Tilman Leder: Die Politik eines "Antipolitikers". Eine politische Biographie Gustav Landauers, Band II, Reihe "Ausgewählte Schriften", hrsg. von S. Wolf, Edition AV, Lich 2014, S. 400-896, 49,90 Euro für 2 Bde., ISBN 978-3-86841-098-3
Der zweite Band der Gustav Landauer-Biographie Tilman Leders (Rezension zu Band I siehe GWR 408, S. 24) erstreckt sich von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in deren Mittelpunkt die anarchistische Organisation des Sozialistischen Bundes (im Weiteren: S.B.) mit der 2. Folge der Zeitung „Der Sozialist“ (1909-1915) steht, über die Kriegszeit bis hin zur Revolution in Bayern und der Münchner Räterepublik im April 1919.
Politik, Praxis und interne Diskussionen des S.B., aber auch das Verhältnis zu anderen Strömungen wie kommunistische AnarchistInnen, frühe lokalistische AnarchosyndikalistInnen und Zeitungen wie „Revolution“ und „Der freie Arbeiter“ sind wohl noch nie so detailliert und materialreich dargestellt worden. Sie umfassen 300 Seiten dieses 2. Bandes. Landauer zeigt sich dabei als getreuer deutscher Vertreter der mutualistisch-kollektivistischen Strategie Proudhons, aus dem Kapitalismus auszutreten durch die Gründung vor allem von Siedlungen, in zweiter Linie von Konsumgenossenschaften.
Sozialismus war für Landauer wesentlich eine Agrarfrage und eine Frage des Bodens, auf dem dieser Ausstieg stattfinden kann. Zweck von Organisation und Zeitung des S.B. war allerdings zunächst die Sammlung von Ausstiegswilligen und das Propagieren dieses Ansatzes.
Es kam, von der lange bestehenden lebensreformerischen Kolonie Eden bei Oranienburg abgesehen (S. 432), kaum zu praktischen Umsetzungen.
Diese Strömung war klein, der „Sozialist“ hatte anfangs eine Auflage von ca. 5000, vor dem Ersten Weltkrieg nur noch 1500, die Anzahl der unsteten Mitgliedsgruppen lag selbst zu besten Zeiten bei kaum mehr als 20 (aufgeführt S. 553ff.).
In den Jahren vor der Gründung des zweiten „Sozialist“ entwickelte sich Landauers Kontakt und auch eine Liebesbeziehung zur Schweizer Gewerkschaftssekretärin Margarethe Faas-Hardegger. Ich habe Regula Bochslers Hardegger-Biographie (Pendo, Zürich 2004), die auch Leder auswertet, kurz vor dieser Landauer-Biographie gelesen und es bleibt mir ein bitterer Beigeschmack, was den Umgang Landauers mit Hardegger betrifft, die begeistert auf Landauers Kurs umschwenkte und anfangs 2000 „Sozialist“-Exemplare in der Schweiz vertrieb, als Redakteurin für die Zeitung vorgesehen war, bevor ihr Landauer schnell die redaktionelle Leitung aus der Hand nahm. Auch im größten inhaltlichen Streit mit ihr, in dem sich Landauer gegen Hardeggers Verständnis von freier Liebe und Mutterrecht mit einer Verteidigung der Ehe (wenn auch ohne Trauschein) als dem kleinsten, natürlichen Bund von Bünden wendete, und in den auch Erich Mühsam verwickelt war, trat Landauer zurechtweisend und unehrlich auf: Laut Bochsler zwang er Hardegger dazu, seiner Ehefrau Hedwig Lachmann das Liebesverhältnis zu verschweigen, obgleich Hardegger die Familie in Berlin besuchte. Landauer praktizierte also die freie Liebe zu seinen Bedingungen, propagierte aber theoretisch das Gegenteil.
Mühsam zwang Landauer immerhin theoretische Zugeständnisse ab, doch ließ Landauer Hardegger in ihrer Situation ziemlich allein. Dies wiederholte sich später auch noch einmal, als sich Hardegger in einer Zwangslage sah, weil sie einen früheren Genossen, Ernst Frick, mittels eines Meineids vor Gericht vor Repression für eine Tat, die sie nicht unterstützt hat, schützte und dafür sogar 1913 einige Monate ins Gefängnis musste. In der Zeit starb ihr Vater – und ausgerechnet in diesem Moment entzog ihr Landauer den Schweizer Vertrieb des „Sozialist“ ganz (S. 637ff.). Es war ein unsensibles Verhalten, ganz auf Sicherung bedacht, dabei hatte Hardegger außergewöhnliche organisatorische und agitatorische Fähigkeiten, was sie Mühsam bei Besuchen in München unter Beweis stellte.
Leder interpretiert diese Vorgänge vor allem als wichtiges Zeichen für die innere Basisdemokratie des S.B., denn Mühsam stellte wenigstens hier die ansonsten unangefochtene Dominanz Landauers auch einmal in Frage (S. 549). Leder urteilt kritisch: „In Auseinandersetzung tendiert Landauer zu Unnachgiebigkeit und Härte; so manche Freundschaft geht darüber in die Brüche.“ (S. 699)
Dieselbe problematische Charaktereigenschaft hatte leider auch Pierre Ramus in Österreich, der im genannten Streit Hardeggers Position zur freien Liebe verteidigte. 1910-11 kam es zudem in einem „Brief über die anarchistischen Kommunisten“ (Landauer) und Ramus‘ Antwort „Ein Brief über den Sozialistischen Bund“ (nachgedruckt in Ne znam, Nr. 1/2015, S. 92-122) zu einem Streit mutualistisch-kollektivistischer versus kommunistischer Anarchismus, der von Ramus vertreten wurde (S. 550f.). Den Text Ramus‘ finde ich dabei argumentativ überzeugend, der Siedlungsgedanke wurde von ihm geschätzt, aber als Hauptstrategie zur Bekämpfung des Kapitalismus verworfen.
Landauer hatte über längere Zeit hinweg Einreiseverbot nach Österreich und so konnte er den S.B. nicht dorthin ausweiten, wie das über Hardegger in die Schweiz möglich war. Schade finde ich für die damalige Ausgangssituation des gewaltlosen Anarchismus, dass sich hier zwei ihrer brillanten Köpfe, beide darüber hinaus übrigens bedeutende Theoretiker der anarchistischen Marxismuskritik, gegenseitig bekämpften und es ob ihres jeweiligen ungeheuren Egos nicht schafften, ausräumbare inhaltliche Differenzen von persönlichem Konkurrenzdenken zu trennen, denn Landauer befürwortete später, ab der Marokko-Krise 1911, auch wieder den Generalstreik, den er im S.B. verwarf, jedoch als politischen Generalstreik gegen den Krieg, während er für Ramus gerade das zentrale ökonomische Kampfmittel für die freie Gesellschaft darstellte. Margarethe Hardegger war auch Leidtragende dieses Hahnenkampfes. Beim Lesen dieser unfruchtbar ausgetragenen Konflikte kommt eine Ahnung davon auf, was für den gewaltlosen Anarchismus an Entwicklung hätte möglich sein können, wenn diese drei konstruktiv und langfristig hätten zusammenarbeiten können.
Die Haltung Landauers während Krieg und Revolution (S. 701-847) ist dann durchweg ehrenwert. Er hält als überzeugter Kriegsgegner so manchem Freund, der in einen deutschnationalen Rausch verfiel, konsequent den Spiegel vor (Mühsam, Buber, Dehmel usw.). In seinem Engagement in der bayerischen Novemberrevolution 1918 und der Münchner Räterepublik sah er, entgegen den Behauptungen im späteren „Rechenschaftsbericht“ Mühsams, keinen Widerspruch zu seinem Prinzip der Gewaltlosigkeit. Das wird in Leders Arbeit immer wieder in Zitaten deutlich (etwa S. 808), auch wenn Landauer nach dem Mord an Kurt Eisner zum Schutz die bedingte Gefangennahme von Geiseln befürwortete, diese jedoch wie Ernst Toller auch wieder freilassen wollte.
Am Ende der zweiten Räterepublik, Ende April 1919, als sich Toller mit der KPD, die dann von ihr verhaftete Geiseln ermorden sollte, überwarf, schlug Landauer, bezeugt durch Else Eisner, eine Aktion vor, die nur jemand vorschlagen kann, der seine Vernunft und seine Phantasie immer für gewaltfreie Lösungen einsetzte, nämlich „für den Fall militärischer Aktionen gegen München (…) einen Zug von Frauen und Kindern zu bilden, um auf diese Weise ein Blutbad zu verhindern.“ (S. 840) Doch zum Blutbad kam es, und Landauer fiel ihm zum Opfer.