Kommentar
Der 16. April 2017 wird für die Menschen in der Türkei zum Schicksalstag. An diesem Ostersonntag werden die Weichen für die weiteren Entwicklungen der türkischen Gesellschaft gestellt. Werden die 58 Millionen wahlberechtigten, türkischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, darunter 1,4 Millionen Menschen mit türkischem Pass in Deutschland, an diesem Tag mehrheitlich Evet (Ja) oder Hayir (Nein) zu dem vom AKP-Regime geplanten „Präsidialsystem“ sagen?
Bei einem Evet wäre der türkische Zug Richtung Demokratisierung wohl endgültig entgleist; Erdogan würde de facto zu einer Art „Sultan“, womöglich als Präsident auf Lebenszeit. Anders als die Präsidialsysteme in den USA und Frankreich, kennt das von der AKP geplante „Präsidialsystem“ keine demokratische Gewaltenteilung oder parlamentarische Kontrolle. Der türkische Präsident bekäme in diesem autokratischen System auch die Macht u.a. über Gerichte, Polizei, Militär und Parlament. Die Folgen wären katastrophal:
Der seit zwei Jahren wieder brutal entfachte Krieg der zweitgrößten NATO-Armee gegen die kurdischen Arbeiterpartei PKK und die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei würde weiter intensiviert, die Menschenrechte würden in dieser Autokratie weiter mit Füßen getreten und die Todesstrafe wieder eingeführt. Die Zahl der (momentan 153) inhaftierten Journalistinnen und Journalisten würde womöglich weiter steigen. Die Türkei würde gesellschaftlich einen großen Rückschritt in Richtung Barbarei machen.
Wie konnte es überhaupt soweit kommen?
Viele Menschen fragen sich, warum so viele Türkinnen und Türken die AKP (Adalet ve Kalkinma Partisi, deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) unterstützen. Um das zu verstehen, lohnt ein Blick zurück. Die mehrmals von Militärputschen heimgesuchte Türkei war immer ein autoritär strukturierter Staat und nie eine stabile Demokratie. Der Kemalismus räumte zwar auch den Frauen Rechte ein und machte die Türkei zu einem laizistischen, westlich orientierten Land. Gleichzeitig wurden der Islam, sowie Minderheiten wie die Aleviten und Kurden massiv unterdrückt. Der brutale Krieg der türkischen Armee gegen die Kurdinnen und Kurden forderte noch in den 1980er und 1990er Jahren über 40.000 Tote und entvölkerte ganze Regionen in den kurdischen Gebieten der Türkei.
Warum hat sich die AKP etabliert?
Das Erstarken des Islam ist nicht der einzige Grund für den Aufstieg der konservativ-islamischen AKP. Es gibt auch rationale Gründe dafür, dass die neoliberal beeinflusste AKP sich seit 2002 über viele Jahre als zunächst alleinregierende Partei etablieren konnte. Ökonomisch erlebte die Türkei ab 2002 einen bis dahin nicht für möglich gehaltenen Boom und einen erstaunlichen Modernisierungsschub. In der Reformphase 2002 bis 2007 gab es unter der AKP tatsächlich auch erhebliche Fortschritte im Sinne der Menschenrechte. In dieser Phase wurde die Todesstrafe abgeschafft, die seit Jahrzehnten in der Türkei übliche Folter zumindest verbal abgelehnt und die kurdische Sprache legalisiert. Es wurden zweisprachige türkisch-kurdische Straßenschilder in den kurdischen Gebieten angebracht, einige kurdische Medien und Schulen wurden offiziell legalisiert. Vieles deutete darauf hin, dass die lange Zeit angestrebte Aufnahme der Türkei in die EU nur noch eine Frage der Zeit ist. Bis 2015 bemühte sich die AKP zeitweise sogar um einen Friedensprozess mit der bis heute verbotenen PKK. Diese Politik führte dazu, dass auch viele der 17 Millionen Kurdinnen und Kurden in der Türkei die AKP wählten.
Soziale Bewegungen
In der Türkei gibt es seit Jahrzehnten eine lebendige außerparlamentarische, linke Oppositionsbewegung. Neue Soziale Bewegungen, vor allem die sehr große feministische Bewegung, aber auch die Umweltbewegung, die Gewerkschaften, die LGBTQ-Bewegung, die kleine anarchistische Szene und die Kriegsdienstverweigerer, die nach wie vor kriminalisiert werden, sind in der Türkei vital. Viele der verschiedenen Neuen Sozialen Bewegungen kamen 2013 zusammen und unterstützten die Menschen, die sich im linken Istanbuler Szeneviertel Taksim gegen die von der AKP geplante Zerstörung des kleinen Gezi-Parks stemmten.
Erdogan wollte auf Teufel komm raus den geplanten Konsumtempel auf dem Gelände des Gezi-Parks durchsetzen und ließ die Polizei 2013 mit großer Brutalität gegen die friedlichen DemonstrantInnen vorgehen.
Das war ein Wendepunkt. Nachdem AKP-kritische Militärs vom Erdogan-Regime mit Hilfe fragwürdiger Prozesse aus dem Verkehr gezogen wurden, konzentrierte sich die Macht zunehmend auf den AKP-Führer, der immer autokratischer und machtverliebter agiert und in seinen Hetzreden hemmungsloser wird. Erdogan versteht sich als Reis (Führer), und als solcher wird er auch in einem neuen türkischen Propaganda-Spielfilm bezeichnet. Seit dem Verlust der absoluten AKP-Mehrheit befürchtet er nichts mehr als seine Entmachtung. Ohne seine bisher kaum angreifbare Machtposition könnte er vor Gericht und hinter Gittern landen, aufgrund seiner Kriegsverbrechen, der durch Leaks bekannt gewordenen Korruptionsfälle und Geschäfte seines Familienclans mit den IS-Terroristen.
Um die türkischen „Patrioten“ und die Grauen Wölfe der faschistischen MHP hinter sich zu versammeln, hat Erdogan den türkisch-kurdischen „Friedensprozess“ 2015 aufgekündigt. Seitdem führt sein Militär wieder einen offenen Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden. Cizre und andere Orte in den kurdischen Gebieten der Türkei wurden seitdem – von der Öffentlichkeit im Westen weitgehend unbemerkt – zu großen Teilen zerstört. Teile der kurdischen Bevölkerung wurden massakriert, viele enteignet und vertrieben.
Wie wahrscheinlich ist ein „Evet“?
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Mehrheit am 16. April für die Präsidialdiktatur findet, ist groß, weil die Medien in der Türkei heute weitgehend gleichgeschaltet sind und seit Monaten auf allen Kanälen der AKP-dominierten Massenmedien für die de facto Wiedereinführung eines Sultanats, nach dem Vorbild des von Erdogan verklärten Osmanischen Reiches, getrommelt wird.
Dennoch ist diese reaktionäre Mehrheit längst nicht sicher. Eine Umfrage des Gezici-Instituts sagte Mitte März 2017 rund 51,1% Nein-Stimmen voraus, bei hoher Wahlbeteiligung sogar 53,9%.
Würde das „Präsidialsystem“ durchgesetzt, gäbe es auf lange Zeit keinerlei Gewaltenteilung in der Türkei mehr, Erdogan würde mit einer Machtfülle ausgestattet, wie sie sonst nur bei Dritte-Welt-Diktatoren anzutreffen ist. Der einstige EU-Anwärter Türkei würde sich in eine Autokratie im Stile Aserbaidschans verwandeln.
Hayir
Würde es am 16. April keine Wahlmanipulationen geben und sich eine Mehrheit der Wählerinnen und Wähler für ein Nein zum Präsidialsystem aussprechen, würde das die AKP schwächen, aber nicht das Ende ihrer Vorherrschaft bedeuten. Erdogan hat für den Fall einer Hayir-Mehrheit einen Bürgerkrieg angekündigt, Anhängerinnen und Anhänger der AKP werden seit Monaten vom Regime bewaffnet.
Die Aussichten sind also düster, so oder so.
Was können wir tun?
Wer will, dass die Türkei sich zu einem freiheitlichen Land entwickelt, in dem die Würde des Menschen geachtet wird, der sollte die MenschenrechtsaktivistInnen, kritisch-investigativen JournalistInnen, Kriegsdienstverweigerer und sozialen Bewegungen unterstützen. Zur Zeit der Nazidiktatur sind hunderte deutsche Juden und Oppositionelle in die Türkei geflohen. Nun sollten wir die vielen Oppositionellen, die, wie der Cumhuriyet-Redakteur Can Dündar, aus der Türkei fliehen müssen, aufnehmen.
Die #FreeDeniz- und Hayir-Demonstrationen, die es in den letzten Wochen gegeben hat, sind erfreulich (1). Weiter so!
Wir sollten außerdem den Druck auch auf die EU und die Bundesregierung verstärken, damit die Waffenexporte und die Milliarden-Euro-Unterstützungen aus EU-Töpfen für das AKP-Regime gestoppt werden. Nein zur Diktatur! Die internationale Solidarität erkämpft das Menschenrecht!
Bernd Drücke
(1) Siehe dazu die Artikel auf Seite 5 f. in dieser GWR.