David Porter: Entfachte Utopie. Emma Goldman über die Spanische Revolution. Aus dem amerikanischen Englisch von Margarita Ruppel, Unrast Verlag, Münster 2016, 480 Seiten, 24,80 Euro, ISBN 978-3-89771-214-0
Die „rote Emma“ ist die bekannteste Anarchistin des 20. Jahrhunderts. Dies zeigt nicht zuletzt die breite und positive Resonanz auf ihre Memoiren, die die Edition Nautilus 2010 in neuer Übersetzung herausgab (vgl. Antje Schrupps Rezension, in: GWR 354). Im November 2010 stand ihre Autobiographie auf Platz 1 der Sachbuch-Bestenliste von NDR und SZ.
Emma Goldman, geboren 1869 in Kowno, heute Litauen, hatte sich nach ihrer Emigration in die USA Ende der 1880er Jahre der anarchistischen Bewegung angeschlossen, die damals noch von den deutschen Emigranten um Johann Most dominiert wurde. 1906 gründete sie die Monatszeitschrift „Mother Earth“, in der aus anarchistischer Perspektive Artikel über Frauenemanzipation, Arbeiterbewegung, Erziehung, Kunst etc. publiziert wurden. Die Zeitschrift, deren LeserInnen und AutorInnen sich aus dem gesamten Spektrum der radikalen Linken rekrutierten, und ihre großen rhetorischen Fähigkeiten machten die „rote Emma“ zu einer prominenten Figur in den USA und in der internationalen anarchistischen Bewegung. Wegen ihrer Antikriegspropaganda wurde sie 1917 verhaftet und Ende 1919 als unerwünschte Ausländerin zusammen mit Alexander Berkman in die Sowjetunion deportiert.
Nach der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands durch die Rote Armee verließen Goldman und Berkman die Sowjetunion und lebten einige Jahre in Berlin. Durch die Heirat mit dem schottischen Anarchisten James Colton erhielt Goldman die britische Staatsbürgerschaft und zog nach London, wo sie sich aber politisch isoliert fühlte. 1929 erwarb sie dank der Unterstützung von FreundInnen ein Haus in St. Tropez, wo sie ihre Memoiren schrieb. Über ihre persönliche Situation in den 1930er Jahren schreibt David Porter:
„Trotz endloser Briefe, Artikel und Reden, die den Tatendrang vieler anderer womöglich befriedigt hätten, vermisste Goldman schmerzlich eine lokale Basis für den direkten Aktivismus. In ihrem persönlichen Gefühl der Isolation spiegelte sich in der Tat die allgemeine, untragbare politische Situation – die wachsende Popularität sowohl linker als auch rechter, autoritärer Bewegungen beim Volk. Goldman drohte in diesem Vakuum zu ersticken, doch ihr starker Idealismus, ihre endlose Korrespondenz und ihr regelmäßiger Kontakt zu Berkman gaben ihr die nötige Kraft zum Weitermachen. Im Juni 1936 brach letztere Unterstützung allerdings weg, als sich Berkman nach langer Depression wegen seines Exils und seiner Krankheit das Leben nahm. Für Goldman brach eine Welt zusammen. Nur noch mechanisch kommunizierte sie mit ihren Kontakten in den USA. Drei Wochen später brach in Spanien die Revolution aus.“ (S. 40)
Die Spanische Revolution erlöste sie aus dieser schweren Depression. Im August 1936 erreichte sie ein Brief Augustin Souchys, der damals die Auslandsleitung der CNT-FAI leitete, und sie bat, die Revolution zu unterstützen. Sie reiste nach Barcelona, arbeite in der Auslandsabteilung der CNT-FAI und unternahm mehrere Reisen durch das revolutionäre Spanien; u.a. mit dem niederländischen Anarchisten Arthur Lehning und den deutschen Anita Karfunkel und Hans Erich Kaminski. Schweren Herzens verließ sie im Dezember 1937 Barcelona. Sie hatte sich von den spanischen GenossInnen überzeugen lassen, dass ihre Arbeit im Ausland wichtiger als in Spanien sei. In London war sie nun Vertreterin der CNT-FAI und versuchte Solidaritätsaktionen zu organisieren. 1937 und 1938 reiste sie jeweils für zwei bis drei Monate nach Spanien.
„Bei seiner Erstveröffentlichung im Jahr 1983“, schreibt Porter im Vorwort der jetzt übersetzten zweiten Auflage von 2006, „hatte Entfachte Utopie (Vision on Fire) drei Hauptziele. Mein erstes Ziel bestand darin, die erste detaillierte Darstellung und Analyse der letzten Etappe in Emma Goldmans militantem Leben als Anarchistin zu erstellen. Bis dahin gab es kaum Publikationen zu ihren Schriften und ihrem Aktivismus bezüglich des spanischen Anarchismus. Zweitens wollte ich eine neue Informations- und Analysequelle zur Revolution und zum Bürgerkrieg im Spanien der späten 1930er Jahre sowie zu bestimmten Diskussionen über diese Zeit innerhalb der internationalen anarchistischen Bewegung schaffen. Als international anerkannte, langjährige Anarchistin stand Emma Goldman im Mittelpunkt intensiver Korrespondenz, die die damaligen Ereignisse sowohl für die spanischen AnarchistInnen als auch für die gesamte internationale Bewegung beleuchtete. Schließlich wollte ich Goldmans persönliche und öffentliche Beobachtungen in einem Format präsentieren, welches zum Dialog mit den heutigen LeserInnen anregt. Indem ich ihre Gedanken in thematisch aufgeteilten Kapiteln ordnete und in den Einleitungen jeweils den spanischen und andere historische anarchistische Kontexte mit heutigen Problemstellungen verknüpfte, wollte ich Emma Goldman in die Gegenwart bringen und mit allgemeinen Fragestellungen verbinden, die auch heutige antiautoritäre AktivistInnen beschäftigen. (Solch eine Verbindung lädt ebenso die heutigen AktivistInnen dazu ein, die Spanische Revolution besser zu verstehen.“ (S. 7).
Dieses Ziel hat Porter in hervorragender Weise erreicht. Obwohl seit 1983 eine Reihe von Arbeiten über Emma Goldman, der Spanischen Revolution und dem spanischen Anarchismus erschienen sind, ist seine Arbeit immer noch aktuell. In keinem anderen Buch wird der politische aber auch der mentale Konflikt zwischen der internationalen anarchistischen Bewegung und den spanischen GenossInnen so anschaulich und nachvollziehbar geschildert wie bei Porter. Eines der zentralen Themen des Buches ist „die Debatte darüber, ob Kompromisse oder Änderungen der eigenen Strategie als Verrat oder weise Weiterentwicklung anzusehen sind, hat die Bewegung über die Jahre stets in Mitleidenschaft gezogen“ (S. 47).
Auch Goldmans Haltung gegenüber Spanien folgte einer „Zickzacklinie“: „Dreimal wechselte sie von einem puristisch kritischen, isolierten Standpunkt zu einer durchweg begeisterten Unterstützung der spanischen AnarchistInnen und wieder zurück.“ (ebd.)
In ihrer Ansprache zum Kongress der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) im Dezember 1937 in Paris, der von scharfen Kontroversen zwischen der CNT und den anderen Sektionen der IAA begleitet war, brachte sie ihre Ambivalenzen folgendermaßen auf den Punkt:
„Ich bin geneigt, zu glauben, dass das Urteil der KritikerInnen aus unseren Reihen außerhalb Spaniens weniger streng ausfiele, wenn auch sie dem Kampf um Leben und Tod der CNT-FAI nähergekommen wären – nicht, dass ich mit ihrer Kritik nicht einverstanden wäre. Ich teile sie zu 95%. Ich betone, dass unabhängiges Denken und das Recht auf Kritik stets unser größter Stolz gewesen ist, ja das Bollwerk des Anarchismus. Das Problem mit unseren spanischen GenossInnen ist ihre besondere Empfindlichkeit gegenüber Kritik oder gar Ratschlägen von GenossInnen aus dem Ausland.
Sie sollten jedoch verstehen, dass ihre KritikerInnen nicht von Feindseligkeit geleitet werden, sondern von ihrer großen Besorgnis um das Schicksal der CNT-FAI. ( ) Wenn unsere spanischen GenossInnen das bloß verstehen könnten, dann wären sie weniger aufgebracht und würden ihre KritikerInnen nicht als Feinde betrachten. Ich befürchte, dass die KritikerInnen ebenso Schuld tragen. Sie sind nicht weniger dogmatisch als die spanischen GenossInnen. Sie verurteilen ungehalten jeden Schritt, der in Spanien unternommen wird. ( ) Es wurde angemerkt, dass unsere GenossInnen aus allen Ländern großzügige Summen und zahlreiche KämpferInnen zum spanischen Kampf beigetragen hatten und dass es ausgereicht hatte, sie zu bitten. Meine lieben Genossinnen und Genossen, wir sind ja nun aus derselben Familie und unter uns. Daher brauchen wir nicht um den heißen Brei herumzureden. Eine bedauernswerte Tatsache ist, dass es keine wirkliche anarchistische oder anarchosyndikalistische Bewegung außerhalb Spaniens gibt, außer in Schweden und in kleinerem Rahmen in Frankreich“ (S. 404).
Es ist dem Unrast Verlag hoch anzurechnen, dass er das verlegerische Risiko eingegangen ist, Porters Arbeit in deutscher Übersetzung zu publizieren.
Im Kontrast dazu steht aber leider die editorische Sorgfalt. Im Unterschied zum englischen Original fehlt ein Personenregister, was den Gebrauchswert des Buches besonders für den historischen Laien unnötigerweise einschränkt. Es fehlt ein Hinweis darauf, dass mittlerweile der Nachlass Goldmans im Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam digitalisiert ist. (1)
Zu seinem großen Bedauern war Porter 1983 noch die Publikation längerer Passagen vom IISG nicht gestattet worden. So war er „gezwungen, die entsprechenden Texte, so gut es ging, unter diesen willkürlich einschränkenden Bedingungen zu verwerten“ (S. 19). Interessierte LeserInnen haben nun die Möglichkeiten, die von Porter paraphrasierten Briefe Goldmans im Original zu lesen. Und zu guter Letzt hätte die Publikation gewonnen, wenn in einem Vorwort zur deutschen Ausgabe Goldmans Beziehungen zu den deutschen AnarchosyndikalistInnen detaillierter ausgeführt worden wären. Denn zum einen waren ihre wichtigsten Briefpartner Rudolf Rocker und Helmut Rüdiger und zum anderen setzte sie sich für die Freilassung der nach den Mai-Tagen inhaftierten deutschen und internationalen Anarchosyndikalisten ein und besuchte sie im Gefängnis (S. 207-210).
So bleibt auf einen großen Erfolg des Buches zu hoffen, damit der Verlag alle die genannten Kritikpunkte bei der hoffentlich bald erscheinenden zweiten Auflage des Buches korrigieren kann.