Mithu M. Sanyal. Vergewaltigung. Edition Nautilus, Hamburg, August 2016, 238 Seiten, Taschenbuch 16 Euro, E-Book 12,99 Euro, ISBN 9783960540236
Es gibt kein anderes Verbrechen, das so stark „gegendert“ ist, wie eine Vergewaltigung. Bei Diebstahl, Betrug oder Mord spielt das Geschlecht von Opfer oder Täter bzw. Täterin höchstens eine untergeordnete Rolle. Vergewaltigung hingegen, so die spontane Assoziation der meisten Menschen, ist ein Verbrechen, das ein Mann einer Frau antut. Das sehen die Konservativen so, für die sexuelle Übergriffigkeit zu einem ordentlichen Mannsein dazugehört, und Frauen, die vergewaltigt werden, das mit kurzen Röcken, rotem Lippenstift und liederlichem Lebenswandel selbst provoziert haben. Aber das sehen auch viele Feministinnen so, für die Vergewaltigung „das Verbrechen des Patriarchats“ schlechthin ist, ja sogar das hauptsächliche Mittel, mit dem Männer Frauen in Schach halten.
Mithu M. Sanyal stellt dieses Narrativ in Frage. Das Problem der Missachtung der sexuellen Selbstbestimmung einer Person, so ihre These, lässt sich nicht beheben, ohne auch diese direkte Verknüpfung von Vergewaltigung und Geschlecht aufzulösen. Nicht nur, weil faktisch ja auch Männer vergewaltigt werden, von anderen Männern, aber auch von Frauen, siehe Abu Ghraib. Sondern auch, weil es dabei um symbolische Ordnungen geht: Was genau unterscheidet denn eine Vergewaltigung von einem anderen Gewaltverbrechen?
Welche Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit werden durch die Debatte über Vergewaltigung immer wieder erneut verfestigt? Warum, zum Beispiel, glauben immer noch viele, eine Frau sei im öffentlichen Raum besonders gefährdet, während in Wirklichkeit das Risiko von Männern viel größer ist, dass sie Opfer einer Gewalttat werden?
Aktuelle Beispiele, anhand derer sich das Thema nachzeichnen und analysieren lässt, gibt es zur Genüge, von der erneut aufgeflammten Debatte über Roman Polanski bis zur Silvesternacht von Köln, von Gesetzesinitiativen wie „Nein heißt Nein“ bis zur Anklage gegen Gina Lisa Lohfink wegen Falschbeschuldigung. Vor allem eine Vorstellung hält sich dabei hartnäckig: dass eine Vergewaltigung nicht nur den betroffenen Menschen konkret verletzt, sondern im Fall von Frauen auch deren „Weiblichkeit“ beschädigt.
Früher war es die Ehre, die „Anständigkeit“ einer Frau, von der ihre Weiblichkeit abhing und die durch eine Vergewaltigung zerstört wurde. Frauen, deren Lebenswandel bürgerlichen Normen widersprach, konnten daher in der Logik einer vorfeministischen symbolischen Ordnung qua Definition nicht vergewaltigt werden: Sie hatten ja keine Ehre, keine „legitime Weiblichkeit“, die ihnen durch eine solche Tat genommen werden konnte.
Dass diese Sichtweise keineswegs bloße Geschichte ist, zeigte sich in der Berichterstattung über Gina Lisa Lohfink, deren „Huren-Stigma“ sowohl im Prozess als auch in dessen medialer Darstellung permanent aufgerufen wurde. Doch auch die feministische Vorstellung, wonach Vergewaltigung ein spezieller Auswuchs des Patriarchats sei, fügt dem Angriff auf die körperliche Selbstbestimmung des Opfers sozusagen einen zusätzlichen Angriff auf dessen „Weiblichkeit“ hinzu.
Mitunter kann das zu Erwartungshaltungen gegenüber Betroffenen führen, das Erlebte auf eine bestimmte Art und Weise zu verarbeiten – zum Beispiel, wenn sie nicht genug oder nicht richtig oder genügend „leiden“. Manchmal tut die öffentliche Empörung über eine Vergewaltigung der Betroffenen sogar deutlich mehr Gewalt an als die Tat selbst – so geschehen bei Samantha Geimer, dem Opfer im Fall Polanski.
Die große Qualität von Sanyals Buch ist, neben der sorgfältigen und detailreichen Analyse des Kulturphänomens „Vergewaltigung“, ihre positive Bezugnahme auf die Frauenbewegung bei gleichzeitiger klarer Kritik an bestimmten feministischen Argumentationsmustern.
Diese muss man schließlich auch in ihrem historischen Kontext sehen: In den 1970er Jahren war es angesichts einer durchgehend ignoranten öffentlichen Haltung zum Thema Vergewaltigung vermutlich notwendig, das Ganze so weit wie möglich zu skandalisieren, um überhaupt durchzudringen. Heute aber sind wir gesellschaftlich an einem anderen Punkt: Vergewaltigung in der Ehe ist strafbar, seit kurzem ist „Nein heißt Nein“ im Prinzip als strafrechtlicher Grundsatz anerkannt.
Deshalb sollten nun auch feministischerseits neue Narrative entstehen, die Frauen nicht qua Geschlecht den Part des Opfers zuweisen und damit traditionelle Frauenbilder aufrufen. Wir müssen anerkennen, dass die Hoheit über die Bedeutung dessen, was ihnen geschehen ist, bei denjenigen Menschen liegt, die sexualisierte Gewalt erlebt haben.
Vergewaltigung ist ein komplexes Phänomen. Sie kommt in vielen unterschiedlichen Formen vor, die nicht alle über denselben Kamm geschoren werden können.