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Hoffnungsvolle Desillusionierungen

| Martin Baxmeyer

Nikolai Huke: Krisenproteste in Spanien. Zwischen Selbstorganisation und Überfall auf die Institutionen, edition assemblage, Münster 2016, 175 Seiten, 14.80 Euro, ISBN 978-3-96042-006-4

Es besteht kein Zweifel, dass die von dem deutschen Politologen Nikolai Huke verfasste Arbeit über die Krisenproteste in Spanien zu den besten Studien gehört, die in deutscher Sprache zu diesem Thema vorliegen. Das Buch ist uneingeschränkt zu empfehlen, und zwar sowohl jenen, die sich wissenschaftlich mit der Bewegung der Indignados [‚Empörten‘], dem gewaltfreien Widerstand gegen Zwangsräumungen in Spanien oder neuen Parteien wie Podemos oder Barcelona en Comù [‚Barcelona gemeinsam‘] beschäftigen wollen, als auch jenen, die ihren Blick aus politischen Gründen auf Spanien richten. Denn Huke gelingt in seinem Buch ein Kunststück, an dem sich schon andere Autorinnen und Autoren versucht haben, das aber nur wenige von ihnen zu einem guten Abschluss hatten bringen können: nämlich, wertvolle Inspiration für den sozialen und politischen Widerstand gegen neoliberalen Totalitarismus und repressive Konsumgesellschaft zu sein, ohne an wissenschaftlichem Wert zu verlieren.

Dabei scheint Huke selbst die politischen Ergebnisse seiner Forschungen eher skeptisch zu bewerten. Er spricht vom „erfolgreichen Scheitern (u.a. S. 6) der von ihm studierten Bewegungen und Parteien. Man würde ihm sicherlich nicht unrecht tun, wenn man hinter dieser Formulierung ein Echo der berühmten Verse Samuel Becketts vernähme, die die Absurdität menschlichen Strebens meisterlich in Worte fassen: „Try/ and fail./ No matter./ Try again./ Fail again./ Fail better“ [‚Versuch’s / und scheitere./ Es macht nichts./ Versuch’s nochmal./ Scheitere nochmal./ Scheitere besser‘]. Aber so schwarz muss man die Lage gar nicht sehen. Nach ihren Maximalforderungen und hohen Erwartungen bewertet, bieten die sozialen Widerstands- und Protestbewegungen in Spanien zwar tatsächlich ein Panorama des Scheiterns. Dies gilt sowohl für ihre Arbeit an der Basis als auch an der Wahlurne.

Man wird zum Beispiel erst abwarten müssen, wie die politische Karriere von Ada Colau, der ehemaligen Sprecherin der Plataforma de Afectados por la Hipoteca [‚Plattform der Hypothekenbetroffenen‘] (PAH), sich weiter entwickeln wird: Sie ist seit Mai 2015 Bürgermeisterin von Barcelona. Der Guardian brachte im Mai 2016 einen umfangreichen und informierten Artikel von Dan Hancox heraus mit dem Titel: „Ist dies die radikalste Bürgermeisterin der Welt?“. Gegenwärtig sieht es allerdings so aus, als würde Colau sich an der versteinerten Blockadehaltung ihrer politischen Gegner die Zähne ausbeißen und gleichzeitig von der übergroßen Erwartungslast ihrer Unterstützerinnen und Unterstützer erdrückt werden.

Betrachtet man allerdings die konkreten Veränderungen in der spanischen Gesellschaft und Politik im Alltäglichen und Kleinen, so sind viele Erfolge der Krisenproteste beeindruckend und durchaus dazu angetan, Hoffnung zu wecken. Íñigo Errejón, gemeinsam mit Pablo Iglesias ideologischer Kopf der (äußerst problematischen) Partei Podemos, die bei den vorletzten Nationalwahlen zur drittstärksten Kraft wurde, dachte zum Beispiel jüngst in einem Gespräch mit der Politologin Chantal Mouffe laut darüber nach, dass es die (Re)Politisierung der spanischen Gesellschaft durch die Indignados gewesen sei, die verhindert habe, dass sich auch in Spanien rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien wie der Front National oder die Alternative für Deutschland (AfD) hätten breitmachen können. Man könnte zwar genauso gut sagen, dass der rechte bis rechtsextreme Rand in Spanien von alters her von der konservativen Volkspartei Partido Popular (PP) aufgenommen wird, aber der Gedanke ist trotzdem reizvoll: Denn es mag ja tatsächlich so sein, dass in Spanien der Zorn über die neoliberalen Verwüstungen durch die Form der sozialen Proteste seit 2011 eher den Weg nach links als nach rechts genommen hat.

Kapitel I

Nach einer wohltuend knappen und auch für fachliche Laien verständlichen Einleitung unterteilt Huke seine Studie in vier große Kapitel, in denen er jeweils eines der politischen und sozialen Kampffelder der spanischen Krisenproteste behandelt. Im ersten Kapitel widmet er sich der eigentlichen Initialzündung: der (relativ) spontanen Besetzung der Puerta del Sol in Madrid am 15. Mai 2011, einem Datum, dass in Spanien seither nur unter der Chiffre „15M“ bekannt ist. Schon hier wird die vielleicht größte Stärke an Hukes Arbeit deutlich: ihr ruhiges, differenziertes und kritisches Urteil. 15M, inspiriert durch die Platzbesetzungen des sogenannten Arabischen Frühlings, wuchs sich innerhalb kürzester Zeit zu einer Massenbewegung aus, die auf andere Städte übersprang. Die Besetzerinnen und Besetzer experimentierten mit neuen Formen des Miteinanders, des Protestes und der Demokratie und brachten am Ende, legt man großzügige Schätzungen zu Grunde, über eine Millionen Menschen auf die Straße. Huke lässt keinen Zweifel daran, dass ohne die Erschütterungen des 15M die anschließende, breite und vielfältige soziale und politische Mobilisierung in Spanien nicht denkbar gewesen wäre. Die Öffnung des sozialen Raumes für jene, die das Regime übergangen und zu Boden getrampelt hatte, sei eine wichtige Leistung dieser Bewegung gewesen. Dennoch macht er auch auf die Probleme aufmerksam: Denn im Grunde sei 15M über den bloßen Protest nie hinausgekommen. Konkrete Praktiken des Widerstands gegen etablierte soziale und politische Abläufe wurden, abgesehen von den Platzbesetzungen, kaum entwickelt. Darüber hinaus sei es in der Bewegung praktisch nie zu wirklichen Berührungen mit migrantischen Organisationen, Arbeiterschaft oder der Subalterne gekommen – sieht man einmal davon ab, dass die Platzbesetzung in Madrid unter anderem deswegen abgebrochen wurde, weil sich am Ende, so ein Aktivist, das ganze obdachlose „Gesindel von Madrid“ (S.16) dort herumgetrieben habe. 15M war letztlich ein Protest der weißen, akademischen Mittelschicht. Die mangelnde Perspektive konkreten Widerstands führte dazu, dass selbst die zahlenmäßige Stärke der Bewegung (über ihre symbolische Bedeutung hinaus) nie zu einem entscheidenden Machtfaktor wurde. Salopp ausgedrückt lautete die Frage: Was nützt eine massenhafte Beteiligung, wenn man nicht weiß, was man mit ihr anfangen soll? In gewisser Weise blieb 15M, bei allen Verdiensten um die Politisierung und Öffnung des öffentlichen Raumes, ein zahnloser Tiger. Freilich ein Tiger, der plötzlich Mitten in Madrid erschien und die scheinbar unerschütterliche Herrschaft der Zustände anfauchte. Julio Cortázar hätte seine Freude gehabt.

Kapitel II

Bei der Bewegung, der Huke sein zweites Kapitel widmet, sah die Situation von Anfang an ganz anders aus: Die Arbeit der Plattform der Hypothekbetroffenen (PAH) ist geradezu eine Blaupause dafür, wie man effizienten gewaltfreien Widerstand organisieren sollte. Ihr Kampf richtete sich gegen das absurde spanische Hypothekenrecht, bei dem eine Hypothek nicht (wie in Deutschland) als abgezahlt gilt, wenn die entsprechende Liegenschaft verkauft oder zwangsversteigert worden ist. In der Krise nahm dieses (Un)Recht im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Züge an: Die Aussicht auf eine womöglich lebenslange Verschuldung trieb viele, die sich während der Immobilienblase verdorbene Hauskredite hatten aufschwatzen lassen, in den Selbstmord. Die PAH erreichte bemerkenswerte Erfolge: Sie verhinderte Zwangsräumungen durch gewaltfreie Blockaden, besetzte mit (oder für) bereits geräumte Familien leerstehende Immobilien und erwirkte durch öffentlichen Druck sogar Änderungen des Schuldrechts in einzelnen Kommunen und Provinzen. Ihr Argument, dass es nicht gerecht sein könne, wenn mit Steuergeldern gerettete Banken nun Steuerzahler auf die Straße setzten, war ebenso zutreffend wie wirksam. Selbst die Ratingagentur Moodys warnte die konservative Regierung Spaniens vor dem Widerstand der PAH kleinbeizugeben (Vgl. S. 56) – eine kaum verhohlene Drohung, sonst die Kreditwürdigkeit des Landes weiter herabzustufen. Die Tatsache, dass die PAH konkrete Ziele verfolgte und ihre Aktionen nach Radikalität staffelte (die Blockade einer Zwangsräumung war immer nur das letzte Mittel, wenn alle Verhandlungslösungen fehlgeschlagen waren), verschaffte ihr eine fast unglaubliche soziale Akzeptanz. Ihre strikte Gewaltfreiheit, und dass sie den Opfern der Krise wirklich helfen konnte, taten ein Übriges. Darüber hinaus waren es von Anfang an vor allem von der Krise betroffene Migrantinnen und Migranten aus Lateinamerika (namentlich Ecuador), die zum aktiven Kern der Bewegung gehörten. Die PAH verband äußerst effektiv politische Öffentlichkeitsarbeit und soziotherapeutische Maßnahmen zum Wohle der Betroffenen mit entschlossenem, auch illegalem zivilen Widerstand. Insbesondere Frauen spielten (und spielen) in der PAH eine wichtige Rolle. Nicht umsonst war die kämpferische Ada Colau jahrelang das öffentliche Gesicht der Bewegung. Ihr Auftritt bei einer Anhörung im spanischen Parlament, bei der sie einen als Experten geladenen Bankenvertreter vor laufender Kamera einen „Verbrecher“ nannte, der auch „so behandelt werden“ solle, gehört zu den medialen Höhepunkten der Kampagne. Gerade an der Person Colaus lässt sich darüber hinaus erkennen, dass die Rotation verantwortlicher Posten eine soziale Bewegung auch ihrer Stärken berauben kann. Colau hatte – und hat – ein bemerkenswertes rhetorisches Talent, das sie in einer fast ausschließlich auf Einzelpersonen ausgerichteten Medienwelt erfolgreich einsetzte. Ein solches Kommunikationstalent der Rotation zu opfern wäre fast schon fahrlässig gewesen. So wie die Zapatistische Bewegung ohne ihren literarisch begabten ehemaligen Sprecher Subcomandante Marcos wohl niemals weltweite Aufmerksamkeit erregt hätte, und ohne José Bové die Confédération Paysanne vermutlich noch immer eine kämpferische, aber unbekannte Bauerngewerkschaft in Frankreich wäre, verhalf Colau der PAH durch ihre vielfältigen Talente zu großer öffentlicher Wirksamkeit. Soziale Bewegungen müssen die unterschiedlichen Talente ihrer Mitglieder nutzen, und gleichzeitig durch die Struktur der Mandatsvergabe, Rechenschaftspflichten und ähnliches dafür sorgen, dass sie ihre Posten nicht missbrauchen können. Die PAH bietet ein anschauliches Beispiel dafür, dass so etwas möglich ist – zumindest bis zu Colaus Bürgermeisterkandidatur für Barcelona en Comù.

Kapitel III und IV

Im dritten Kapitel widmet sich Huke den Protesten im Bildungs- und Gesundheitssektor, der sogenannten marea verde [‚grüne Flut‘] und der marea blanca [‚weiße Flut‘], und im vierten schließlich den neuen linken (sogenannten) „Protestparteien“, die vor allem in den deutschen Medien die Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Hier wird Hukes nüchterne, unvoreingenommene und sachlich-kritische Analyse endgültig wertvoll. Die zum Teil beträchtlichen Unterschiede zwischen den Parteien verdeutlicht er ebenso wie die Fallstricke einer Politik, die sich auf die Integration in staatliche Institutionen einlässt. Insbesondere Podemos, die in Deutschland vielleicht bekannteste der Parteien, die (direkt oder indirekt) aus den Protesten des 15M hervorgegangen sind, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine bedenkliche Mischung aus Autoritarismus, politischer Unpräzision, Marketingstrategien und gefälliger akademischer Rhetorik [Siehe dazu: Partei, du rosa Luftballon, Artikel von Joseph Steinbeiß, in: GWR 411, September 2016, S. 22 f.]. Tatsächlich hat die Partei inzwischen unter der (recht herrschsüchtigen) Führung ihres Gründers Pablo Iglesias und orientiert an autoritär-populistischen Regimes in Lateinamerika (wie beispielsweise dem des verstorbenen Hugo Chávez, den Iglesias als Politikberater begleitete), praktisch alle Verbindungen zu den außerparlamentarischen Bewegungen gekappt. Allenfalls als „Zuarbeiter“ sollen sie noch Einfluss haben dürfen. Während 15M die Strukturen der repräsentativen Demokratie grundsätzlich in Frage stellte, nach Alternativen suchte und diese zum Teil auch zu realisieren versuchte, hat Podemos das politische Stellvertretertum als Strategie des Machtgewinns in Spanien wieder hoffähig gemacht. Huke macht überzeugend deutlich, dass es angesichts der gelegentlichen Skrupellosigkeit und absichtsvollen politischen Konturlosigkeit der Partei nicht überraschend sei, dass die (ebenfalls neue) liberal-konservative Partei Ciudadanos ihr mittlerweile den Rang abgelaufen hat. Podemos, darauf bedacht, auch den rechten Rand ins Boot zu holen, hat sich, schlicht und ergreifend, von rechts überholen lassen.

Fazit

Hukes materialreiche, auf Presse, Forschung und persönliche Interviews mit Aktivistinnen und Aktivisten der unterschiedlichen Bewegungen gestützte Studie verdeutlicht, über ihren Informationsgehalt hinaus, wichtige Aspekte des sozialen Protests, die für die politische Praxis hierzulande inspirierend sind. So wird deutlich, dass Widerstandsformen abhängig sind von lokalen, regionalen und nationalen Gegebenheit. Sie sind nicht ohne weiteres in andere soziale Räume verpflanzbar. Sollen sie wirksam werden, müssen sie sich an diesen Gegebenheiten orientieren. Desweiteren erweist sich, dass Theorie und Organisation der erfolgreichsten Widerstandsbewegungen in Spanien keineswegs, wie etwa im Fall von Podemos, bereits von vorne herein feststanden und nur noch (womöglich dogmatisch) um- bzw. durchgesetzt werden mussten. Sie entwickelten sich, in einem Prozess des Trial-and-error, im Gegenteil erst allmählich in der politischen Praxis. Und schließlich verdeutlicht Hukes Studie, dass die Nähe zu „konkret alltäglichen Erfahrungen“ einer möglichst großen Zahl von Menschen über Erfolg oder Misserfolg jeder sozialen Bewegung wesentlich mitentscheidet. Anders ausgedrückt: Die grundsätzliche Kritik an der repräsentativen Demokratie in neoliberalen Zeiten durch 15M war für viele von der Krise existentiell Bedrohte weit weniger wichtig als die Aussicht, mit Hilfe der PAH wieder ein Dach über dem Kopf zu haben. Die Wiedergewinnung der „Handlungsmacht im Alltag“ nennt Huke denn auch konsequenterweise eine der wichtigsten Leistungen der Krisenproteste. Seine Analyse ist sowohl desillusionierend als auch hoffnungsvoll. Vor allem aber ist sie informativ, genau, kritisch, anregend und inspirierend. Man kann ihren Verfasser nur beglückwünschen.