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Aufruhr, Terror und die Logik der Gewalt

Die "Propaganda der Tat"

| Antje Schrupp

Philippe Kellermann (Hg): Propaganda der Tat. Standpunkte und Debatten. Reihe "Klassiker der Sozialrevolte", Bd. 26, Unrast Verlag, Münster 2016, 288 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-89771-924-8

„Überall, wo es nach Aufruhr und Pulver riecht, müssen wir mit dabei sein. … Jede Volksbewegung birgt die Keime eines revolutionären Sozialismus in sich: Wir müssen also an ihr teilnehmen, um sie weiterzuführen. Denn das Volk ist die lebendige Revolution, und wir müssen mit ihm kämpfen und sterben.“ (S. 24)

Dieser Aufruf des italienischen Anarchisten Carlo Cafiero aus dem Jahr 1880 liest sich heute, in einer Welt, in der Flüchtlingsunterkünfte brennen, Attentate auf Abtreibungskliniken verübt werden und liberale Autorinnen Morddrohungen bekommen, ziemlich beängstigend. Der Terror, so wissen wir inzwischen, ist nicht nur eine linke und freiheitliche Angelegenheit, er ist vielleicht fast mehr noch eine rechte und faschistoide Angelegenheit. Und das „Volk“ und seine Wünsche sind ein wenig verlässlicher Indikator für die Richtung, die wir einschlagen müssen, um zu mehr Freiheit, mehr Toleranz, mehr gutem Leben für alle zu kommen.

Umso interessanter ist es, die in diesem Buch zusammengestellten Originaltexte derer zu lesen, die in den Jahrzehnten vor und nach 1900 in Europa die „Propaganda der Tat“ betrieben und als politische Strategie entwickelten.

Mit großer Sorgfalt hat Philippe Kellermann diese Quellen ausgewählt und ausführlich und kenntnisreich mit Anmerkungen versehen, sodass die jeweiligen Kontexte und Hintergründe auch dann nachvollziehbar sind, wenn man sich mit der Geschichte Europas vor dem Ersten Weltkrieg nicht näher auskennt.

Es fällt vor allem auf, wie aktuell die Argumentationen sind, wo Terroranschläge ja immer noch (oder erneut) die politischen Debatten prägen. Deutlich wird jedenfalls, wie eng das Phänomen „Bomben und Attentate“ mit der europäischen politischen Kultur verknüpft ist und wie falsch es ist, dass heute viele so tun, als würden Bombenanschläge und Attentate von außen, von Fremden, Barbaren, Muslimen, in unser für sich genommen doch so zivilisiertes Europa hereingebracht.

Die „Propaganda durch die Tat“, also die Idee, dass „die Massen“ nicht durch Texte und Reden, sondern nur durch Ereignisse und Taten erreicht werden könnten, ist aufs Engste verknüpft mit der Entstehung der westlichen Formen von Parteiendemokratie. Ende des 19. Jahrhunderts war nämlich die Konsolidierung des republikanischen politischen Systems soweit fortgeschritten, dass seine Charakteristik deutlich wurde: Der legitime politische Diskurs wurde auf Institutionen von Presse, Parteien und Gewerkschaften beschränkt – zum Beispiel: geregelter Streik ist erlaubt, Generalstreik nicht. Und genau diese Beschränkung wurde als „demokratisch“ definiert, obgleich die allermeisten Menschen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen in diesem Rahmen eben kein Gehör finden und aufgrund vielfältiger Umstände und Ausschlüsse auch nicht finden können.

Das Attentat, der Bombenanschlag, ist – das wird in den hier dokumentierten Texten überdeutlich – in erster Linie eine Reaktion darauf. Es ist eine mögliche Reaktion derjenigen, die sich nicht mit einem politischen System abfinden möchten, das sich in Form der Sozialdemokratie letztlich auch die Arbeiterbewegung einverleibt hat und in dem es keinen anderen legitimen Ort des politischen Protestes mehr gibt, keine Aktionen, die außerhalb dieses parlamentarisch-demokratischen Grundkonsens liegen. Und das, während doch gleichzeitig von Seiten der Regierenden Interessenspolitik für Reiche und Privilegierte nicht mehr nur betrieben wird (wie es im Feudalismus oder Absolutismus der Fall war), sondern jetzt als „demokratisch“ gelabelt.

Der parlamentarische Demokratismus, so die Analyse derer, die für eine „Propaganda durch die Tat“ eintreten, mutet den Benachteiligten letztlich zu, ihre eigene Benachteiligung als legitimes Ergebnis politischer Prozesse hinzunehmen und am Ende sogar noch zu verteidigen.

Das soll die Logik der Gewalt nicht entschuldigen, aber es macht sie verstehbar. Interessant zu lesen sind auch die Texte von prominenten Anarchist_innen wie Emma Goldman oder Gustav Landauer, die sich genötigt sahen, eine Position zu den oft ja von Einzelpersonen begangenen Attentaten zu beziehen.

Man erwartete von ihnen, dass sie sich öffentlich vom Terrorismus distanzieren oder aber, dass sie im Gegenteil die Verantwortung dafür im Namen „des Anarchismus“ übernehmen.

Es ging ihnen da genauso, wie es heute den Muslim_innen geht, die zu einer Standortbeziehung genötigt werden. So wie damals der Anarchismus generell unter Terrorismusverdacht stand, tut es heute der Islam.

Und damals wie heute dient dieser Diskurs dazu, das Problem zu ignorieren und zu verschleiern, das eigentlich der terroristischen Gewalt zugrunde liegt: die Unfähigkeit der repräsentativen Demokratie, eine wirkliche Beteiligung aller Menschen zu organisieren, obwohl sie genau das behauptet. Und die Anfälligkeit ihrer Institutionen dafür, von reichen und mächtigen Gruppen vor den eigenen Karren gespannt zu werden. Doch damit muss man sich ja nicht beschäftigen, wenn das Problem schlicht „der Anarchismus“ oder „der Islam“ heißt.

„Propaganda der Tat. Standpunkte und Debatten“ ist ein wichtiges Quellenbuch, das, wenn man ein bisschen Transfer leistet, nicht nur von historischer Bedeutung ist, sondern ziemlich aktuell.