Vorbemerkung: Ich schreibe sprachlich aus der Perspektive einer Frau, die Gewalt durch einen Mann erlebt hat. Ich bitte die Frauen und Männer, die ähnliches erlebt haben und /oder bei denen Frauen die Täterinnen waren, hierfür um Verständnis. Leider gelingt es mir noch nicht, eine durchgehend gendergerechte Perspektive unter Berücksichtigung aller von Gewalt-Betroffenen im Schreiben einzunehmen.
Ich habe über Jahre verbale, emotionale, indirekte, gegen Ende auch direkte und sexualisierte direkte Gewalt erlebt.
Ich erkannte lange nicht, dass ich in einer sogenannten „toxischen Beziehung“ war, der „Feind“ in meinem Bett lag. (1)
Schon früh auftretende psychosomatische Symptome (Tinnitus, Kopfschmerzen, Konzentrationsprobleme, rheumatische Schmerzen, Müdigkeitssyndrom, Panikattacken, Gewichtszunahme, u.v.m.) nahm ich als Beleg für MEINE Schwäche, mit der ich andere belaste. Meine Unfähigkeit, meine Schwäche, meine Abhängigkeit, mein Nicht-Richtig-Sein schien der Grund für das zu sein, was mir „passierte“.
Über Jahre systematisch ausgeübte Destabilisierung meines Selbstwertes, Verdrehung meiner Wahrnehmung, kleine und größere, private wie öffentliche Demütigungen, unterlassene Hilfeleistungen und Gewalt bis zur Vergewaltigung.
Nachdem ich „entsorgt“ wurde, ein neues Opfer war schon lange „klargemacht“, dauerte es ein Jahr und vier Monate, in denen ich in eine Depression bis hin zur Suizidalität abrutschte, bis einer aufmerksamen Psychologin aufgrund eines Nebensatzes von mir auffiel, dass nicht „etwas in mir“ das Problem war, sondern dass ich ein gewaltiges Problem hatte. „Hören Sie eigentlich, was Sie da sagen?“
Ich hörte mir zu. Ich hatte gerade wie nebenbei von einer Vergewaltigung gesprochen – und erinnerte mich, dass ich den Täter am nächsten Morgen noch dafür getröstet hatte, als er so „merkwürdig“ schaute, was ich als „Betroffenheit“ interpretierte.
Posttraumatische Belastungsstörung (2) mit Täterintrojektion (3), auch bekannt unter dem Namen „Stockholm-Syndrom“, war die später erfolgende Diagnose. (4)
Ich musste erkennen, ich war über Jahre Opfer gewesen. Opfer eines intelligenten, subtilen, vorwiegend passiv-aggressiv und später mir gegenüber zunehmend offen aggressiv agierenden Mannes. Nicht nur meine angedachte Zukunft war zerbrochen, auch das, was ich bis dahin über meine Vergangenheit, über mich dachte und über das, was ich als „selbstverständlich“ geglaubt hatte.
Akribische Kleinarbeit war nötig, um die Geschehnisse zu sortieren. Die objektiven äußeren Folgen waren für alle sichtbar. Die innere Zerstörung kam erst nach und nach ans Licht. Nachfragen bei Freunden, das Durchforsten alter Kalender, Sichtung alter Fotos, ein weiteres Jahr lösten Erinnerungen immer wieder neue Schocks aus, bis sich das Gesamtbild der „Beziehungs-„Vergangenheit und meiner aktuellen seelischen Lage abzeichnete.
In dieser Zeit hatte ich ein diffuses Gemisch aus Opfer- UND Schuldgefühlen, Selbstverachtung und Selbstverurteilung und vor allem Angst.
Ich hatte Schreckliches erlebt und hatte es in der Zeit des Erlebens ausgeblendet, um zu überleben.
Opfer
Die Folgen des jahrelangen psychischen und physischen Missbrauchs waren nicht mit der Erkenntnis verschwunden. Sie waren jeden Tag sichtbar und spürbar. Jede jetzt auftauchende Erinnerung warf mich erneut in die Hilflosigkeit und Ohnmacht der damaligen Situation zurück. Dies zeigte sich auch im Alltag. Kleinste Ähnlichkeiten mit früheren Situationen, ähnliches Aussehen, ein Geruch, Geräusche, eine Bemerkung im Verhalten Dritter holten alle damaligen, verdrängten Gefühle hervor.
Auslöser waren Sprüche, auch „Du bist doch so stark“ , „Schau doch nach vorn“, „Man muss auch mal abschließen“, „So schlimm kann es doch nicht gewesen sein“, „Es sind immer zwei beteiligt“ oder „Wieso hast du nicht….“ und wenn mir nicht geglaubt, wenn relativiert oder banalisiert wurde.
Sprüche warfen mich in die Hilflosigkeit und Selbstverachtung zurück. Wieso hatte ich, die sich doch mit Gewalt „auskennt“, damals nicht gesehen, was geschieht, dementsprechend gehandelt? Wieso glaubt man mir nicht?
Es war der Austausch mit anderen, die ebenfalls Opfer einer solchen Gewalt gewesen waren, die eindeutig sagten „Du bist Opfer, wir sind Opfer, und das muss auch genau so benannt werden“.
Meine zerstörte Identität fand den Anker in der Opfer-Identität.
Ich brauchte Verständnis von Menschen, die dies aus der Opferperspektive kennen, meinen Gefühlen und Gedanken bis in den jetzt aufkommenden Hass folgen und verstehen konnten.
Hass
Ich entdeckte meinen Hass. Der Hass auf diesen Täter. Der Hass auf alle Täter. Dieser Hass schien zu helfen, hochkommende, unerträgliche Opfer-Gefühle, die immer wieder gefühlte Ohnmacht und Hilflosigkeit, weg zu drängen. Die mich doch an anderer Stelle einholten.
Jeder, der jenseits dieses Hasses über Täter und Opfer sprach oder schrieb, war für mich ein Täter-Unterstützer. In dieser Zeit habe ich einigen Menschen gewünscht, ähnliches zu erleben, damit sie wissen, wovon sie eigentlich reden. Der Versuch, mich innerlich weniger ohnmächtig und hilflos zu fühlen, indem ich in meiner Phantasie potenzielle Täter „für mich arbeiten“ ließ, damit sowohl die Täter als auch die in meiner Wahrnehmung „Banalisierenden“ mein Opfer-Gefühl endlich verstehen und anerkennen.
Es war der Versuch, zu vermeiden, mich als Opfer zu fühlen, weil dies unerträglich schien.
Ich brauchte die Anerkennung meines „Status“ als Opfer, um die in mir angelegte Selbstverachtung zu überwinden und zu lernen, mich freundlich auch darin zu betrachten, statt mich selbst weiter für meine damalige Hilflosigkeit und Ohnmacht zu verurteilen.
Überlebende
Als ich begann, mich zunehmend in meinem Opfer-Gewesen-Sein und noch oft Opfer-Sein annehmen zu können, mir meine frühere und auch jetzige immer wieder auftauchende Hilflosigkeit und Ohnmacht verzeihen konnte, mich dafür nicht mehr verurteilte, sondern echtes Verständnis für mich entwickelte, begann der Prozess der inneren Verarbeitung.
Die Fragen, die sich mir stellten, waren, wieso konnte ich damals „die Zeichen“ nicht erkennen, mich nicht wehren? Was ist es aus meiner Historie von Kind an, das es mir auch so schwer macht, dieses Erleben zu verarbeiten? Wie „ticken“ die verschiedenen Täter-Typen, welche „Techniken“ verwenden sie, woran lassen sie sich erkennen? Wie lassen sie sich stoppen? Erst zu dieser Zeit war ich in der Lage, Arbeiten zur „Thematik“ aus anderer Perspektive zu lesen, dort für mich vielleicht Hilfreiches zu suchen, zu finden oder als nicht hilfreich zu verwerfen.
Zurück ins Leben
Meine Welt lag in Trümmern und in diesen Trümmern musste ich mich suchen, neu finden und parallel in kleinsten Schritten mich und ein neues Leben aufbauen. An je mehr Stellen mir dies gelang, desto weniger schmerzhaft wurden Unsensibilitäten, Unverständnis und Unglaube von Menschen, die dies zu ihrem Glück nicht kennen. Eine Zeit harter Arbeit in kleinsten Schritten.
Lernen, leben zu wollen. Lernen wieder zu essen. Lernen, unter Menschen. Lernen, mit Menschen „Belangloses“ zu reden. Alles, was für Menschen, die eine solche Gewalt nicht erlebt haben, die „kleinen Normalitäten“ des Alltags sind, musste hart erkämpft werden, war etwas Besonderes.
Besonderheiten, die sich mit der Zeit aufaddierten, zu Sicherheiten wurden, die mir wohl nie mehr selbstverständlich oder „normal“ erscheinen werden. Rückschläge ins Opfer-Gefühl sind jedoch inbegriffen. Noch heute, zweieinhalb Jahre nach meinem „Aufwachen“ bin ich weit davon entfernt, ein normales Leben führen zu können.
Opfer, Überlebende, Erlebende?
Jeder dieser Begriffe hat seine eigene Berechtigung, Je nachdem, in/zu welcher Situation bzw. an welchem Punkt der Verarbeitung ein Mensch ist, der Gewalt erlebt bzw. erlebt hat, der Opfer von solchen Tätern ist oder es war, dies überlebt hat.
In Gesprächen mit vielen Frauen erkannte ich, gleich, ob ein Mensch dies jahrelang erlebte oder ob es sich um ein einmaliges Erleben handelte, es zerstört den Glauben an alles, was bis dahin das eigene Ich und die eigene Welt ausmachte.
Ohnmächtig und hilflos einem Geschehen ausgesetzt, in dem an einem bestimmten Punkt keinerlei eigenes Handlungsvermögen existiert, mit allen Folgen für die Psyche.
Dieses, durch die Täter auferlegte und erzwungene Erleben lässt noch lange immer wieder Opfer werden. Vor allem Opfer der Gefühle aus diesem früheren Erleben, die ein aktuell stattfindendes Erleben „überschwemmen“. Dies kann auch geschehen, wenn ein anderer oder neuer Begriff nicht zum eigenen aktuellen inneren Erleben im Verarbeitungsprozess passt.
Heute kann ich den Begriff „Erlebende“ für mich annehmen. Anderes ist noch nicht ganz verarbeitet, dort sehe ich mich als Überlebende und bei anderem ist noch die Ohnmacht und Hilflosigkeit, bin ich innerlich vor allem noch Opfer der psychischen, gesundheitlichen und materiellen Folgen von dem, was mir dieser Täter damals angetan hatte.
Die vehemente öffentliche Diskussion um die „richtige“ Bezeichnung bewirkte in mir als erstes die altbekannte Hilflosigkeit. In den Angriffen auf Mithu Sanyal erkannte ich meinen damaligen Hass auf alle, die Täter, und die, von denen ich mich nicht verstanden sah.
Aber auch in der folgenden Diskussion und der von den Vertreterinnen der Begriffe „Opfer“ und „Überlebende“ indirekt implizierte Forderung, mich entscheiden zu müssen, welcher der Begriffe „richtig“ ist, bedeutete für mich, einen Teil von mir negieren zu müssen, um noch dort „anerkannt“ zu sein.
Um nicht wieder zuzulassen, mich als Opfer zu fühlen, sagte ich, niemand hat das Recht, mich auf eine der Begrifflichkeiten fest zu schreiben oder mir einen anderen Begriff vorzugeben. Dennoch können das Nachdenken und die Diskussion über neue Begriffe hilfreich sein, zu meiner Zeit nach meinem Willen.
Fazit
Es ist ein „schmutziger Krieg“, den solche Täter jeden Tag an vielen Orten auf vielerlei Art führen. Ihr Ziel ist das Zerbrechen der psychischen und körperlichen Integrität, des Lebens und des Ichs anderer Menschen, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln.
Die „Kriegsfolgen“ sind für die davon Betroffenen viele Jahre spürbar, die Aufräumarbeiten sind mühsam. Die dabei immer wieder erlebten Schwächemomente lassen dies manchmal unmöglich erscheinen. Es dauert lange, bis nach dem reinen Überlebenskampf wieder ein wenig normales Leben in diesen inneren und äußeren Trümmern entstehen kann. Der Streit, welche Begriffe „die richtigen“ sind, spielt nur solchen Tätern in die Hände.
Solidarisch vereint vorgehen gegen solche Täter und gegen gesellschaftliche Gewalt-Strukturen, die diesen Tätern ihre Taten erleichtern und ermöglichen, die dort sogar teilweise als „Leistung“ anerkannt werden, das ist es, was ich mir stattdessen wünsche.
Als Betroffene, Opfer, Erlebende, Überlebende, oder wie ich dies alles für mich zusammenfasse, als „Still Alive“.
Still Alive
(1) Siehe auch https://www.re-empowerment.de/haeusliche-gewalt/gewaltformen/psychische-gewalt-ii-typische-verhaltensmuster/
(2) Zum Begriff Posttraumatische Belastungsstörung: https://de.wikipedia.org/wiki/Posttraumatische_Belastungsst%C3%B6rung
(3) Zum Begriff Täterintrojektion:http://lexikon.stangl.eu/10883/taeterintrojekte/
(4) siehe auch: http://lexikon.stangl.eu/648/traumatisierung und http://em-life-forum.de/seiten/frauenwelten/beispiele_emotionaler_gewalt.html