Wu Ming 54. Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2016, 528 Seiten, 24,80 Euro, ISBN 978-3-86241-441-3
„54“ von Wu Ming, das ist der Roman über das Jahr, als Cary Grant „Über die Dächer von Nizza“ kletterte und der Viet Minh die französischen Kolonialherren besiegte.
„Wu Ming“ sind fünf italienische Autoren. Vier von ihnen haben uns als subversives Agit-Prop Quartett „Luther Blisset“ bereits den phänomenalen Roman „Q“ geschenkt, der Revolten in der Reformationszeit schildert. Nun, nicht minder ungewöhnlich, wenden sich die Autoren der Nachkriegszeit zu, die es ihrer Ansicht nach allerdings gar nicht gibt. „Als die Front sich entfernte, nannten die Tore es Friede‘.“
In „54“, in der hervorragenden Übersetzung von Klaus-Peter Arnold und mit der verblüffenden Chronik genau dieses Jahres, steckt noch viel mehr als kritische Geschichtsschreibung. Tatsächlich reibt man sich zunächst verwundert die Augen und versucht zu verstehen: Was haben desertierende Soldaten der italienischen Armee 1943 mit dem unter Burnout leidendem englisch-amerikanischem Schauspieler Cary Grant zu tun, der 1954 vom englischen Secretservice auf geheime Mission geschickt wird? Und wer hätte gedacht, dass hinter dem melancholischen Lächeln von Grant auch Schuldgefühle eines Mannes stecken, der hilflos mitansehen musste, wie eine ehemalige Geliebte durch die Hexenjagd der McCarthy-Ära in den USA in die Irrenanstalt gebracht wurde? Oder was verbindet die junge Frau aus der Arbeiterklasse, die ihren um eine Generation älteren, anerkannten Ehemann die Hörner aufsetzt, mit dem grausigen Grinsen von Steve „Cemento“, der rechten Hand von Lucky Luciano, den aus den USA ausgewiesenen Mafiaboss?
Manche werden darauf gestoßen, dass es nicht nur den einen übervaterhaften Antifaschisten, Josip Broz Tito, gab, sondern viele tausend italienische und jugoslawische Partisanen, deren Geschichten bis dato wenig erzählt worden sind. Als Stalin endlich tot ist, öffnet sich womöglich auch für die freien Geister in ihren Reihen das Tor zu einem wirklichen Sozialismus!? Denn einige ehemalige Partisanen wollten nicht als Staatsmänner enden, sondern verzogen sich lieber in die Berge, wo sie mit ihren alten Gewehren ihre Ziegen verteidigten. Andere verhökerten gestohlene Fernseher. Verwirrung ist in „54“ Methode zum tieferem Verständnis. Denn nicht zuletzt der regelmäßige Perspektivwechsel der unterschiedlichen Charaktere macht das Geschehen greifbar und verständlich. Die Autoren warten dann noch mit einem kleinen Wunder auf: Mit einem „McGuffin Electric“ Fernsehapparat aus den Beständen der US-Armee, der seine Geschichte selbst erzählt. Nicht zufällig wohl ist er nach dem irischen Anarchisten, Anwalt, Schriftsteller und Herumtreiber Sean McGuffin benannt.
Es ist der junge Pierre Capponi, bei dem alle Fäden zusammenlaufen. Er bricht nach Jugoslawien auf, um seinen verschollenen Vater zu suchen, der dort als ehemaliger kommunistischer Partisan zunächst die Nazis bekämpfte und dann den Sozialismus aufbauen wollte. Für Pierre beginnt eine Odyssee; – sowohl seine Erlebnisse, als auch die darin verwobenen Einblicke in die Gesellschaften Italiens, Jugoslawiens, Englands und der USA werden lebendig geschildert.
Wenn es also zu Beginn nicht ganz einfach sein mag, in die Handlung hineinzufinden, wird die für die Lösung der aufgeworfenen Rätsel notwendige Aufmerksamkeit doch reichlich belohnt, wenn sich im letzten Drittel des Romans alle Handlungsstränge zusammenfügen. Die entstehende grandiose Mischung aus Irrwitzigkeit und Tragik wird (nur) so absolut glaubhaft. Denn dies ist die wahre Geschichte eines dann doch überraschend liebenswerten Cary Grants, einiger urtümlicher, in ihrem eigenen Café Billard spielender und schimpfender Kommunisten von Bologna, die Geschichte von philosophischen Dichtern und anderen Schöngeistern, die auf skrupellose Heroindealer treffen, und schließlich in einer weiteren Nebenrolle neben dem sprechenden Fernseher eine unscheinbare Taube, – der helle Wahnsinn also!
Der Roman „54“ gleicht den geheimen Gängen und verwinkelten Gassen Neapels mit ihren dunklen Ecken, mit dem salzigen Geruch von Meeressehnsucht und Weite und dem unbeugsamen Willen, die eigenen Träume trotz widriger Umstände nicht aufzugeben. Das Ganze, gewürzt mit einem Schuss Melancholie, ist durchtränkt mit vergeudeten rotem Blut und verzweifelter erotischer Leidenschaft. Fazit: Absolut lesenswert!