
Die Piratengemeinschaft von Kapitän Misson, aber auch die anderer Piraten, gaben sich sogenannte Piratensatzungen, von denen im Buch vier beispielhaft abgedruckt worden sind. Diese zeugen davon, dass sich diese Piratengemeinschaften selbstgewählte Regeln gaben. „Die Piratensatzungen nun wurden zu den ersten in die Praxis umgesetzten Vertragstheorien gezählt […] die eine Selbstverwaltung nach selbstgegebenen Gesetzen proklamierten.“ (S. 132) Aber was den Grad an gelebter Freiheit betrifft, ragt Libertalia heraus: „So praktizierten sie eine radikalere Demokratie, als es hundert Jahre später die Französische Revolution oder gar die Amerikanische fordern sollte […] Libertalia ragt aus der Zeit und bricht ihre Konventionen an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert.“ (S. 122)
Da die Piratenrepublik Libertalia im Verhältnis zu einem einzelnen Piratenschiff relativ groß geworden war, wurde das bisherige demokratische Verfahren („die direkte Demokratie der Piratensatzungen“, S. 121) zu einer repräsentativen Demokratie als selbstgewählte Regierungsform weiter ausgebaut. Motivation hierfür: „Denn wenn es keine verlässlichen Gesetze gebe, würden die Schwächsten immer zu leiden haben [und:] Die Leidenschaften der Menschen machten sie für die Gerechtigkeit blind und ließen sie stets ihre eigenen Interessen in den Vordergrund stellen.“ (S. 80) Aber ein wesentliches Prinzip blieb dabei: Keine Unterordnung unter andere Regierungen!
„wenn man aufhörte, uns als anrüchige Piraten zu beschimpfen […] Aber es ist ein lächerlicher Gedanke, dass wir uns noch größeren Schurken, als wir es selber sind, unterordnen werden.“ (S. 84)
In „Kommentar und Anmerkungen zu Libertalia“ heißt der letzte Abschnitt „Piraten als Anarchisten mit Verfassung“ (S. 180).
Das klingt wie ein Widerspruch in sich, ein Anachronismus. Und so heißt es auch deshalb: „Eine repräsentative Demokratie wie in Libertalia wird von den meisten Anarchisten abgelehnt, wie alle Formen der Vertragstheorien. Formen direkter Demokratie wie in den Piratensatzungen dagegen stehen hoch im Kurs.“ (S. 176-177) Aber letztendlich geht es doch darum, für sich als Mensch oder als Gemeinschaft, einen Weg in die Freiheit zu finden.
Mehrfach habe ich beim Lesen des Buches den Eindruck gehabt, dass manches, was sich auf einem Piratenschiff oder in der Piratenrepublik Libertalia im Kleinen abgespielt hat, sich auf unsere heutige Situation im Großen übertragen lässt.
„Dabei waren die Mannschaften der Piratenschiffe bunt zusammengewürfelt […] So globalisiert wie dieser buntscheckige Haufen erscheint uns erst die Gegenwart“ (S. 113-114). Mit dieser Kombination aus Gleichheit und Freiheit gelang es, zumindest auf den Piratenschiffen von Kapitän Misson, ein halbwegs friedliches Miteinander untereinander zu erreichen.
Und das in Form direkter bzw. radikaler Demokratie. Denn: „Die Piraten dagegen konnten sich bei ihrem Geschäftsmodell nicht auf staatliche Gesetze und Gewalt verlassen. Unter diesen Umständen, so die libertäre These Leesons, war die Demokratie für sie die beste Organisationsform.“ (S. 181-182)
Bezüglich dem Umgang mit Gefangenen in Libertalia heißt es an einer Stelle: „den Gefangenen wurde bei Todesstrafe [Anm. d. GWR-Säzzers: Ein Widerspruch zur obigen Behauptung, die Todesstrafe werde von den Piraten abgelehnt. Was denn nun?] verboten, die ihnen genannten Grenzen zu überschreiten, damit sie nicht ihre eigene Stärke entdeckten und revoltierten.“ (S. 68) Bezogen auf die heutige Zeit könnte das doch heißen: Das System bzw. die Mächtigen versuchen insbesondere durch die Massenmedien zu verhindern, dass das Volk hinter die Kulissen schaut, dass es sich seiner eigenen Stärke bewusst wird.
Das Buch „Libertalia“ ist deshalb heute noch lesenswert, um auszuloten, was sich davon, von seinen Inhalten – als politischer Gegenentwurf – für unsere heutige Situation sinnvoll einsetzen lässt. Deswegen sind auch offene Fragen, die im Kommentar diskutiert werden, eigentlich zweitrangig. Es ist bei diesen zwei Libertalia-Kapiteln nämlich nicht eindeutig geklärt (und wird es wohl auch nie werden), ob es sich um eine Utopie oder um eine wirkliche Begebenheit handelt. Auch ob der Autor ein gewisser Captain Charles Johnson gewesen ist, oder ob Daniel Defoe unter diesem Pseudonym diese Texte veröffentlicht hat, ist umstritten. Verwirrend ist auch, dass in der weiterführenden Literatur unterschiedliche Schreibweisen verwendet werden. Also: Libertalia oder Libertatia; Kapitän bzw. Captain Mission oder Misson?
Tatsache ist dagegen, dass dieser utopische Stoff Freidenker wie William S. Burroughs und Peter Lamborn Wilson aka Hakim Bey stark beeinflusst hat. Bei Burroughs zeigt sich dies insbesondere im Vorspann zu „Die Städte der Roten Nacht“, sowie in seinem späteren Buch „Ghost of Chance“, das von den Lemuren auf Madagaskar handelt. Die Bücher von Peter Lamborn Wilson bezüglich Piraten: Hakim Bey, „T.A.Z. Die Temporäre Autonome Zone“; Peter Lamborn Wilson, „Piraten Anarchisten Utopisten. Mit ihnen ist kein Staat zu machen“. Bezogen auf die T.A.Z. heißt es im Kommentar: „Libertalia ist für ihn [Bey] das Vorbild für eine zu schaffende anarchistisch befreite Zone innerhalb eines […] den Globus umspannenden Informationsnetzwerks von Piratenutopien.“ (S. 170)
In den Erläuterungen kann man folgenden bemerkenswerten Satz finden: „Die Bezeichnungen Türken, ‚Mohammedaner‘ […] werden vom Autor dem zeitgenössischen Gebrauch entsprechend synonym und abwertend gebraucht. Sie stehen für ‚die mohammedanische Bedrohung des christlichen Abendlandes'“ (S. 191). Demgegenüber steht PEGIDA für „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Die frappante Ähnlichkeit dieser beiden Begrifflichkeiten zeigt doch, dass sich viele Menschen in Europa im 21. Jahrhundert gegenüber denen im 17. & 18. Jahrhundert nicht wirklich weiterentwickelt haben!