Zülfukar Çetin, Heinz-Jürgen Voß: Schwule Sichtbarkeit - schwule Identität. Kritische Perspektiven. Psychosozial-Verlag, Gießen 2016, 146 Seiten, 19,90 Euro, ISBN-13: 978-3-8379-2549-4
Der westliche Diskurs über Homosexualität ist eng mit Nationalismus und rassistischen Zuschreibungen an „Migrant_innen“ verbunden. Viele Menschen im Westen sind überzeugt, dass die Akzeptanz vielfältiger sexueller Identitäten eine speziell westliche Errungenschaft sei. Und allzu oft dient der Vorwurf der Homophobie der Bekräftigung einer westlichen Überlegenheit und die Behauptung, man müsse LGBTQ-Rechte (1) schützen, zur Legitimation von Kriegen.
Das Buch „Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität. Kritische Perspektiven“ von Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß liefert wichtige Erkenntnisse zu dieser Verbindung und bezieht klar eine Position auf der antirassistischen Seite des Diskurses.
Heinz-Jürgen Voß, Sexualwissenschaftler an der Uni Merseburg, beschreibt im ersten Teil des Buches, wie westliche schwule Männern im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein identitäres Homosexualitätskonzept entwickelten, auch um sich mit dieser Hilfe von den „südländischen“ Männern oder den Männern in kolonialisierten Ländern hierarchisch abzugrenzen. Diese, so wurde unterstellt, hätten zwar auch irgendwie Sex mit Männern, wären aber nicht wirklich homosexuell.
Die Türkei, so erfahren wir außerdem, war am Anfang des 20. Jahrhunderts offenbar ein Eldorado für westliche Schwule, weil man sich dort nicht verstecken musste – so ändern sich die Zeiten, denn heute wird ja speziell türkischen jungen Männern oft eine besonders ausgeprägte Homophobie zugeschrieben. Amüsant ist auch zu lesen, wie mit Hilfe westlicher Wissenschaftskonstrukte im späten 19. Jahrhundert das ominöse „homosexuelle Wesen“ konstruiert wurde, das bestimmte Menschen eben hätten und andere nicht: Man versuchte, es in körperlichen Markern zu vereindeutigen; in den Keimdrüsen zum Beispiel oder in den Genen, je nachdem, was in der Biologie gerade Mode war.
Vielleicht ist die enge Verbindung dieser „Erfindung“ einer bestimmten Weise der Homosexualität mit rassistischen und nationalistischen Ideologien in dem Buch etwas zu stark gezeichnet. Eigentlich müsste man die entsprechenden Diskurse jetzt noch einmal in einem größeren Rahmen kontextualisieren, um sie entsprechend bewerten zu können. Aber unbedingt muss heutiger schwuler Aktivismus diese Schattenseiten der eigenen Geschichte reflektieren.
Voß schlägt im Übrigen vor, dass wir Homosexualität als fixes Konzept wieder „verlernen“ sollten. Denn durch die Konstruktion fester Identitäten und Schubladen (Hetero, Homo, Bi) bringen wir zum Beispiel Jugendliche in die Situation, dass sie sich irgendwo zuordnen müssen. Und diejenigen, die sexuelles Begehren zu Menschen ihres eigenen Geschlechts verspüren, werden gezwungen, sich als „Andere“ zu outen – die zwar inzwischen nicht mehr so stark wie früher diskriminiert werden, aber eben doch nicht „normal“, nicht die Mehrheit sind. Eigentlich ist es aber unnötig, mit solchen Schubladen zu operieren.
Im zweiten Teil des Buches beschreibt der Soziologe Zülfukar Çetin, wie sich diese Diskurse heute in Berlin darstellen, wie sich antimuslimischer Rassismus und schwuler Lobbyismus miteinander verbinden, wie das Ganze Gentrifizierungsprozesse anstößt und emanzipatorische queere Bewegungen in den muslimischen oder migrantischen Communities unsichtbar macht oder behindert. Hier hätte ich mir manchmal eine stärkere Anknüpfung an die ideengeschichtlichen Grundlagen des ersten Teils gewünscht, da sich manches eher als Predigt zu den bereits Bekehrten liest, während die Vermittlung der Analyse etwas zu kurz kommt. Wer die Grundthese nicht ohnehin schon teilt, wird sich hiervon kaum überzeugen lassen.
Aber insgesamt ist das Buch ein wichtiger Diskussionbeitrag, der auch dabei helfen kann, das inzwischen Mainstream gewordene Verständnis nochmal zu hinterfragen, wonach Homosexualität letztlich bloß eine gleichgeschlechtliche Kopie der bürgerlichen heterosexuellen Paarkonstruktion ist.
Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen schwulen und lesbischen Praxen in anderen Kulturen könnte dabei jedenfalls inspirierend sein.