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Die Anarchafeministin Rirette Maîtrejean

Die Biographie der Attentatskritikerin und Individualanarchistin ist eine Mahnung zur Selbstkritik

| Kerstin Wilhelms-Zywocki

Lou Marin. Rirette Maîtrejean. Attentatskritikerin, Anarchafeministin, Individualanarchistin, Verlag Graswurzelrevolution, Heidelberg 2016, 262 Seiten, 16,90 Euro, ISBN 978-3-939045-26-7

Lou Marin legt mit seinem neuen Buch „Rirette Maîtrejean. Attentatskritikerin, Anarchafeministin, Individualanarchistin“ mehr vor als nur die Biographie einer Grand Dame des französischen Anarchismus, es handelt sich vielmehr um eine Denkschrift, die zu beständiger Kritik der eigenen Kritik aufruft.

Marin konturiert Maîtrejean (1887 – 1968) als eine wissbegierige Frau, der die Lebensentwürfe und Rollenbilder der bürgerlichen Gesellschaft des endenden 19. Jahrhunderts zu eng sind und die sich vor allem aus intellektueller Neugier der anarchistischen Bewegung anschließt. Diese wird jedoch als nicht weniger patriarchalisch gezeichnet, trotz aller Betonung der ‚freien Liebe‘.

So wird z.B. die Entscheidung, der individualanarchistischen Bewegung und nicht dem kommunistischen Anarchismus beizutreten, als eine Wahl zwischen zwei patriarchalischen organisierten Gruppierungen dargestellt: „Bei den Kommunisten wird die Frau auf solch eine Rolle reduziert, dass man nie mit ihr diskutiert, nicht einmal vor einer Diskussionsveranstaltung.

Es stimmt, dass das unter den Individualanarchisten nicht viel anders war. Trotzdem zog ich den Individualismus vor.“ (S. 26)

Die Position der Frau ist eine prekäre, so dass Maîtrejean schon bald als Kritikerin der eigenen Gefährten auftritt.

Dies freilich ist sie auch in Bezug auf die im Buch zentrale Auseinandersetzung zwischen den gewaltbereiten und den gewaltfreien AnarchistInnen im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts. Maîtrejeans Schriften, aus denen umfangreich zitiert wird und die teilweise als Anhang beiliegen, verdeutlichen die kritische Kraft ihrer Worte.

Ein Beispiel: „In der Anarchie sind die Rechte aller gleich. Daraus ergibt sich logisch, dass niemand ein besonderes Recht besitzt. Das ist die Theorie. […] Aber in der Praxis sieht das ganz anders aus. Das Waffenlager der anarchistischen Gesetzgebung ist nicht schwer zu beschreiben. Wieder einmal wurde dort bewiesen, dass das Recht des Stärkeren als höchstes Recht gilt.“ (S. 32)

Mit Zitaten wie diesen zeichnet Marin das Bild einer Anarchistin, die sich nicht scheut, die Positionen ihrer eigenen MitstreiterInnen kritisch zu reflektieren und diese Kritik auch öffentlich zu äußern. Der Schlüsselsatz des gesamten Buches findet sich auf Seite 142: „Die wirkliche Delegitimierung der Politik anarchistischer Attentate kam von ihr, direkt aus dem Herzen des individualistischen Anarchismus.“ Marin macht seine Heldin somit zu einem Exempel für ein konsequentes und konstruktives Hinterfragen der eigenen Prämissen und Weltanschauungen.

In der Einleitung gibt Marin einen prägnanten Abriss über die anarchistische Bewegung in Frankreich um 1900 und deutet bereits Maîtrejeans kritische Sicht der sogenannten ‚Propaganda der Tat‘ an.

Die ‚Propaganda der Tat‘ steht für terroristische Anschläge und Attentate, die Marin als „relativ perspektivlose Verzweiflungs- oder Rachetat[en] und als Antwort auf den Staatsterror in Krisenzeiten der Bewegung“ (S. 9) qualifiziert. In den folgenden drei Kapiteln verfolgt Marin die Lebensstationen Maîtrejeans nach und fokussiert dabei ihren Mut, sich vor allem in der Frage der Gewaltanwendung gegen die eigenen GenossInnen zu stellen und den entsprechenden Gegenwind zu ertragen. Der Autor hat umfassend recherchiert und so gelingt es ihm, Maîtrejeans Umfeld und – besonders spannend – ihre Verbindung zu Albert Camus minutiös nachzuzeichnen. Marins einfühliger Stil mag dabei zunächst befremden, jedoch führt dies dazu, den Text unterhaltsamer und seine Figur plastischer zu gestalten.

Lediglich die gelegentlichen Bezüge zum islamistischen Terrorismus, (z.B.: „Er [Ravachol, einer der anarchistischen TerroristInnen, K.W-Z.] war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und bereits als Jugendlicher kriminell geworden. Ganz ähnlich sehen übrigens die frühen Lebenswege heutiger islamistischer Attentäter aus […].“ S. 11) haben einen zweifelhaften Informationswert und wirken daher etwas deplatziert. Insgesamt jedoch überzeugt der durchaus auch humorvolle schriftstellerische Stil.

„Rirette Maitrejean“ ist ein echtes Lesevergnügen und es ist als Verdienst des Autors und des Verlags Graswurzelrevolution zu werten, dass mit solchen Büchern wichtige und auch streitbare (Frauen-) Figuren der anarchistischen Bewegung nicht in Vergessenheit geraten.

Anmerkung der GWR-Red.

Das "Rirette Maîtrejean"-Buch wird in den nächsten Wochen bundesweit bei zahlreichen Veranstaltungen vorgestellt. Siehe Terminhinweise in der Anzeige des Buchverlags Graswurzelrevolution auf Seite 3 der Libertären Buchseiten.

PDF: Libertäre Buchseiten Oktober 2016 (GWR 412)