Nach der Räumung dreier von Anarchist_innen und Flüchtlingen besetzter Häuser in Thessaloníki Ende Juli, erfolgte Anfang August der nächste Schlag. Kostas Sakkás und Mários Sesídis, zwei seit Jahren polizeilich gesuchte Anarchisten, wurden bei einer Verkehrskontrolle in Sparta verhaftet und schwer misshandelt.
Im Morgengrauen des 27. Juli 2016 ließ die griechische Regierung drei besetzte Häuser in Thessaloníki räumen. Der Angriff erfolgte zwei Tage nach dem Ende des internationalen No-Border-Camps und galt explizit den Selbstverwaltungsstrukturen von Flüchtlingen. Die Projekte Orfanotrofío, Leofóros Níkis und Hurríya wurden gemeinsam von griechischen Aktivist_innen und Flüchtlingen bewohnt. 116 Menschen wurden vorläufig festgenommen, gegen 74 von ihnen – Griech_innen und Ausländer_innen – wurde Anklage wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung und Widerstand erhobenden. Erste Urteile über vier Monate Haft, ausgesetzt auf drei Jahre zur Bewährung, ergingen Anfang August. Die Verurteilten legten Revision ein. Den angeklagten Flüchtlingen droht im Falle einer Verurteilung die Abschiebung. Das im Besitz der orthodoxen Kirche befindliche, seit 2006 dreimal geräumte und immer wiederbesetzte ehemalige Waisenhaus Orfanotrofío, wurde drei Stunden nach der Räumung von Bulldozern eingerissen.
Der Angriff auf Strukturen selbstverwalteter Flüchtlingssolidarität ist eine Reaktion der Syriza-Anel-Regierung auf die Aktionen des No-Border-Camps in der Woche zuvor. Über 1.500 Aktivist_innen hatten einen Teil des Campus der Universität von Thessaloníki besetzt und als Basis für Proteste gegen das europäische Grenzregime genutzt. Lautstarke Demonstrationen, die Besetzung einer Radiostation, einige militante Aktionen, Besuche bei Internierungslagern für Flüchtlinge, die Besetzung eines Hauses als selbstverwaltetes Flüchtlingsprojekt und die farbenfrohe Umgestaltung von Fahrzeugen des öffentlichen Nahverkehrs als fahrende Werbung für offene Grenzen, hatten die Regierung unter Druck gesetzt. Die Duldung solch „gesetzeswidriger Schweinereien“ hatten Oppositionsparteien, Universitätsleitung, orthodoxe Kirche und private Fernsehsender als Unfähigkeit der Regierung, gegenüber „linkem Vandalismus“, angeprangert. Parlamentarier der konservativen Néa Dimokratía (ND) sahen gar den Staat in Gefahr. Zu Unrecht, hatte Ministerpräsident Aléxis Tsípras doch schon im Herbst 2014, noch als Oppositionsführer, auf den Stufen des Verteidigungsministeriums den Generälen der griechischen Streitkräfte im Falle des Wahlsieges die „Kontinuität des Staates“ garantiert und „Säuberungen“ ausgeschlossen. Die „Sicherheit Griechenlands“ habe absolute Priorität, so Tsípras damals.
„Partei der Bewegungen“ kriminalisiert Solidaritätsprojekte
Bei den aktuellen Räumungen geht es Syriza um den inneren Feind und die innere Sicherheit des Landes. Nicht nur die anarchistische Bewegung soll in die Schranken gewiesen werden, sondern es geht auch darum, die vollständige Kontrolle über Zehntausende in Griechenland festsitzende Flüchtlinge zu erzwingen. Parallel zu den Räumungen in Thessaloníki wurde von der Öffentlichkeit fast unbeachtet die No-Border-Kitchen auf der Insel Lésbos geräumt und die letzten 1.000 im Hafen von Piräus verbliebenen Flüchtlinge in Sammellager verfrachtet. Die linken Reste in Syriza verurteilten die Räumungen. „Die Kriminalisierung von Solidaritätsprojekten ist eine Praxis, die keinerlei Beziehung zu den Werten der Linken aufweist“, heißt es in einer Presseerklärung vom 28. Juli. Doch auf solche Befindlichkeiten wird die Regierung keine Rücksicht nehmen. Zu erwarten ist im Gegenteil, dass auch gegen Projekte in anderen Städten vorgegangen werden soll. Giórgos Kamínis, der Bürgermeister von Athen, gab am gleichen Tag bekannt, er habe Räumungsklage gegen drei besetzte Häuser eingereicht, darunter das international bekannte „Hotel City Plaza“. Von anarchistischer Seite wurden die Verfasser der Presseerklärung aufgefordert ihr scheinheiliges Versteckspiel, wonach zwischen Syriza und Regierung zu unterscheiden sei, endlich zu beenden und der „Partei der Bewegungen“ den Rücken zu kehren. Dass die alles andere als unschuldig ist, verdeutlichen die Aussagen des stellvertretenden Bürgerschutzministers Nikos Tóskas, der die Besetzungen als „sinnlose ( ) autonome Aktionen irgendwelcher Jugendlicher“ bezeichnete. Sie seien „Karikaturen von Symbolen, die Unsicherheit in ihrer Nachbarschaft erzeugen“ und „kein Ausdruck der Verteidigung von Rechten“. Im Gegensatz dazu befriedige „die staatliche Struktur unterschiedlichste Bedürfnisse“.
Um eine mögliche Fortsetzung der Räumungen im Keim zu ersticken, ging die Bewegung direkt zur Gegenwehr über. Nachmittags wurden in Thessaloníki und Lárisa die Parteibüros von Syriza besetzt. Am nächsten Morgen erfolgte die Besetzung des Büros von Regierungssprecherin Olga Gerovasíli in Ioánnina und in Thessaloníki die Besetzung eines neuen Solidaritätsprojekts. „Wir werden nicht untätig bleiben, oder in Angststarre verfallen, sondern im Gegenteil, mit neuen und noch mehr Besetzungen antworten.“ Ebenfalls am 28. Juli fanden in Thessaloníki und Athen Demonstrationen mit 600 bzw. 1.000 Personen teil. Im Anschluss der Demo in Thessaloníki wurde die Theaterfakultät als Aktionszentrum für die nächsten Tage besetzt. In der Nacht zum 1. August klirrten die Scheiben bei 12 Syriza- und zwei ND-Büros in verschiedenen Athener Stadtteilen. In Exárchia wurde ein Brandanschlag auf den Eingang der Ágios Nikoláos Kirche verübt, drei andere Kirchen wurden mit Farbbeuteln beworfen. Protestkundgebungen vor griechischen Konsulaten gab es in der slowenischen Hauptstadt Lubjana, in Zürich, Wien, Frankfurt/M. und Hamburg. In der Dresdener Neustadt wurde kurzzeitig das Büro der Linkspartei besetzt, um den Druck auf die griechische Schwesterpartei zu erhöhen. Angesichts der katastrophalen Situation, in der geflüchtete Menschen in den staatlichen Lagern in Griechenland hausen müssen, waren die drei geräumten Projekte als Wohnraum bitter nötig. Darüber hinaus dienten sie als Orte der politischen Organisierung, um gemeinsame politische Perspektiven und Kämpfe zu entwickeln und Migrant_innen die Möglichkeit zu geben, sicht- und hörbar zu werden. Das Orfanotrofío diente zusätzlich als Sammel- und Verteilstelle für Kleidung und Medikamente. In der seit 2009 existierenden Besetzung an der Strandpromenade Leofóros Níkis, lebten viele Aktivist_innen des sozialen Zentrums Mikrópolis.
Folter – eine Kontinuität des Staates
Eine Routineverkehrskontrolle in der Nähe von Spárta wurde den beiden untergetauchten Anarchisten Kostas Sakkás (32 Jahre) und Mários Seisídis (35 Jahre) zum Verhängnis. Bei ihrem Versuch, den Wagen zu wenden und zu flüchten, wurden sie von Polizeibeamten unter Beschuss genommen. Obwohl sich die unbewaffneten Männer schließlich widerstandslos festnehmen ließen, folgte das in Griechenland seit der Diktatur übliche Prozedere. Schwere Misshandlungen während der Verhaftung und Folter auf der Polizeiwache unter Beteiligung ganzer Gruppen von Beamten unterschiedlicher Polizeieinheiten. Und abermals steht Syriza für die versprochene staatliche Kontinuität. Den Klagen misshandelter und gefolterter Gefangener wird, wie von den Vorgängerregierungen gewohnt, nicht nachgegangen. Im Gegenteil sehen sich Sakkás und Seisídis nun mit der Anklage des Angriffs auf Vollstreckungsbeamte konfrontiert.
Kostas Sakkás wird seit Jahren als angebliches Mitglied der nihilistischen Gruppe „Verschwörung der Feuerzellen“ kriminalisiert. Sowohl er selbst als auch die bekennenden inhaftierten Mitglieder der Feuerzellen wiesen dies von Anfang an zurück. Sakkás ist darüber hinaus der Gefangene Griechenlands, der mit 30 Monaten am längsten unrechtmäßig in Untersuchungshaft saß. Die längstmögliche legale Dauer der U-Haft beträgt eigentlich 18 Monate. Erst durch einen Hungerstreik, der ihn 2013 bis an den Abgrund des Todes brachte, erkämpfte er seine Freiheit bis zum Prozess. Nach wiederholten schikanösen Festnahmen, die vor den Haftrichtern keinen Bestand hatten, und ständig neuen und erweiterten Anklagen entschied er sich im Februar 2014 in die Illegalität abzutauchen (die GWR berichtete).
Mários Seisídis, auf den ein Kopfgeld von 600.000 Euro ausgesetzt war, lebt schon seit 2006 in der Illegalität und ist das einzige „Mitglied“ der „Räuber in schwarz“. Einer laut Polizei zwischen 2002 und 2006 aktiven Bande von Anarchist_innen, die bei mindestens sieben Banküberfällen ca. 700.000 Euro für „terroristische Zwecke“ erbeutet haben soll. Die drei anderen damals Beschuldigten wurden in mehreren Prozessen vom Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung freigesprochen. Sie haben inzwischen unterschiedliche Strafen wegen verschiedener Vergehen wie Waffenbesitz, Widerstand und Bankraub abgesessen. Seisídis wurde in Abwesenheit zu sieben Jahren Haft wegen Beteiligung an einem Bankraub 2006 verurteilt. Die Polizei beschuldigt ihn mittlerweile jedoch nicht nur, das einzige „Mitglied“ der „Räuber in schwarz“ zu sein, sondern sich während der Jahre der Illegalität als Mitglied anderer Banden an weiteren Banküberfällen beteiligt zu haben.
Der Großteil der bürgerlichen Medien Griechenlands ergeht sich in den absurdesten Szenarien und hetzt in grellsten Tönen gegen die „gefassten Terroristen“. Sakkás und Seisídis beschreiben dies in einer kurzen Erklärung so: „Verhaften sie jemanden der bewaffnet ist, so ist er Terrorist. Verhaften sie zwei in Bermudas mit Schlafsäcken, so sind es Terroristen als Touristen getarnt.“ Sie bedanken sich für die große Solidarität, die beide auf ihren „unterschiedlichen Reisen zur Freiheit die nun leider endeten“, erfahren haben. „Wir haben für jeden freien Blick in den Himmel gekämpft, für jeden freien Händedruck, jede freie Umarmung und jeden freien Atemzug. Wir haben das gefordert, was uns der staatliche Verfolgungsapparat vorenthielt. Mit den einzigen Waffen die wir besitzen, unserem unerschöpflichen Verlangen nach Freiheit, aber auch unserem Mut daran zu denken, für diejenigen weiterzukämpfen, die zurückbleiben mussten.“