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Ins Herz linker Theorie

Didier Eribons biografisch-sozioanalytische Auseinandersetzung mit Arbeitermilieus, Rechtspopulismus und dem neoliberalen Diskurs

| Jens Kastner

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 240 Seiten, 18 Euro, ISBN 978-3-518-07252-3

Als sein verhasster Vater gestorben ist, besucht der Soziologe Didier Eribon seine Mutter. Nach Jahren kehrt er damit an Orte zurück, denen er bewusst ferngeblieben war, und taucht am Küchentisch in Geschichten ein, die er lange nicht hat hören wollen. Es sind Erzählungen aus dem Milieu der ArbeiterInnen.

Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ ist nicht nur die Reise eines Intellektuellen an die Orte seiner Kindheit und Jugend. Es ist eine Sozioanalyse, die eine Gesellschaft im Wandel porträtiert. Einerseits wird die Geschichte einer jugendlichen Emanzipation erzählt, wie sie für die linken Milieus der letzten fünfzig Jahre in Westeuropa sicherlich paradigmatisch ist: die Enge der Kleinstadt verlassen, als Schwuler dem homophoben Kreis kleingeistiger Spießer entfliehen und die Großstadt und die Universität als Orte der Befreiung erleben. Das Lesen und der – in Eribons Fall trotzkistische – Aktivismus werden als Erfahrungen beschrieben, mit denen die Loslösung zur Selbstbestimmung wird, in der „die Schande in Stolz umschlägt“ (217). Etwas, das ihm bezüglich seiner sozialen Herkunft nicht gelingt. Warum er seine Klassenherkunft verdrängt hat und nicht zum Gegenstand positiver Identitätsfindung machen konnte, ist das zentrale Thema des höchst sympathischen Buches.

Doch es handelt sich bei seiner Rückkehr nicht nur um eine persönliche, sondern auch um eine politische Aufarbeitung. Andererseits versucht Eribon nämlich, Erklärungen für den Rechtsruck innerhalb der sozial benachteiligten Schichten zu finden, der seit einigen Jahren nicht nur in Frankreich um sich greift. Wie aus ehemals treuen AnhängerInnen der Kommunistischen Partei oder der Sozialdemokratie massenhaft WählerInnen des Front National wurden, ist ja tatsächlich einigermaßen schleierhaft.

Eine seiner Erklärungen klingt zunächst etwas nach Entschuldigung: „politische Notwehr“ (124). Es bleibe den prekär Beschäftigten und letztlich den gesamten Arbeitermilieus kaum mehr etwas anderes übrig, als rechtsextrem zu wählen, nachdem die Sozialdemokratie ab den 1990er Jahren aufgehört habe, sie zu repräsentieren. Die SozialdemokratInnen haben den Klassenbegriff aus dem politischen Diskurs entfernt. Diese scheinbar rein sprachliche Taktik mit Blick auf die Mittelschichten und das neue Unternehmertum, hatte Eribon zufolge immense Auswirkungen über den Diskurs hinaus. Es führte nämlich dazu, dass auch die materiellen Lebensbedingungen vieler Leute aus dem Blick der – parlamentarischen, aber auch aktivistischen – Politik gerieten. Es sei ihm etwa völlig unbegreiflich, wie die Härte der Fabrikarbeit und der Protest gegen sie „aus der Vorstellungswelt und dem Vokabular der Linken verschwinden konnte“ (78). Seine Empörung richtet sich dabei vor allem gegen die neoliberal gewendete Sozialdemokratie. Darüber hinaus aber attackiert er auch die politische Philosophie. Er macht darin eine Strömung aus, die die Möglichkeit zur demokratischen Umgestaltung für allgegenwärtig hält. Diese schönfärbende Sichtweise, die sich nicht mehr die Mühe mache, sich konkret zu fragen, wie sich Meinungen herausbilden und wieso sie umschlagen, beschreibt er als „Mythologisierungen und Mystifizierungen“ (142). Der Vorwurf, der sich hier gegen die linken Philosophen Jacques Rancière und Alain Badiou richtet, trifft letztlich auch grundsätzlich ins Herz linker und libertärer Theorie. Denn er zielt auf den blinden Glauben an die vermeintlich per se emanzipatorische Kraft der ArbeiterInnenklasse oder an die angeblich selbstverständliche moralische Güte von Gesellschaften jenseits des Staates.

Eribon ist nicht weniger linksradikal, nur vorsichtiger. Vielleicht, schreibt er, war es ohnehin blauäugig und falsch zu glauben, dass die Angehörigen der ArbeiterInnenklasse „naturgemäß links wählen müssten“ (140). Rassismen, Hass auf Homosexuelle und auf Frauen seien früher nicht seltener, nur durch linke Parteizugehörigkeit oder milieutypische Weltbilder anders gerahmt gewesen.

Bisher im deutschsprachigen Raum vor allem durch seine biografisch-historische Studie „Michel Foucault und seine Zeitgenossen“ (1998) bekannt, orientiert sich Eribon hier politisch wie analytisch stark an der Sozialtheorie Pierre Bourdieus (1930-2002). Unschwer erkennt man die Modelle des befreundeten Kollegen, wenn Eribon beispielsweise die persönlichen Netzwerke innerhalb der Arbeiterklasse als „negatives soziales Kapital“ (85) beschreibt. Anders als Menschen mit bürgerlicher Herkunft, die ihre Beziehungen pflegen und sprichwörtlich spielen lassen können, um ihr gesellschaftliches Fortkommen zu sichern, müssten Menschen aus der Arbeiterklasse ihre Kontakte eher verleugnen oder gar kappen. Sie sind hinderlich. Deshalb war etwa Eribon die Umwandlung von Schande in Stolz bezogen auf die soziale Herkunft auch viel weniger möglich als beim Schwulsein.

Das genauer zu beschreiben, wie also die Klassenherkunft sich im individuellen Verhalten nachteilig auswirkt und wie nach wie vor dagegen angekämpft werden muss, darin liegt eine besondere Stärke des Buches. Es sollte daher auch ein „Must Read“ der Klassismusdebatten werden. Denn hier geht es um die Feinheiten von Ausgrenzung. Mit welcher Verwunderung der Neu-Intellektuelle Eribon etwa zur Kenntnis nimmt, wie ungezwungen seine Kollegen bürgerlicher Herkunft sich dem – als proletarisch gebrandmarkten – Sport widmen, dass kann nur ein Ex-Arbeiterkind beschreiben. Denn die Herkunft prägt die Wahrnehmung und die Zugehörigkeit zu marginalisierten Gruppen schärft das Wahrnehmen von Differenzen. Demgegenüber merken die „Herrschenden […] nicht, dass ihre Welt nur einer partikularen, situierten Wahrheit entspricht“ (92).

Eribon spielt die soziale und die sexuelle Marginalisierung, das Arbeiterkind- und das Schwulsein, nicht gegeneinander aus. Er versucht zu vermitteln. Das hebt ihn auch gegenüber anderen theoretischen Wiederentdeckungen von Klassenherrschaft positiv hervor. Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus schließlich etwas unvermittelt abbricht, ist Eribon bei seinem Zwischenresümee nur zuzustimmen: Einen theoretischen Rahmen und politische Sichtweisen zu schaffen, die jene ultrarechten „negativen Leidenschaften“ (146) neutralisieren helfen, sei die große Herausforderung für „kritische Intellektuelle und soziale Bewegungen“ (146) heute.