Wu Ming: Altai. Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold. Verlag Assoziation A, Hamburg/Berlin 2016, 352 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-86241-452-9
Venedig, 10. Dezember 1569. Als Explosionen einen Teil der Hafenwerkstätten in Brand setzen, soll Emanuele de Zante, Mitarbeiter des Geheimdienstes der Lagunenstadt und Seemacht, den Schuldigen finden. Auf Anweisung von Chef Nordio muss ein gewaltiger, bösartiger Schurke her, der eine Verbindung zu Venedigs größten Feinden haben soll, besonders zu dem in türkischen Diensten stehenden jüdischen Handelsherrn Joseph Nasi.
Dumm nur, als sich das Feuer lediglich als ein aus dem Ruder gelaufener Sabotageakt von einfachen Arbeitern herausstellt, vor allem aber, dass de Zantes Geliebte ihn zeitgleich bei der Inquisition denunziert. Und zwar als heimlichen Juden, da er beschnitten ist. Folglich steht der noch junge Mann von einem Augenblick auf den nächsten selbst als Verantwortlicher für die Explosionen da.
Knapp kann er entkommen, allerdings gelangt er nur bis zu seinem nicht allzu weit entfernten Geburtsort und wird dort überwältigt. Doch nicht von seinen ehemaligen Gefährten, den Schergen Nordios, stattdessen verfängt er sich im Spionagenetz der Türken.
Durch den Verrat seines Meisters auf seine eigenen jüdischen Wurzeln zurückgeworfen, lernt der Gefangene zunächst Thessaloniki, die Stadt der Sepharden, kennen, der aus Spanien vertriebenen Juden. Von dort wird er in die Metropole Konstantinopel gebracht, wo er auf den großen Gegenspieler Venedigs trifft: „Guiseppe Nasi. Der Verdammte. Der Verfluchte. Der Teufel in Person. Der Lieblingsjude des Sultans.“
Aber durch die Seelen- und Geistesgröße dieses Mannes wird der ehemalige Offizier Nordios umgedreht, nimmt wieder den von seiner jüdischen Mutter geerbten Namen „Manuel Cardoso“ an und beginnt, für Joseph Nasi zu spionieren. „Altai“, so heißen die schnellen Falken aus dem gleichnamigen Gebirge im Osten, Vögel, die von einem Herrn zur Jagd abgerichtet werden, aber aus freier Entscheidung heraus immer wieder zu ihm zurückkehren. Manuel Cardoso wird also zu Nasis „Altai“ Falken, der diesem helfen will, seinen großen Traum zu verwirklichen: Ein jüdisches Königreich auf Zypern.
Aber auch ein enger Freund des jüdischen Handelsherren fesselt Cardosos Aufmerksamkeit: „Ismael“, ein sonderbarer Alter, der, wie es scheint, in einen Aufstand schiitischer Bauern am Randes des osmanischen Imperiums verwickelt war und hinter dem sich niemand anderes verbirgt als ein an das andere Ende der Welt verschlagener Deutscher, ein überlebender Täufer aus der Kommune von Münster, „Brunnengert“. Sein jetziger Name „Ismael“ steht als Prophet Ismael „Gott hat erhört“ zum einen für die Verbindung zwischen Juden und Arabern. „Ismael“ ist aber auch der einzige Überlebende des Walfängers Pequod, des vom weißen Wal zerschlagene Schiffs. Von den Ereignissen kann nur ein Mann Zeugnis geben: Ismael.
Gert oder Ismael und sein Kampf um ein neues Zion werden in „Altai“ einmal mit einem Fluss verglichen: „Ismael war der Fluss, der zur Wolke wird, die Wüste überquert, in den Bergen abregnet und wieder zum Fluss wird.“
Auch die Romane „Altai“ und „Q“ verwandeln sich in Wolken, um die Wüste der Imperien hinter sich zu lassen, sie regnen bereits und neue Flüsse entstehen!
Die Autoren „Wu Ming“, die „Namenlosen“, Schriftsteller, anarchistische und kommunistische Aktivisten, haben mit großem Können unvergessliche Werke geschaffen.
Denn literarisch gesellen sich diese zu den besten historischen Romanen von Alexandre Dumas, Walter Scott, Arturo Pérez-Reverte, Bernard Cornwell oder Gillian Bradshaw.
Dazu erweist sich Klaus-Peter Arnold als kongenialer Übersetzer aus dem Italienischen, der die wundervolle Sprache einzufangen und unverstellt wiederzugeben vermag.
Inhaltlich stoßen die Autoren in die Tiefen der Fragen vor, wie Herrschaft und imperiale Macht entstehen, wirken und sich immer wieder erneuern können, anderseits aber auch, warum es sich lohnt, für ein Leben in Gleichheit, Freiheit und Achtung voreinander zu kämpfen.
Wen diese Fragen beschäftigen, den können diese Romane nicht kalt lassen.