Karl Marx hat ein Hegel-Zitat dahingehend abgewandelt, weltgeschichtliche Tatsachen ereigneten sich immer zweimal, nämlich "das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce" (1). Seit dem 9. November 2016 wissen wir, dass sie sich auch gleichzeitig als Tragödie und Farce ereignen können. "Fast scheint es, als ob der Neoliberalismus sich jetzt auch um die Prozessoptimierung der Weltgeschichte kümmert", so der Soziologe Rüdiger Haude mit einer hochgezogenen Augenbraue.
Eine Farce als Tragödie
Die Wahl in den Vereinigten Staaten am 8. November 2016 war eine Farce. Für das Amt des Commander in Chief des mächtigsten Staates der Erde standen zwei extrem unsympathische und antisoziale Personen zur Wahl.
Hillary Clinton
Auf der einen Seite Hillary Clinton, unterstützt unter anderem vom mächtigen militärisch-industriellen Komplex der USA, der Wallstreet und dem liberalen „Establishment“. Clinton hat als Senatorin die vom Bush-Regime angezettelten neokolonialen Angriffskriege gegen den Irak und Afghanistan unterstützt und ist damit mitverantwortlich für mehr als eine Million überwiegend zivile Kriegstote seit 2001 (2) und für die Entstehung des aus den Trümmern des Irak-Krieges erwachsenen „Islamischen Staates“. Die Ausweitung des Drohnen-Krieges, dem täglich zahlreiche Menschen zum Opfer fallen, hat Clinton als US-Außenministerin unter Obama direkt mit zu verantworten.
Sie ist eine Kriegsverbrecherin. In einer Fernsehdokumentation über Clinton und Trump war am 5. Oktober 2016 auf arte zu sehen, wie Hillary Clinton triumphiert hat, nachdem der ehemalige libysche Staatschef Gaddafi in Folge des von Clinton maßgeblich als US-Außenministerin mitorganisierten Libyenkriegs am 20. Oktober 2011 von einem Mob in Libyen ermordet wurde. Hillary Clintons spontaner, menschenverachtender Kommentar dazu: „Wir kamen, wir sahen, und wir töteten ihn.“
Gezeigt wurde in der arte-Doku auch noch einmal, wie Clinton mit Obama und anderen US-Regierungsmitgliedern vor dem Bildschirm saß und sich anschaute, wie Bin Laden am 2. Mai 2011 ohne Gerichtsurteil von einem militärischen US-Killerkommando exekutiert wurde, im Namen eines demokratischen Staates.
Es ist eine Tragödie. Dass Personen wie der extreme Narzisst, Rassist, Sexist und Menschenfeind Trump und die Kriegsverbrecherin Clinton im mächtigsten Staat der Welt an die Macht kommen (können), zeigt, wie fragil die parlamentarische Demokratie ist. Und es ist ein Beleg dafür, dass die anarchistische Kritik daran richtig ist.
Wie massiv die Verdummung und Verrohung großer Teile vor allem der weißen, männlichen Bevölkerung durch Kapitalismus und Massenverblödungsmedien bereits vorangeschritten sind, beweist das Wahlergebnis vom 9. November. Finstere Zeiten.
Der Trumpismus
Der populäre Marxist und FAZ-Kolumnist Slavoj Zizek hat sich im Vorfeld der Wahl einen Sieg Trumps gewünscht. Trump sei zwar genauso „vulgär, rassistisch, misogyn und gefährlich, wie er beschrieben werde“ (3), aber seine Präsidentschaft sei die einzige Chance, dass der gesellschaftliche Wandel eintrete, den die radikale Linke seit langem fordere.
Ähnlich wie dieser linke Zeitgeistphilosoph heute haben vor 1933 auch einige Linke in Deutschland gedacht, eine Wahl Hitlers und der NSDAP würde die politische Situation in der Weimarer Republik nicht wesentlich verschlimmern, sondern mit ziemlicher Sicherheit – wie beim Kapp-Putsch 1920 – einen Generalstreik oder gar eine Soziale Revolution auslösen. Bei etlichen Mitgliedern der KPD gab es damals die Illusion: „Nach Hitler kommen wir!“
Viele von ihnen landeten schon kurz darauf in den KZs und überlebten die Nazizeit nicht.
Angesichts des historischen Wissens über den Nationalsozialismus in Deutschland und den Faschismus in Italien, Spanien und anderswo steht Zizek mit seiner überaus naiven Einschätzung heute innerhalb der Linken allerdings weitgehend alleine da.
„Clinton ist ein mieses Stück Scheiße, aber Trump ist ein Faschist. Deshalb werde ich Clinton wählen, um Trump zu verhindern“, so äußerte sich vor der US-Wahl eine Bewohnerin einer alternativen Siedlung in Kalifornien im ZDF. Ähnlich wie diese junge Aktivistin haben wohl viele linke US-AmerikanerInnen vor dem 9. November 2016 gedacht. Manch eineR ist dann angesichts der Prognosen, die Clinton schon vor der Wahl zur sicheren Siegerin erklärten, gar nicht mehr zur Wahl gegangen. Es schien ja eh schon alles klar zu sein. Dabei hätte jedeR, der oder die sich an die ebenfalls falschen Prognosen erinnert, die vor dem Referendum am 23. Juni 2016 in Großbritannien eine Mehrheit für den Brexit ausschlossen, wissen können, dass die Wahlforschung ein Abstimmungsergebnis nicht wirklich vorhersagen kann. Und dass Prognosen eine Wahl zudem auf problematische Weise beeinflussen können.
Ich hatte gehofft, dass Clinton die Wahl gewinnt und somit die Präsidentschaft des noch ungleich übleren Sexisten und Rassisten Trump verhindert werden könnte. Tatsächlich gab es im Vorfeld der US-Wahl sogar Aufrufe US-amerikanischer AnarchistInnen, Clinton zu wählen, um Trump, den Kandidaten des Ku-Klux-Klan, zu verhindern.
Und als moderne Faschisten des 21. Jahrhunderts müssen wir Donald Trump und seine extrem rechte Hand Stephen Bannon (4) tatsächlich begreifen.
Bannon war Chefredakteur der Homepage „Breitbart News“, dem wichtigsten Sprachrohr der „Alt Right“. „Formal ist ‚Alt Right‘ die Abkürzung für ‚Alternative Rechte‘, de facto eine Verniedlichungsform für Neonazis, Rechtsnationale und alle, die an die Überlegenheit der weißen Rasse glauben.“ (5)
Im August 2016 wechselte Bannon als Chefberater ins Donald Trump Team. Nun wird der Chefberater des künftigen Präsidenten der wohl zweitmächtigste Mann der größten Atommacht. Bannon ist ein Nationalist, „der seine Kinder nicht auf eine Schule mit ‚zu vielen Juden‘ schicken möchte, und der auf seiner Webseite rassistische und antisemitische Hetze betreibt“, kritisiert die „Jüdische Allgemeine“. (6)
Trump hat sich direkt nach der Wahl als „Präsident aller Amerikaner“ bezeichnet. Das ist er nicht. Mit seinen rassistischen, sexistischen und behindertenfeindlichen Sprüchen ist er der Präsident der angry white men, der antisemitischen „Alt Right“.
Die mächtige National Rifle Association (NRA) freut sich über den Sieg des republikanischen Waffenlobbyisten, der angekündigt hat, waffenfreie Zonen an Schulen abzuschaffen. Als Präsident soll das eine seiner ersten Amtshandlungen werden.
Der massiv u.a. von der Deutschen Bank gestützte Patriarch ist ein Hoffnungsträger der US-Kohleindustrie, die sich von diesem Leugner des Klimawandels eine Rückkehr in das Kohlezeitalter erhofft. Für Ökologie und Weltklima ist der Sieg des Kohle-, Atomkraft- und Fracking-Lobbyisten ein Super-GAU.
Der „freundliche Faschist“ im Weißen Haus
In einem Interview äußert sich der linke US-Filmemacher Michael Moore am 9. November zum Wahlergebnis: „Bertram Gross hat 1980 das Buch ‚Friendly Fascism‘ (Freundlicher Faschismus) geschrieben. Er hat vorhergesagt, dass der Faschismus des 21. Jahrhunderts keine Konzentrationslager, keine Todeszüge oder ähnliches haben wird, stattdessen wird der Faschismus ein freundliches Gesicht haben und vielleicht über eine Fernsehshow zu uns kommen. Wir haben heute einen Faschisten des 21. Jahrhunderts gewählt. Jemanden, der ein frauenverachtender Nationalist und Rassist ist.“ (7)
Wenn aus Satire Realität wird
Was im Jahr 2000 noch ein ironischer Scherz in einer Folge der Comicserie Simpsons war, wird am 20. Januar 2017 bittere Realität. Der pöbelnde Milliardär und notorische Lügner, der in seinen niveaulosen Reality-Shows Menschen gedemütigt hat und mit seiner sexualisierten Gewalt gegen Frauen („Grab her by the pussy“) prahlte (8), wurde von 60 Millionen US-AmerikanerInnen zum mächtigsten Mann der Welt gewählt.
Sehr viele weiße US-Männer über 45 Jahre, aber auch 52 Prozent der weißen US-Frauen haben diesen Anti-Feministen tatsächlich gewählt.
Warum Trump?
Der US-amerikanische Anarchist Noam Chomsky skizziert in einem Interview, das die „Rhein-Neckar-Zeitung“ mit ihm geführt und am 13. November 2016 veröffentlicht hat, mögliche Ursachen dafür, dass der Immobilienmogul einen hohen Anteil von Stimmen der weißen US-AmerikanerInnen bekommen hat, quer durch alle Schichten, aber ganz besonders bei Menschen mit geringem Bildungsgrad und mit mittlerem oder geringem Einkommen.
Der emeritierte Linguistik-Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) konstatiert, dass sich bei diesen Menschen sehr viel Wut und Enttäuschung über die neoliberale Politik angestaut habe, die die Eliten in der vergangenen Generation gemacht haben.
Selbst auf dem Höhepunkt des Wirtschaftsbooms im Jahr 2007 sei die Kaufkraft des Einkommens der arbeitenden Bevölkerung in einfachen Jobs geringer als zu Beginn des Neoliberalismus gewesen. Außerdem herrsche dort die Überzeugung vor, dass die Regierung nur die Minderheiten unterstütze, die hart arbeitende weiße Arbeiterklasse benachteiligt werde und ihre Kultur verloren gehe.
Chomsky erklärt: „Die USA leben kulturell gesehen zu weiten Teilen in einer vormodernen Zeit. Nahezu die Hälfte der Bevölkerung geht etwa davon aus, dass die Erde erst einige tausend Jahre alt ist und dass der Klimawandel kein Problem darstellt, weil Jesus Christus in den kommenden Jahrzehnten zurückkehren wird. Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse mit der Bibel kollidieren, muss die Wissenschaft in ihren Augen falsch liegen. Man muss sich klarmachen, dass die USA bis zum Zweiten Weltkrieg wissenschaftlich und gesellschaftlich rückständig waren, im Vergleich zu Europa. In Teilen hat sich dies nicht geändert.“
Nach Chomsky haben die Demokraten in den siebziger Jahren aufgehört, die Interessen der weißen Arbeiterschaft zu vertreten: „Seitdem scharen sich diese hinter ihren Klassenfeinden von den Republikanern. Denn die Steuerpolitik der Republikaner dient allein den Interessen der Reichen und Mächtigen. Sie geben sich aber ein bodenständiges Image, wie auch George W. Bush, der sich als jemand inszenierte, mit dem man gerne ein Bier trinken gehen würde. Trump ist etwas Ähnliches gelungen.“
Weitere Gründe für die Wahl des Demagogen sieht der bald 88-jährige Intellektuelle in der Tatsache, dass viele US-AmerikanerInnen ihre Jobs verloren haben und es eine große Bereitschaft gebe, nach Sündenböcken zu suchen – wie etwa den EinwandererInnen.
„Außerdem haben Befragungen ergeben, dass eine überwältigende Mehrheit der Wähler Wandel wollte. Sie waren unzufrieden mit dem Status Quo. Hillary Clinton aber stand genau für diesen Status Quo.“ (9)
Mögliche Folgen der Wahl
Schon in den ersten Tagen nach der Wahl des geistigen Brandstifters wurden über 500 rassistische Übergriffe und Straftaten öffentlich, bei denen sich die Täter meist direkt auf ihren Führer Trump bezogen (10).
Trump hetzte im Wahlkampf gegen „Illegale“, Mexikaner, Muslime, Flüchtlinge, Schwarze, Schwule, Lesben, Transsexuelle, Behinderte und emanzipierte Frauen. Nun ist zu befürchten, dass sich die durch seine extrem aggressive Wahlkampagne geöffnete Büchse der Pandora nicht mehr schließen lässt. Der Hass der von ihm erweckten „Trump-Bewegung“ und die Übergriffe gegen Minderheiten und Feministinnen werden unter der Trump-Regierung alltäglich und wahrscheinlich weiter zunehmen.
Für viele Kinder und Erwachsene in den USA ist ein Präsident ein Vorbild. Der vom bösartigen Horrorclown und skrupellosen Mobbingkönig zum US-Präsidenten aufgestiegene Trump wird also mit ziemlicher Sicherheit in den nächsten Jahren Sexismus, Rassismus und Homophobie weiter hoffähig machen. Eine Katastrophe für alle emanzipatorisch denkenden Menschen, eine auch physische Bedrohung für alle Nicht-Weißen.
Es ist ein Rückschlag für den Feminismus und für alle Menschen, die die Würde des Menschen achten. Viele der in den letzten Jahrzehnten erkämpften politischen und sozialen Errungenschaften, selbst elementare Bürgerrechte sind unter der sozialdarwinistischen Trump-Regierung massiv bedroht.
Unter extremem Druck stehen vor allem auch die über elf Millionen illegalisierten Menschen in den Vereinigten Staaten.
Trump hat in seinem ersten Interview nach der Wahl angekündigt, dass er in den ersten Monaten seiner Amtszeit zwei bis drei Millionen „Illegale“ nach Mexiko abschieben oder inhaftieren lassen will.
Im Wahlkampf hat der Misanthrop klar gemacht, dass er Waterboarding, die unter Kriegsverbrecher George W. Bush von der CIA praktizierte und von Barack Obama wieder verbotene Foltermethode, erneut legalisieren und anwenden lassen will. Zudem wolle er, so Trump wörtlich, „noch viel schlimmere Dinge“ einführen. Folter funktioniere als Verhörmethode, sagte er im Februar 2016.
Menschenrechte und Empathie haben für diesen selbst erklärten „Sieger-Typen“ keinerlei Bedeutung. Und der Jubel, den der Sieg des Patriarchen bei Orbán, Le Pen, Petry, Wilders, Erdogan und anderen Menschenfeinden weltweit ausgelöst hat, lässt für die weiteren Entwicklungen in vielen Ländern der Welt das Schlimmste befürchten.
Faschistische Bewegungen und rechtsnationalistische Parteien sehen sich durch Trumps Erfolg bestärkt und spekulieren auch in vielen Ländern Europas auf Wachstum und Wahlerfolge. Autokraten haben Aufwind und können auf einen Bruder im Geiste im Weißen Haus setzen.
Tatsächlich wäre wohl auch ein Ende der Europäischen Union absehbar, wenn im Dezember 2016 in Österreich der Rechtsextremist Hofer (FPÖ) zum Bundespräsidenten gewählt wird, Geert Wilders‘ rechtsnationalistische Partij voor de Vrijheid die Wahlen am 15. März 2017 in den Niederlanden gewinnt und Marine Le Pen eine reale Chance hat, im Mai 2017 zur ersten Präsidentin des Front National in Frankreich gewählt zu werden. (11)
Die Wahl eines fremdenfeindlichen Hetzers zum 45. US-Präsidenten ist eine Zeitenwende, aber keine zum Guten
Noam Chomsky äußert sich besorgt: „Die wichtigste Nachricht dieser Woche ist nicht die Wahl in den USA. Sondern ein Bericht von der Klimakonferenz in Marokko, der zeigt, dass sich die globale Erwärmung beschleunigt und die Eisfläche in der Arktis um 30 Prozent verringert hat. Zur gleichen Zeit hat das mächtigste Land der Erde eine Partei gewählt, die sich die Zerstörung der Menschheit zum Ziel gesetzt hat. Aber alle Medien berichten nur über die oberflächlichen Folgen der Wahl. Ich finde das schockierend.“
Trump stellte schon 2012 die absurde Behauptung auf, das „Konzept der globalen Erwärmung“ sei „von den Chinesen erfunden“ worden, um der Wettbewerbsfähigkeit der amerikanischen Industrie zu schaden.
Im Wahlkampf hat er angekündigt, dass er die Unterschrift unter das Pariser Klimaabkommen zurücknehmen will. Trump habe „jemanden ausgewählt, um die Umweltschutzagentur in den USA de facto abzuschaffen, der den Klimawandel offen bestreitet. Dieser Mensch ist sogar stolz darauf, dass er Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace zum Feind hat. Er wird dafür sorgen, dass die Umweltschutzagentur keinen Einfluss mehr haben wird“, befürchtet Chomsky.
Trump und der Krieg
Trump hat einerseits eine Aufrüstung in den USA angekündigt, gleichzeitig will er das militärische US-Engagement im Ausland weitgehend reduzieren und sich auf die „Vernichtung“ des IS konzentrieren, wobei eine militärische Kooperation mit dem ebenfalls autokratischen und homophoben Putin-Regime wahrscheinlich ist.
Henrik Paulitz vermutet, dass der angebliche „Isolationismus“ des neuen US-Präsidenten nicht zu weniger Kriegen führen werde, sondern zu einer Neuaufteilung von Aufgaben unter den globalen Kriegsmächten. Dabei folge Trump Entwicklungen, die schon seit Jahren vorangetrieben würden: „Von der Bundesrepublik Deutschland wird verlangt, künftig weitaus mehr für Rüstung auszugeben und sich ‚führend‘ als militärische Ordnungsmacht in Europa, in Nordafrika sowie im Nahen Osten bis Zentralasien zu engagieren. Ein äußerst bedrohliches Szenario.“ (12)
Die deutsche Kriegsministerin Ursula von der Leyen zeigte sich nach der US-Wahl einerseits schockiert über Trumps Sieg. Andererseits hat sie seine Forderungen freudig aufgenommen und will eine drastische Erhöhung der deutschen Rüstungsausgaben durchsetzen, gegen den Willen der AntimilitaristInnen und großer Teile der Bevölkerung. Die Rüstungsindustrie und reaktionäre Kreise, die schon lange von der Wiederauferstehung Deutschlands auch als militärische Großmacht träumen, frohlocken.
Perspektiven emanzipatorischer Bewegungen
New York, Chicago, San Francisco, Washington, … Seit dem 9. November gibt es in den meisten Städten der USA unter dem Motto „Not my president!“ große, gewaltfreie Demonstrationen gegen den Hassprediger.
Der Schock über Trumps Wahlsieg sowie die Politisierung, also Aufklärung über Macht- und Herrschaftsverhältnisse, führen dazu, dass sich viele emanzipatorische AktivistInnen radikalisieren. Graswurzelbewegungen, die in der Tradition Martin Luther Kings stehen, gewaltfreie Massenbewegungen gegen die Vorhaben des Trump-Regimes haben Zulauf. Für den 21. Januar mobilisieren Feministinnen zu einem Million Women March nach Washington D.C. (13).
Und in Deutschland? Die Proteste gegen den G-20-Gipfel am 7. und 8. Juli 2017 in Hamburg sollen auch zu einer großen Anti-Trump-Demo werden. Das kündigte die interventionistische Linke (iL) an. Zum G-20-Gipfel kommen die Staats- und Regierungschefs der 20 reichsten Länder zusammen. Zu den Protesten werden zigtausende AktivistInnen erwartet. „G20 ist der Gipfel des globalen Kapitalismus, auf dem Angela Merkel rechten Demagogen wie Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin die Hand schütteln wird. Die etablierte Politik kann die Monster einer erstarkten Rechten, die sie selbst geschaffen hat, nicht bändigen. Die Integrationskraft der herrschenden Ordnung nimmt von Tag zu Tag ab“, so iL-Pressesprecherin Emily Laquer. Alle, die für eine Gesellschaft der Solidarität stehen, sind eingeladen, sich an den Protesten zu beteiligen. (14)
Antifaschistischer Widerstand, Zivilcourage im aggressiver werdenden Alltag, eine Vernetzung emanzipatorischer Bewegungen und Solidarität mit Geflüchteten und Marginalisierten werden in den nächsten Jahren nötiger denn je sein, hier, in den USA, weltweit.
Mit dem Wahlsieg des Großkapitalisten haben die anti-kapitalistischen und emanzipatorischen Kämpfe einen Rückschlag erlitten. Trotzdem sind diese Kämpfe nicht verloren.
Rudy Giuliani, ehemaliger Bürgermeister von New York City und bekannt für seine extrem rechten Positionen, bezeichnete den Wahlerfolg seines Freundes als „einen der größten Siege für das amerikanische Volk seit Andrew Jackson“.
„Wer war Andrew Jackson?“, werden jetzt viele fragen.
„Andrew Jackson war ein Landspekulant, ein Kaufmann, ein Sklavenhändler und der aggressivste Feind der Indianer in der Frühphase der amerikanischen Geschichte“, so der US-amerikanische Historiker und Gewaltfreie Anarchist Howard Zinn (1922 – 2010) in seinem Standardwerk „A People’s History of the United States“. (15) Den Schwerpunkt von Zinns Geschichtsforschung bildeten die Bürgerrechts- und Friedensbewegungen. Als Praktiker der „Geschichte von unten“ bot er eine Revision der amerikanischen Geschichtsschreibung. Sein Buch versucht, die amerikanische Geschichte aus der Perspektive von sonst in der Geschichtsschreibung wenig beachteten Gruppen, darunter auch machtlosen „Opfern“, zu beschreiben. Die Welt braucht Menschen wie Howard Zinn.
Anarchistische Parlamentarismuskritik nach der US-Wahl
Als AnarchistInnen wollen wir weder regieren noch regiert werden, auch nicht von Mehrheiten. Ich möchte meine Entscheidungen selbstbestimmt und kollektiv treffen. GraswurzelrevolutionärInnen wissen, dass die gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft heute noch eine Utopie ist, ihre Verwirklichung aber die menschengerechteste Form sozialer Organisierung wäre.
In dem 1994 erschienenen „Sonderheft zur Kritik der Parlamentarischen Demokratie“ (GWR Nr. 146/47/48) heißt es: „Im Unterschied zur nationalistischen und neonazistischen Parlamentarismuskritik kritisiert der Anarchismus am Parlamentarismus nicht, daß zuviel, sondern daß zuwenig frei diskutiert wird, er kritisiert nicht dessen anscheinende Unfähigkeit, sondern seine Effektivität des Regierens. (…) Die direkte Aktion ist die unmittelbare Form der Selbstbestimmung, parlamentarische Vertretung ist demgegenüber das Abgeben des Selbstbestimmungsrechts an andere, das heißt Selbstentmündigung.“
Das Dilemma
So richtig die oben skizzierte Analyse heute noch ist, so falsch wäre es aus meiner Sicht, jetzt anlässlich der Präsidentenwahl im Dezember 2016 in Österreich zum Wahlboykott aufzurufen. In Österreich stehen ein Rassist mit nationalsozialistischem Weltbild und ein grüner Langweiler zur Wahl. Wenn ein Kreuzchen dazu beitragen kann, einen Faschisten nicht in eine Machtposition zu hieven, dann machen auch AnarchistInnen dieses Kreuzchen.
Ein Wahlergebnis, wie das in den USA, hat einen extremen sozialen und politischen Rückschritt zur Folge und kann uns noch viel weiter von der Verwirklichung einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaft entfernen. Bei der Wahl zwischen Faschismus und liberaler Demokratie entscheiden wir uns also für das deutlich kleinere Übel.
Das bedeutet nicht, dass unsere anarchistischen Utopien falsch sind oder ab sofort an der Wahlurne verwirklicht werden.
Wie problematisch ein System ist, das einen Menschenfeind wie Trump in die Lage versetzt, den roten Knopf zu drücken und somit die Menschheit auszulöschen, wird durch das US-Wahlergebnis vielen bewusst.
Immer mehr Menschen erkennen, dass das kapitalistisch-demokratische Herrschaftssystem ein menschheitsgefährdendes Potential hat.
Ziel des Anarchismus ist es, die fortgesetzte Reproduktion von Herrschaft zu unterbrechen.
Deshalb suchen wir emanzipatorische Methoden der Entscheidungsfindung, die ohne Führer, Befehl und Gehorsam soziales Leben organisieren. Wir brauchen Aufklärung, eine freie, herrschaftskritische Presse, Gegenöffentlichkeit und soziale Bewegungen, die für die Würde aller Menschen kämpfen.
Wir werden Geschichte von unten schreiben – und sie wird anders aussehen, als die von Trump, Bannon und Co.
¡No pasarán!
Anmerkungen
(1) Zitiert aus: 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, S.115, https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band08.pdf
(2) Laut ORB (Opinion Research Business) wurden von März 2003 bis August 2007 zwischen 946.000 und 1.120.000 IrakerInnen getötet.
(3) zit. nach Trigger Alarm, Der Spiegel 46/2016, 12.11.2016, S. 12
(4) Zu Bannon und Breitbart siehe den Artikel von dju in dieser GWR, S. 8.
(5) zitiert nach: Trumps Nazi-Helfer, Der Spiegel 48, 26.11.2016, S. 21
(6) Sergey Lagodinsky: Was auf uns zukommt. Womit haben Juden in den USA und Europa angesichts des Erfolgs der antiliberalen Bewegung zu rechnen?, in: Jüdische Allgemeine, 17.11.2016, www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/27009
(7) SZ, 9.11.2016. www.sueddeutsche.de/politik/us-wahl-wir-haben-einen-faschisten-gewaehlt-1.3243303
(8) siehe: www.spiegel.de/politik/ausland/trumps-video-anatomie-eines-politischen-gaus-a-1115800.html und https://www.youtube.com/watch?v=8wM248Wo54U
(9) US-Wahl-Analyse: Warum Trump, Professor Chomsky? Interview von Christian Altmeier, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 13.11.2016, www.rnz.de/politik/hintergrund_artikel,-US-Wahl-Analyse-Warum-Trump-Professor-Chomsky-_arid,234526.html
(10) vgl. Der Spiegel Nr. 47, 19.11.2016
(11) siehe Coastliners Artikel "Kommt nach Trump in den USA Marine Le Pen in Frankreich?" in dieser GWR
(12) Henrik Paulitz: Trump und der Weg Deutschlands zur Weltordnungsmacht, in GWR 414, Dezember 2016, S. 9f.
(13) Siehe: http://nytlive.nytimes.com/womenintheworld/2016/11/11/million-women-march-being-planned-for-january-21-2017-in-d-c/
(14) Weitere Infos: www.g20-hamburg.org
(15) hier zitiert nach: https://zinnedproject.org/2016/11/andrew-jackson-time-revisit/
Eine englische Fassung dieses Artikels findet sich unter:
http://portland.indymedia.org/en/2016/12/433934.shtml