In dieser Ausgabe der Graswurzelrevolution wird die Debatte um den Vorschlag der feministischen Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal dokumentiert, Opfer von sexualisierter Gewalt als "Erlebende" sexualisierter Gewalt zu bezeichnen.
Die Gruppe „Störenfriedas“ veröffentlicht einen offenen Brief zu diesem Vorschlag und Sanyal erhält die Möglichkeit, diesen offenen Brief zu kommentieren (1). Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, Partei zu beziehen oder den Leser_innen gar die ‚richtige‘ Seite in dieser Kontroverse aufzuzeigen. Vielmehr möchte ich lediglich ausführen, warum es überhaupt wichtig ist, sich über solche Wortverwendungen Gedanken zu machen. Es geht um die äußerst schwierige Suche nach einer Sprache mit und über Menschen, die etwas Traumatisches erlebt haben: Wie können insbesondere diejenigen, die eine derartige Erfahrung zum Glück nicht machen mussten, respektvoll und solidarisch mit und über durch sexualisierte Gewalt Traumatisierte sprechen?
Sprache und Macht
Sprache ist ein mächtiges Instrument. Sprache legt fest, wie wir denken, wie wir unsere gemeinsame Wahrnehmung der Wirklichkeit aushandeln und was wir überhaupt fühlen, wahrnehmen, erinnern, etc. können.
Weil Sprache so machtvoll ist, steht sie auch stets zur Verhandlung: Wörter bekommen eine neue Bedeutung, werden in andere Sprachen übernommen oder es werden neue Begriffe erfunden, wenn die alten Bezeichnungen nicht mehr tragfähig sind. Dass wir z.B. von „Geflüchteten“ sprechen statt von „Flüchtlingen“, von „Leser_innen“ statt von Lesern usw. hat mit diesem Prozess zu tun und ist nicht trivial. Denn insbesondere die Art und Weise, wie wir über andere Menschen sprechen, weist diesen Menschen ihren Ort in unserer Gesellschaft zu, verleiht ihnen Handlungsmacht und entscheidet darüber, ob sie angehört und ernstgenommen werden. Wenn ich z.B. nur von „Lesern“ rede, dann bezeichne ich lediglich die männlichen Teilnehmenden dieser Gruppe und klammere Frauen und andere Geschlechter vollständig aus, so dass deren Teilhabe unsichtbar wird. Der Begriff „Flüchtlinge“ ist ein Beispiel für eine Ausgrenzung aus dem Kreis derer, die als Personen ernstgenommen werden, denn dieser Begriff ist eine Verniedlichungsform und klingt zudem seltsam dinghaft und gar nicht menschlich. Ganz besonders wir Anarchist_innen sind deshalb daran interessiert, unterschiedliche Menschen und Menschengruppen auf eine Art und Weise zu bezeichnen, die sie nicht hierarchisch unterordnet, klein macht, erniedrigt oder diffamiert.
Dabei bemühen wir uns, diese Menschen und Menschengruppen selbst zu Wort kommen zu lassen und die Bezeichnungen zu benutzen, die sie selbst wünschen.
Das Problem mit dem ‚Opfersein‘
Anhand der Beispiele sollte deutlich geworden sein, dass es vor allem darum geht, Bezeichnungen zu finden, die Menschen als handelnde Akteure sichtbar machen und nicht zu Objekten degradieren. Aber gerade wenn wir versuchen über Personen zu sprechen, die ein Gewaltverbrechen am eigenen Körper erlebt haben, ist das unheimlich schwierig. Denn einerseits muss es uns darum gehen, Worte zu finden, die die Tat aufs Schärfste und ohne Kompromisse verurteilen. Andererseits wollen wir in den Personen nicht nur Objekte sehen, an denen eine Tat verübt wurde, sondern es geht darum, deutlich zu machen, dass sie als Überlebende, Verarbeitende, Weiterlebende, Kämpfende etc. wahrgenommen werden. Das heißt, wir sind auf der Suche nach Begriffen, die die Schwere der Tat nicht relativieren, die aber auch die Opfer der Tat nicht auf ihren Objektstatus reduzieren. Einige möchten daher nicht als ‚Opfer‘ bezeichnet werden, da der Begriff zu einseitig die Unterlegenheit, das Objektsein betont. Zugleich jedoch ist es anderen wichtig, sich zunächst einmal überhaupt als Opfer einer (sexualisierten) Gewalttat zu erkennen, da sie häufig die Schuld zunächst bei sich selbst suchen oder denken, dass ihnen das, was sie erlebt haben, zurecht widerfahren ist. (Lest dazu bitte den Artikel „Still Alive“ in dieser Ausgabe!) Die Selbstbezeichnung als ‚Opfer‘ kann deshalb also auch bereits das Ergebnis eines Verarbeitungsprozesses (oder Bearbeitungsprozesses) meinen.
Von Opfern und Kämpfer_innen
Es ist also schwierig eine libertäre Sprache zu finden, mit der wir mit und über die Opfer insbesondere von sexualisierter Gewalt sprechen können und mit der wir ihren jeweiligen Selbstentwürfen in Bezug auf die Tat gerecht werden. Vielleicht gibt es dafür einfach nicht den einen guten Begriff. Aber wir haben als Libertäre die Aufgabe Begriffe zu prägen, die nicht nur Mitleid zum Ausdruck bringen, sondern auch unsere Solidarität. Denn eines muss klar sein: Überlebende sexualisierter Gewalt kämpfen jeden Tag mit ihrem Trauma und benötigen dabei das Verständnis und den Beistand nicht nur von Therapeut_innen und anderen ‚Opfern‘, sondern auch von Personen, denen glücklicherweise diese Erfahrung erspart blieb. Wir sollten also eine Sprache finden, die sowohl das ‚Opfer-Sein‘ als auch das Kämpfer_in-Sein einfängt. Mithu Sanyal hat sich auf die Suche gemacht und einen Vorschlag geliefert, der nun heftig kritisiert wird. Ob der Vorschlag ein guter ist, mag zunächst jede_r Leser_in selbst entscheiden und sich selbst dazu verhalten. Ich lade euch ein, mit Leser_innenbriefen, Kommentaren etc. an dieser Suche teilzunehmen. Die Graswurzelrevolution wird die Debatte weiterverfolgen und eure Stellungnahmen abdrucken.
Jedoch möchte ich noch eines abschließend sagen: Sprache ist ein machtvolles Instrument, das habe ich bereits betont. Sprache kann aber genau deshalb auch selbst zu einer Form von Gewalt werden. Die Art und Weise wie Mithu Sanyal gegenwärtig in den Sozialen Netzwerken und auch offline bedroht und verfolgt wird, ist widerlich und gewalttätig. Menschen eine Vergewaltigung zu wünschen ist übel, grausam, abstoßend und nicht zuletzt selbst eine Form sexualisierter Gewalt. Der offene Brief der „Störenfriedas“ ist selbstverständlich ein absolut legitimer Weg, eine Gegenposition zu einem öffentlich publizierten und distribuierten Artikel darzustellen. Der Brief übt zwar scharfe, aber eindeutig feministische Kritik an Mithu Sanyals Thesen, und es wäre unfair und falsch, ihn für die sexistischen und rassistischen Angriffe Dritter verantwortlich zu machen. Es ist jedoch erschreckend zu sehen, wie die erhöhte Aufmerksamkeit, die Sanyals Artikel dadurch erfahren hat, Sexist_innen, Rassist_innen, Nazis, etc. auf den Plan ruft, die im Netz eine widerliche Hetze verbreiten. Wir müssen uns eine Diskussionskultur erschaffen bzw. erhalten, in der es erlaubt ist, Vorschläge zu machen, diese Vorschläge zu kritisieren und abzulehnen. Auf keinen Fall sollten wir uns dazu herablassen, feministische Positionen gegeneinander auszuspielen. Gerade bei einem derart heiklen und emotionalen Thema ist es wichtig, sachlich und beim Thema zu bleiben, auch wenn man sich vielleicht aufregt oder wütend ist.
Kerstin Wilhelms-Zywocki
(1) Siehe Artikel auf Seite 8 ff. dieser GWR