Markus Henning / Rolf Raasch: Neoanarchismus in Deutschland. Geschichte, Bilanz und Perspektiven der antiautoritären Linken, Schmetterling Verlag, Stuttgart 2016, 298 Seiten, 14, 80 Euro, ISBN 3-89657-79-X
Im Zuge der 68er Revolte und dem Aufkommen der Neuen Linken entstand auch innerhalb des anarchistischen Spektrums der „Neoanarchismus“ – als eine Form des Neuen Anarchismus.
Dieser Neologismus ist allerdings im Gegensatz zum Begriff der Neuen Linken nur schwer zu definieren. Das zeigt sich auch in der beim Schmetterling Verlag neuaufgelegten Studie „Neoanarchismus in Deutschland. Geschichte, Bilanz und Perspektiven der antiautoritären Linken“ von Markus Henning und Rolf Raasch.
Der Begriff „Neoanarchismus“ ist bei lediglich durch die zeitliche Ebene (nach 1968), der Offenheit gegenüber dem / herauskommen aus dem (kritischen) Marxismus (Herbert Marcuse, Frankfurter Schule) und der Psychoanalyse sowie einer stark subkulturellen Orientierung in Abgrenzung vom Altanarchismus zu bestimmen. Diese Abgrenzung wird in einem eigenen Unterkapitel dargestellt (S. 142-147). Dementsprechend wäre dieser Begriff kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls definitorisch zu schärfen.
Dies ist allerdings nicht das Anliegen der beiden Autoren, die bereits 1990 ihre Diplomarbeit über das Thema geschrieben haben. Sie wollen „eine soziologische Bestandsaufnahme der Entwicklung vom Antiautoritarismus der ’68er Bewegung‘ hin zum Anarchismus.“ (S. 8). Dem hohen Anspruch werden Markus Henning und Rolf Raasch leider nicht gerecht, obwohl sie vom Background und auch vom Zugang zur Literatur her für eine solche Untersuchung prädestiniert gewesen wären.
Über eine weite Strecke wird die 68er Bewegung (SDS, Gruppe Spur, Situationisten, Provos) und Protagonisten und Vorläufer (Karl Korsch, Herbert Marcuse, Rudi Dutschke) dargestellt, wobei sich die Autoren an den obligatorischen Standardwerken über diese Bewegung orientieren (Tilman Fichter, Wolfgang Kraushaar, Siegward Lönnendonker). Sofern es möglich ist, verweisen sie auch auf eine Öffnung hin zum Anarchismus, wobei sie weitgehend auf bereits publizierte Erkenntnisse (z.B. Texte von Günter Bartsch und Hans Jürgen Degen) zurückgreifen. Sie stellen es zwar gut dar, aber es bietet für die KennerInnen der entsprechenden Sekundärliteratur nur wenig Neues.
Von Relevanz erscheinen mir hier die Auseinandersetzung mit dem Anarchismuskonzept von Rudi Dutschke und Bernd Rabehl.
Dieser erste Teil mündet in einer Bestandsaufnahme der in den 2010er Jahren existierenden Strömungen des Neoanarchismus, was leider dürftig ausfällt.
Einer näheren Analyse wird der Anarchistische Arbeiterbund (AAB) unterzogen, in dem einer der beiden Autoren damals aktiv war. „Dieser nimmt auch dahingehend eine gewisse Sonderstellung ein, als Einzelfallbeschreibung neoanarchistischer Organisationsversuche und ihrer jeweiligen politischen Arbeit für uns kein vorrangiges Anliegen war.“ (S. 13). Gründe für dieses Abweichen von ihrem sonstigen Vorgehen geben sie nicht an.
Im zweiten Teil widmen sich Henning und Raasch der Spurensuche nach Anarchismus in der DDR, konkret in der Endphase der DDR. Dieser Teil ist über weite Strecken aber nur eine allgemeine Darlegung der politischen Situation in der DDR mit ein paar ebenfalls oberflächlichen Ausflügen in das Spektrum der Opposition. Sie haben dabei leider weder die bereits existierende Forschung gründlich rezipiert noch eigenständige Forschung unternommen. Hier wären unter anderem auch der Quellenband „mOAaning star. Eine Ostberliner Untergrundpublikation 1985 – 1989“ und die Memoiren von Kurt Wafner („Ausgeschert aus Reih‘ und Glied“) zu rezipieren gewesen.
Die Arbeit weist streckenweise – z.B. im Kapitel „Methodische Vorbemerkungen“ – den typischen Unihausarbeitscharakter auf. Dies hätte sich bei der Neuauflage – elf Jahre nach der Erstauflage (1) beim Oppo-Verlag – ändern lassen. Weder der Begriff „Anarchismus“ noch „Neoanarchismus“ werden direkt von den Autoren definiert, so dass sich gerade mal an einzelnen Eckpunkten erahnen lässt, wie breit (fast schon bis zur Unkenntlichkeit) sie den Begriff dehnen.
Als Kriterien zur Zuordnung von Individuen, Gruppen oder Strömungen werden sowohl Selbstbeschreibung als auch die Übereinstimmung mit anarchistischen Positionen und Praktiken herangezogen, d.h. die Verwendung von „Direkten Aktionen“ zur Erreichung der anvisierten Ziele oder das Konzept der „Propaganda der Tat“. Die Einordnung oder Ablehnung der Zuschreibung wirkt daher z.T. willkürlich und esoterisch. Dies zeigt sich z.B. in der Auseinandersetzung mit den Autonomen, wo über deren Zuschreibung zum Anarchismus als Gegenargument angeführt wird: „Wenn sich auch Teile der ‚Autonomen‘ punktuell auf den Anarchismus berufen haben, ist ihre häufig gewaltförmige, rein konfrontative Anti-System-Opposition nur sehr schwer mit der ‚Propaganda der Tat‘ zu vergleichen.“ (S. 188). Gleichzeitig werden andere Vertreter der Neuen Linken, die sich ebenfalls mit dem Label versahen, unhinterfragt zum Spektrum gezählt. Der Provokationscharakter, den der Begriff „Anarchismus“ als Selbsttitulierung gehabt hat, wird nicht in die Überlegungen einbezogen.
Einzelne Strömungen des neueren Anarchismus wie z.B. die anarchistisch ausgerichtete Punk- und Redskin-Szene (Anarchopunk, RASH etc.) finden überhaupt keine Erwähnung in der Darstellung. Selbst die, der mit einem eigenen Unterkapitel bedachten Freien ArbeiterInnen Union nahestehende Anarchosyndikalistische Jugend (ASJ) findet keine Erwähnung.
Den Autoren muss man zu Gute halten, dass ihr Werk eines der wenigen auf weiter Flur ist, was sich dem Themenkomplex „Neoanarchismus in Deutschland“ nähert. Seit Ende der 1970er bis in die 2000er Jahre hinein, lagen zum Thema im Wesentlichen nur die Studien von Hans Manfred Bock („Geschichte des linken Radikalismus‘ in Deutschland“) Günter Bartsch („Anarchismus in Deutschland“), Holger Jenrich („Anarchistische Presse in Deutschland 1945 – 1985“) und Bernd Drücke („Libertäre Presse in Deutschland 1985 – 1995“) sowie agitatorische Publikationen aus der DDR vor.
Mittlerweile sind zwar u.a. auch Arbeiten von Hans Jürgen Degen („Anarchismus in Deutschland 1945-1960“, „Die Wiederkehr der Anarchisten. Anarchistische Versuche 1945 – 1970“) erschienen, die einen Teil dessen abdecken.
Vor diesem Hintergrund ist die Studie von Henning und Raasch wichtig. Dennoch ist es ärgerlich, dass die hier vorliegende Neuauflage, die zwar um ca. 1/3 Text gegenüber der Erstauflage angewachsen ist, noch diese Schwachstellen aufweist.
Gerade Markus Henning, der in der anarchistischen Bibliothek der Freien in Berlin mitgearbeitet hat, hatte einen privilegierten Zugriff sowohl auf Quellen als auch auf Literatur zum Thema.
Wieso er sie kaum genutzt hat, bleibt offen. Insofern bleibt der Band eine erste Übersicht und Rekonstruktion der Entstehung jener Strömung – und vielleicht eine Basis für weitere Forschungen und ergänzende Studien.
(1) Vgl.: Neoanarchismus. Rezension von S. Münster, in: Graswurzelrevolution Nr. 301 (Libertäre Buchseiten), Oktober 2005.