Nanni Balestrini: Landschaften des Wortes. Hg. von Thomas Atzert, Andreas Löhrer, Reinhard Sauer, Jürgen Schneider, Assoziation A, Hamburg/Berlin 2016, 224 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86241-445-1
Anlässlich von Nanni Balestrinis 80. Geburtstag haben die Übersetzer Thomas Atzert, Andreas Löhrer, Reinhard Sauer und Jürgen Schneider eine Sammlung von Reportagen, Collagen, Gedichten, Graphiken und Rezensionen in der Assoziation A herausgegeben. Nanni Balestrini ist ein kompromissloser italienischer Schriftsteller, Autor und Aktivist, der bereits in den siebziger Jahren durch seine Romane „Vogliamo tutto“, „Wir wollen alles“, hier von Jost Müller dargestellt, „Die Unsichtbaren“ und „Der Verleger“ berühmt wurde. 1979 musste er im Zuge der gnadenlosen Verfolgung der radikalen linken Opposition aus Italien fliehen, auf Skiern über die Alpen. In Frankreich erhielt er politisches Asyl, bis die gegen ihn konstruierten Vorwürfe in sich zusammenfielen.
Ein Schwerpunkt des Bandes sind die Geschichten der Arbeiter-Autonomie und die neuen selbstbestimmten Kämpfe gegen das Warensystem, die Anfang der sechziger Jahre vor allem bei Fiat in Turin beginnen. Die Fabrikarbeiter wollen nicht mehr auf die in das System integrierte kommunistische Partei KPI und die Gewerkschaften hören. Sie revoltieren auch mit Militanz gegen ihre Fließbandmaloche, besetzen die Tore der Fabrik und stehen so zusammen mit anderen Revoltierenden kurz davor, zumindest in ihren Hochburgen den Kapitalismus aus den Angeln zu heben.
„Und es begann die Zeit die Autonomie“, wie es Karl Heinz Roth ausdrückte, der in seinen wegweisenden Schriften jenen rebellischen Geist weitertrug. Nicht alleine, versteht sich, im gleichen Atemzug erwähnt werden müssen Detlef Hartmann, dazu „Geronimo“, der Chronist der deutschen Autonomen, oder der Schriftsteller Peter-Paul Zahl. Nicht zu vergessen Weggefährten Balestrinis wie Umberto Eco, Peter O. Chotjewitz, Franco Berardi Bifo, Raffaela Perna, Michael Wildenhain, Jörg Burkhard, Hanna Mittelstädt, Paul Virilio und Bert Papenfuß, die zu dem Sammelband Beiträge lieferten, und ungezählte andere, die, prominent oder weniger bekannt, nur zusammen jene Schritte in die Freiheit vollbringen konnten, um die es hier geht.
Kämpfe, deren Beweggründe im Band selbst mehrfach auf den Punkt gebracht werden. Etwa in dem Gedicht „Poesie über die bleierne Zeit und die beschissenen Jahre“ übersetzt von Andreas Löhrer. Stellvertretend für alle Übersetzer sei hier angemerkt, dass wohl nur die allerbesten Balestrinis Texte und ihren Geist überhaupt so übertragen können:
„denn jetzt gibt es anderes zu tun
jetzt da es vorbei ist mit der herrlichkeit
weil es nichts mehr zu plündern gibt
jetzt da alles von vorn begonnen werden muss
jetzt da auch die worte geplündert werden
und wir die wir uns um ihren erhalt kümmern
versuchen müssen den worten einen sinn zu verleihen
appellieren wir an euch komparsen und zuhörer
ihr für die wir im grunde all dies tun
jetzt wie in anderen finsteren zeiten
wo ein gespräch über bäume fast ein verbrechen ist
hört uns noch einmal zu mit nachsicht“
Wie Hanna Mittelstädt es in ihrem Beitrag ausdrückt: „Diese Freiheit macht das Großartige von Balestrinis Schreiben aus, die klare Luft zum Atmen wie auf einer Hochebene, auf der einen nichts bedrängt, die Einfachheit der Form fördert die Klarheit der Gedanken.“
„Landschaften des Wortes“ ist ein treffender Titel dieses nach mehr Balestrini gierig machenden Buches. Und dem kann abgeholfen werden: Neben anderen Romanen wurde die Romantrilogie „Die große Revolte“ ebenfalls bei Assoziation A veröffentlicht.
Diese Landschaften sind so vielfältig, dass, sollte sich jemand in einem Gedicht oder einer Collage nicht zurechtfinden, die Lust bleibt weiterzugehen. Das ist es, was Balestrini möchte: Nicht stehenbleiben, sich nicht zufrieden geben, immer weitergehen und während leidenschaftlicher Begegnungen sich immer wieder neu ein einziges, oft gestohlenes und entstelltes Wort aneignen: Revolution.