Verstößt nun das Krawattenverbot gegen Grundrechte, etwa das Recht der freien Meinungsäußerung, der Religionsfreiheit oder gar die Menschenwürde?
I.
Art. 4 GG garantiert die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Dies scheint zunächst auch die Krawatte unter die Grundrechtegarantie zu stellen, so dass ein Verbot verfassungswidrig wäre, wie es die Rechtsprechung anhand der geltenden Grundrechtsdogmatik auch immer wieder behauptet hat.
„Jemand, der sich an Konventionen hält, würde niemals jemandem auf den Schlips treten: Er bindet einen Four-in-Hand-Knoten oder einen Einfachen Windsor. Eine voluminöse Krawatte mit passendem Doppeltem Windsor verrät dagegen einen Träger mit großer Strahlkraft. Er nimmt sich Zeit für sein Styling und bleibt trotz einer Tendenz zur Egozentrik auf dem Boden.“ (1) lautet etwa eine beliebte Argumentation, die darstellen will, dass Krawatten sozialverträglich sind.
Aber greift diese Argumentation nicht zu kurz?
Stark verharmlosend erscheint auch eine Aussage wie: „Braune Krawatten vermitteln etwas Bodenständiges und Zurückgewandtes. Meist hat man einen älteren Herrn vor sich, …“ (2)
Zweifellos handelt es sich beim Tragen von Krawatten um eine Meinungsäußerung. Dies gilt selbst dann, wenn auf explizite Motive verzichtet wird. Die rein schwarze Krawatte wird als Ausdruck von Trauer oder jedenfalls sehr ernster Stimmungen begriffen. Das Tragen einer Che-Guevara-Krawatte oder einer Krawatte mit Micky Mouse-Motiv stellt auch dann eine Meinungsäußerung dar, wenn dem Träger oder der Trägerin im Einzelfall am Inhalt nichts gelegen ist und nur ästhetische Überlegungen eine Rolle gespielt haben, diese Krawatte zu tragen. Ein unvoreingenommener Betrachter wird sich stets fragen, was der/die Krawattenträger damit mitteilen wollen.
„Weil Seide ein eher kühles Material ist, lässt die Krawatte Sie ebenso cool wirken“,
„denn ein angesagter gestrickter Schlips aus matt schimmerndem Seidengarn wie von Turnbull & Asser (um 115 Euro) macht zu einem entspannten Meeting oder am Casual Friday schon einiges her. Sie beweisen modisches Knowhow und lassen den urbanen Fashionisto erkennen. Solche stofflichen Raritäten trägt eher jemand aus der Kreativbranche. Ein Bankier würde Gefahr laufen, nicht ernst genommen zu werden“. (3)
Ein Chef etwa will signalisieren: „Ich kann mir sogar solch eine Krawatte leisten!“ Solche Mitteilungen sind zunächst grundsätzlich in einer offenen Gesellschaft zulässig und geschützt. Allerdings ist hier – wie bei anderen Grundrechten – abzuwägen, ob diese nicht ihre Grenze in anderen, u.U. höherwertigen Rechtsgütern finden. Besonders ist hier etwa an den Schutz der öffentlichen Ordnung zu denken. Bekanntlich ist es immer wieder auch zu Übergriffen auf Krawattenträger gekommen: Unter dem Gejohle der Umstehenden haben besonders im Monat Februar – und ohne dass ein besonderer Grund dieses Verhalten ersichtlich auf diesen Monat begrenzen müsste – vermummte Frauen Krawattenträger öffentlich angegriffen und ihnen die Krawatte abgeschnitten, was als symbolische Kastration allgemein verstanden wird. Bezeichnend auch, dass dieses Treiben mit Arbeitseinstellungen verbunden ist.
Selbst wenn der Krawattenträger dann nach langem Gang durch alle Gerichtsinstanzen entschädigt wird, entspricht der Ausgleich in aller Regel nicht dem entstandenen psychosozialen Schaden. Wir zitieren ein Urteil, in dem das Amtsgericht Essen zugunsten eines Klägers entschied, dem als Kunde eines Reisebüros in Essen die Krawatte abgeschnitten wurde:
„Im Prozess vertrat die Beklagte die Auffassung, dass es allgemeiner Gepflogenheit (…) entspreche, Herren die Schlipse abzuschneiden. Sie habe den Kläger auch nicht unter Ausnutzung einer körperlichen Überlegenheit zur Duldung des Abschneidens gezwungen. Der Kläger habe vielmehr die Möglichkeit gehabt, dieser Handlung zu widersprechen. Das Amtsgericht indes gab dem Kläger recht und verurteilte die Beklagte zu Schadensersatz wegen Eigentumsverletzung. Diese sei rechtswidrig gewesen. Die Beklagte habe bewusst und damit vorsätzlich gehandelt. In solchen Fällen sei es nach der herrschenden Rechtsprechung unzweifelhaft, dass nicht aus Gründen der Sozialadäquanz dem verwirklichten Erfolg der Unrechtsgehalt abgesprochen werden könne“ (Amtsgericht Essen, Urteil vom 3.2.1988 – 20 C 691/87 -). Bekanntlich hat dieses Urteil die unheilvolle Dynamik entwickelt, dass Krawattenträger zu Einverständniserklärungen genötigt werden bevor ihre Krawatte verstümmelt wird.
Es stellt sich hier die Frage, ob nicht sogar dem Schutz der Betroffenen am besten mit einem Verbot der Krawatte gedient ist.
II.
Die Krawatte (französisch cravate, kroatisch kravata) ist in ihren historischen und gesellschaftlichen Bezügen Ausdruck militanter Selbstbehauptung und geht auf Söldnerheere des Dreißigjährigen Krieges zurück:
„Die Krawatte verdankt ihre Popularität einer beliebten Legende zufolge einer Truppenparade im Jahr 1663 vor dem noch im Bau befindlichen Schloss Versailles für den französischen König Ludwig XIV. Zu dieser Parade war auch ein kroatisches Reiterregiment aufmarschiert. Diese Reiter trugen der Überlieferung nach ein Stück Stoff, …“ (Wikipedia). Durch die Begeisterung des Königs für jenes Stoffstück der kroatischen Söldner verbreitete sich dieses schnell im Adel und sickerte dann allmählich in die „gehobenen Stände“ durch; es handelt sich also bei der Krawatte auch um ein Mittel, sich zu unterscheiden und den eigenen Stand anzuzeigen; dass dies ein Integrationshindernis darstellt, braucht nicht besonders betont zu werden. Nicht ins Gewicht fallen wird ein solches Integrationshindernis, wenn die Krawatte etwa im Münchner Englischen Garten oder am Strand als Badebekleidung getragen wird. Hier muss das Publikum sie nicht besonders beachten; wenn der Krawattenträger sich hier von seiner Umwelt abgrenzt und aus dem menschlichen und gesellschaftlichen Miteinander gerissen wird, so bleibt das seine Sache und ein solches Verhalten kann toleriert werden.
Etwas anderes ist es, wenn die Krawatte Zeichen einer Kommunikationsverweigerung im alltäglichen gesellschaftlichen Verkehr darstellt: „Eine freie Bürgergesellschaft lebt von offenen Gesichtern, nicht vom anonymen Versteck- und Maskenspiel.“ Damit nähern wir uns dem Kern des Problems: Krawattenträger verhalten sich als „Charaktermaske“ (4), das Versteckspiel, die (Selbst-) Darstellung, das schablonenhaft Normierte ist gewollt! Unverkennbar ist die Absicht, zu verkaufen oder zu führen, eine „unverbindliche Kontaktaufnahme durch wechselseitiges Zulächeln“ (Patrick Bahners in der FAZ vom 18. August) ist tendenziell ausgeschlossen. Die vollständig entwickelte Charaktermaske benötigt weder Kontaktaufnahme noch gar Zulächeln, sie wird in Zukunft vollautomatisch agieren. Zur Unterscheidung des Menschen vom Automaten ist es deshalb geboten, Menschen strikt zu untersagen, sich als Automaten zu maskieren; der Automat wiederum sollte an Kontaktaufnahmen gehindert werden.
III.
Zweifellos ist die Krawatte ein religiöses Symbol, Kennzeichen des fundamentalistischen Mammonismus und der fundamentalistischen „Führungskräfte“-Ideologie. Als solches Symbol ist sie zunächst durch die Freiheit der Religionsausübung geschützt. Aber ist sie tatsächlich auch individuell so verpflichtend, dass sie in jedem Fall in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit fällt?
Auch wenn der berüchtigte „Krawattenzwang“ in einigen Bereichen aufgehoben wurde, so bleibt er doch im Sinne einer „Corporate Identity“ vielerorts erhalten; einzelne Firmen verwenden Krawatten mit Firmenlogo oder schreiben den Angestellten im Sinne eines „Corporate Design“ vor, dass und welche Krawatten sie zu tragen haben. Hierbei handelt es sich ganz offensichtlich um schwerwiegende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte, die durch das religiöse Bekenntnis zur Firma gedeckt sein können, aber auch nicht erzwungen werden dürfen.
„In formellen Situationen ist bis heute der Langbinder unabdingbar. ‚In erster Linie, um sich im besten Licht zu präsentieren, aber auch, um dem Gegenüber seine Wertschätzung zu symbolisieren‘, erklärt Nadine Eberle von der Recruiting Agentur Goldwyn Partners.“ (5)
Bei Vorstellungsgesprächen entscheidet „der Personalchef: Er merkt sich unter Umständen eher Ihre Krawatte, als Ihren Namen – vor allem wenn diese absolut unangemessen ist“. (6)
Auch aus diesem Grund ist ein generelles Verbot zu fordern: Es lässt sich im Zweifelsfall sonst schwer nachweisen, ob das Tragen der Krawatte tatsächlich freiwillig erfolgt oder unter dem Druck der Religionsgemeinschaft oder etwa auch „der Familie“ (7) (wie eine bekannte Tarnbezeichnung lautet).
Der Grundrechtekatalog hat historisch die Funktion, Konflikte zu befrieden, einen Stand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um individuelle Freiheit in Abgrenzung zu staatlicher Gewalt darzustellen. Der Geltungsbereich der Grundrechte soll also Verfassung und Gesellschaft integrieren, nicht etwa, wie es im Fall der Krawatte hinreichend demonstriert wurde, als Einfallstor für Abgrenzungen, Kommunikationsverweigerung, aber auch Streitigkeiten aller Art genutzt werden können. Weder können die Normen archaischer Söldnergesellschaften durch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit schrankenlos ausgedehnt werden, noch kann ein fundamentalistischer Glaube, und sei es der an die Macht des Geldes oder den Wert sozialer Distinktion in jedem Fall sich auf Glaubens- und Gewissensfreiheit berufen, wenn er droht, ein gesellschaftliches Zusammenleben unmöglich zu machen.
Es bleibt nun die Frage, ob ein Teilverbot der Krawatte ausreichend ist, um die wehrhafte Demokratie zu schützen. Die Krawatte wäre dann etwa im Berufsleben untersagt, aber im Bereich privater Begegnung grundsätzlich zulässig. Dieser Ansicht ist schon deshalb zuzustimmen, weil es den liberalen Staat heillos überfordern müsste, wollte er tatsächlich ein unbegrenztes Verbot der Krawatte durchsetzen. Allerdings sollte das Führen der Krawatte im privaten Bereich dann nicht von besonderen Genehmigungen abhängig gemacht werden (analog zum „kleinen Waffenschein“ wie verschiedentlich vorgeschlagen wurde). Ein solcher bürokratischer Aufwand erscheint überflüssig. Auch wenn gelegentlich Abgrenzungsprobleme auftreten oder versucht werden sollte, die Sphäre des Persönlich-Privaten auszudehnen, so ist diese Grenzziehung doch auch sonst praktikabel. Im Rahmen der Familie oder in Klubs und geschlossenen Gesellschaften lässt der liberale Staat bekanntlich exzentrisches und selbst-schädigendes Verhalten ohne weiteres zu. Hier findet auch die Krawatte ihren sozialen Ort.
(1) www.wanted.de/was-die-krawatte-ueber-sie-verraet/id_79114796/index
(2) ebd.
(3) ebd.
(4) Was den Krawattenträgern in aller Regel sogar bewusst ist und von ihnen thematisiert wird, etwa: www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/harald-schmidt-im-gespraech-ich-bin-eine-charaktermaske-12124274-p2.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2
(5) www.wanted.de/was-die-krawatte-ueber-sie-verraet/id_79114796/index
(6) ebd.
(7) "Da Schwarz eher zu Beerdigungen getragen wird, kann diese Farbe beim Schlips polarisieren. Ein schwarzer Binder ist wenn dann Chefsache. Ernsthaftigkeit, Eleganz, Strenge und Macht strahlt eine schwarze Krawatte aus, so wie bei Don Vito Corleone in 'Der Pate'". Erklärt in erstaunlicher Offenheit ("bei Beerdigungen"!) www.wanted.de/was-die-krawatte-ueber-sie-verraet/id_79114796/index