quer gestellt

Lingen: Prozessmarathon gegen Atomkraftgegnerin

| Eichhörnchen

Es kommt nicht alle Tage vor, dass in Lingen 700 Menschen zusammen kommen, um gegen die Atomkraft zu demonstrieren. Als wir im Oktober 2012 zum ersten Mal mit einer Sitz- und Luft-Blockade gegen die AREVA Brennelementefabrik in Lingen protestierten, war diese Anlage in der Antiatombewegung kaum ein Thema - und in der breiten Öffentlichkeit weitestgehend unbekannt.

Die regelmäßigen Demonstrationen und Blockadeaktionen haben Aufmerksamkeit bewirkt – und das ist gut so. Die Anlage steht am Anfang der Atomspirale und ermöglicht die Versorgung von Atomreaktoren mit Brennstoff in aller Welt – darunter die Pannenreaktoren in Frankreich (fehlerhafte Bauteile) und Belgien (rissanfällige Reaktoren). Erst vor Kurzem wurde eine durch die Städteregion Aachen in Auftrag gegebene Studie zu den Risiken des AKW Thiange (Belgien) veröffentlicht. Tausende Haarrisse im Reaktorbehälter, Sabotage und brennende Schalttafeln machen dieses AKW zu einer tickenden Zeitbombe. Politiker*innen aller Couleur regen sich über diesen Zustand auf, weigern sich jedoch, den Saft für die Reaktoren durch die Schließung der Lingener Brennelementefabrik abzudrehen. Schlimmer noch: Der Staat verfolgt die Menschen, die sich gegen diese Politik mit kreativem Widerstand zur Wehr setzen. Der Prozessmarathon gegen eine Atomkraftgegnerin, die am 25. Oktober 2016 zum wiederholten Mal wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“ durch Festhaken aneinander bei der Räumung einer Sitzblockade vor dem Lingener Gericht stand, belegt dies eindrucksvoll.

Blockade der Brennelementefabrik und Kriminalisierung

Im Sommer 2013 blockierten ca. 50 Atomkraftgegner*innen die Zufahrt zur Brennelemetefabrik. Infolge einer Räumung durch die Polizei sahen sich die Teilnehmenden mit zahlreichen Gerichtsverfahren konfrontiert. Die Vorwürfe lösten sich jedoch alle in Luft auf. Die Verfahren wurden mit Freisprüchen und Einstellungen beendet.

Die Staatsanwaltschaft, die die Interessen des Staates vertritt und auf Einschüchterung und Kriminalisierung von Protestierenden setzt, zeigte sich mit diesem Ergebnis nicht zufrieden. Sie ging gegen ein Freisprechurteil in Revision und erzielte die Aufhebung des durch den Amtsrichter oberflächlich und fehlerhaft begründeten Urteils. Die Sache wurde an das Amtsgericht zur erneuten Entscheidung zurück verwiesen. In einem ersten Verhandlungstermin Anfang 2016 versuchte das Gericht, die Staatsanwaltschaft zu einer Einstellung des Verfahrens zu bewegen – der Versuch blieb erfolglos. Obwohl es sich selbst nach Aussage der Staatsanwaltschaft um einen Bagatellfall handelt, besteht „öffentliches Interesse“ an der Verfolgung. Interesse an der Verfolgung der tödlichen Machenschaften der Atomindustrie besteht dagegen offensichtlich nicht.

Lückenhafte oder gar falsche Aussagen eines Polizeizeugen

Im Prozess zeigte sich, dass die Staatsanwaltschaft mit ihrem Verfolgungsinteresse nicht alleine da stand. Ein als Belastungszeuge auftretender Polizeibeamter, in seiner Einheit nach eigenem Bekunden Spezialist für die schmerzhafte „Nervendrucktechnik“ (sehr schmerzender Druck auf Nerven, um eine Person zur „aktiven“ Mithilfe bei Polizeimaßnahmen zu zwingen), legte sich engagiert ins Zeug, um die Angeklagte zu belasten. Er erklärte gleich zu Beginn seiner Vernehmung, die Angeklagte habe sich „extrem gewehrt“, und verwies auf seine „unmittelbar“ nach dem Geschehen gefertigten Anzeigen und Protokolle. Eigene Erinnerungen an das Geschehen hatte er nicht (mehr). Eine kritische Befragung durch die Verteidigung förderte jedoch zu Tage, dass besagte Protokolle und die Anzeigen erst zwei Monate nach dem Vorfall gefertigt wurden. Das Polizeivideo stand zudem im Widerspruch zu der Aussage des Zeugen. Dort sind lediglich aneinander gehakt sitzende Demonstant*innen zu sehen, die nach und nach mit „Nervendrucktechnik“ auseinander gelöst und weggetragen werden. Ein „Opfer“ der „Gewalt“ der Demonstrant*innen ist nicht zu sehen. Viel mehr scheint der Beamte Spaß daran zu haben, seine „Nervendrucktechnik“ einzusetzen und Menschen Schmerzen zuzufügen.

„Öffentliches Interesse“ der Staatsanwaltschaft

Trotz der lückenhaften, wenn nicht falschen Aussagen der Zeugen, stimmte die Staatsanwaltschaft einer Einstellung des Verfahrens auf Staatskosten weiterhin nicht zu. Auch für den Umstand, dass die Angeklagte nach wie vor mit den Folgen des unverhältnismäßigen Polizeieinsatzes zu kämpfen habe, interessierte sie sich nicht. Der Angeklagten wurde im Zuge des Polizeieinsatzes ein Finger gebrochen. Von dieser Verletzung hat sie sich nie erholt. Ermittlungen gegen die Polizeibeamten wurden nicht geführt, daran bestehe kein „öffentliches Interesse“.

Es kam folglich zu den Plädoyers. Die Staatsanwaltschaft forderte eine Verurteilung zu 15 Tagessätzen wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

„So schafft man Kriminelle“

Die Verteidigung plädierte auf Freispruch. „So schafft man Kriminelle. Die Justiz übernimmt die Forderungen der Polizeigewerkschaft“, erklärte der Anwalt. So einfach, wie von der Staatsanwaltschaft dargestellt, sei der Fall jedoch nicht. Beim Widerstand müsse sich die Gewalt bewusst gegen die Polizeibeamten richten und das sei hier nicht der Fall. Ein einfaches Festhaken ohne Kraftentfaltung gegen die Beamten sei kein Widerstand im Sinne von § 113 StGB. Das OLG Frankfurt am Main habe in einem früheren Urteil geschrieben, das Aneinanderfesthaken auf einer Demonstration könne ein Zeichen der Solidarität von Demonstrant*innen untereinander sein, daraus könne man keinen Vorsatz im Sinne des § 113 StGB heraus leiten.

Die Angeklagte betonte in ihrem letzten Wort, wie absurd das Verfahren ihr vorkomme. Die gegen ihre Sitznachbarinnen eingeleiteten Verfahren endeten alle entweder mit einem Freispruch oder mit einer Einstellung. Da sie sich nicht anders verhalten habe und schließlich als Letzte weg getragen worden sei, müsse die Widerstandshandlung wohl „Festhaken in der Luft“ gewesen sein.

Überraschendes Urteil

Die Angeklagte wurde vom Vorwurf des Widerstandes frei gesprochen. Der Vorsitzende Richter begründete sein Urteil mit einem unvermeidbaren Verbotsirrtum. Er selbst sehe das Unterhaken nicht als strafbar an. Der Freispruch beim ersten Prozess und die Aufhebung des Urteils durch das Oberlandesgericht hätten gerade bewiesen, dass selbst Juristen und berufliche Richter sich darüber uneins sind, ob und wann das „sich Unterhaken“ als Widerstand zu werten sei. Von der Angeklagten könne insofern nicht verlangt werden, dies einzuordnen. Vorsatz könne somit nicht festgestellt werden.

Der Vorsitzende verurteilte sie jedoch überraschend zu einem Bußgeld in Höhe von 50 Euro wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz; also für die Ordnungswidrigkeit die bei ihren Mitstreiter*innen längst verjährt ist und bei der Angeklagten nur deshalb nicht verjährt war, weil diese zusammen mit einem Strafvorwurf mit deutlich höheren Verjährungsfristen verhandelt wurde.

Darüber hinaus muss sie die gesamten Kosten der diversen Gerichtsinstanzen tragen. Eine Ersatzbestrafung, die sie sich nicht gefallen lassen wird, so dass das Ende des seit über drei Jahren andauernden Prozessmarathons nicht absehbar ist.

Damit ist die Angeklagte die Einzige, die für die Protestaktion verurteilt wird. „Man sollte die Betreibenden der Atomanlagen verfolgen, anstatt diejenigen zu kriminalisieren, die auf die Gefahr derselben aufmerksam machen“, fordert die Aktivistin.