Über 100.000 Menschen wurden seit dem Putschversuch im Sommer 2016 in der Türkei aus dem Staatsdienst entlassen, über 40.000 RegimekritikerInnen inhaftiert, darunter 153 JournalistInnen. Die weitgehend gleichgeschalteten türkischen Medien trommelten für das "Präsidialsystem", das Erdoğan de facto zum Autokraten macht. Angesichts der extremen Einschränkungen des Nein-Lagers und den Bedingungen des Ausnahmezustandes kann weder von freien noch von fairen Wahlen gesprochen werden. Die Opposition erkennt das manipulierte Wahlergebnis nicht an. Den Verhaftungen, Einschüchterungen, der Pressehetze und der Diffamierung der KritikerInnen als "Terroristen" zum Trotz stimmten nach offiziellen Angaben vom 16. April 2017 rund 48,64 Prozent der Wähler*innen gegen die Präsidialdiktatur. Eine, die ebenfalls Hayir (nein) gesagt hat, ist die Feministin Naciye Ertaş. Mit ihr sprach vor der Abstimmung für die Graswurzelrevolution Nihan Acar. (GWR-Red.)
Nihan Acar: Hallo Naciye, erzählst du uns bitte ein wenig über dich? Was ist dein Beruf? In welcher Institution hast du gearbeitet?
Naciye Ertaş: Mein Name ist Naciye Ertaş. Ich hab 22 Jahre lang im öffentlichen Dienst gearbeitet. 1994 habe ich mit 18 Jahren meinen Abschluss an der Health Care High School gemacht und angefangen als Hebamme zu arbeiten. Ich habe mich im Bereich Pflege weiterqualifiziert und an der Health Care High School noch einen weiteren Studiengang belegt. In der Zwischenzeit arbeitete ich weiterhin als Hebamme im öffentlichen Dienst. Die Pflegeberufe bieten sich ja für Nachtschichten an, daher konnte ich nachts arbeiten und tagsüber zur Schule gehen. Seit meinem fünfzehnten Lebensjahr verstehe ich mich als Atheistin. Ich habe keine Beziehungen irgendwelcher Art zu religiösen Institutionen oder zur Religion. Ich bin Mitglied der Gewerkschaft SES (Gewerkschaft für Gesundheit und Soziales), welche wiederum dem Gewerkschaftsbund KESK (Konföderation der Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes) angehört. Seit zehn Jahren verstehe ich mich als Feministin. Ich kämpfe für ein Ende der Gewalt gegen Frauen, ich nehme an von Frauen organisierten Demonstrationen teil, und ich wehre mich gegen die Männlichkeitsdiskurse der Regierung. In diesem Bereich versuche ich etwas zu bewegen. Ich habe meine politischen Ansichten auch am Arbeitsplatz offen ausgedrückt und wurde deshalb auf der Arbeit gemobbt. Infolge dessen musste ich mich auf eine andere Stelle versetzen lassen. Formal war der Versetzungsantrag meine eigene Entscheidung, aber in Wirklichkeit hatte ich keine andere Wahl und war gezwungen, um meine Versetzung zu bitten. Ich bewarb mich um eine Anstellung in einer anderen Institution, in der ich keine Nachtschichten arbeiten musste und die Arbeit leichter war. Auf dieser neuen Arbeitsstelle lief es zunächst recht gut. Aber dann kam der Putschversuch vom 15. Juli 2016. Das war ein großer Schock für uns alle. In der Folge begannen alle, einander zu etikettieren. Es begann eine Zeit, in der jeder den anderen beargwöhnte: Wer unterstützt wohl Fethullah Gülen, wer ist konservativ, wer ist religiös und so weiter. Alle überlegten sich zweimal, was sie schrieben oder sagten. In dieser Entwicklung sah ich den Versuch der AKP, alle Oppositionellen zu Terroristen zu machen. Ich habe meine Kritik an dieser Strategie mehrfach zum Ausdruck gebracht. Wie ich bereits gesagt habe, war in den Augen der AKP jeder, der ihr widersprach, ein Anhänger von Fethullah Gülens „Terrorganisation“ (FETÖ). Nun steht das Referendum bevor und es wird erklärt, dass alle, die mit „Nein“ abstimmen werden, auch Terroristen sind. Die Regierung äußert bereits massive Drohungen wie: „Wenn beim Referendum das Nein gewinnt, kommt es zum Bürgerkrieg.“
Nihan Acar: Glaubst du, deine Entlassung steht in Zusammenhang mit deinem Engagement in der feministischen Bewegung der Türkei? Hast du dich in Folge dessen je unwohl gefühlt an deiner Arbeitsstelle?
Naciye Ertaş: Ich hatte nie irgendeine Beziehung zu einer Organisation in der Türkei, die als terroristische Vereinigung bezeichnet wird. Ich bin weiterhin Teil des Kampfes in der feministischen Bewegung. In der feministischen Bewegung in der Türkei kämpfen wir, indem wir gegen männliche Gewalt kämpfen, auch gegen die staatliche Gewalt, welche von dieser männlichen Gewalt nicht unabhängig ist. Weil der türkische Staat dieses männliche System ständig maskiert und die Gewalt gegen Frauen jeden Tag zunimmt. Nach dem 15. Juli nahm die Zahl der Fälle von Belästigung und Vergewaltigung in diesem Land zu. Ebenso wie die Morde an Frauen nahmen auch die Morde an Transsexuellen zu. Auch der Druck auf Homosexuelle und die Gewalt gegen sie stiegen an. Natürlich ist dies nicht unabhängig von der Machtrhetorik der Regierung und der AKP. Als eine Person, die Teil der feministischen Bewegung in der Türkei ist, gehöre ich zu denen, die ihre Kritik an dieser Situation ausdrücken. Wenn du sagst, dass du eine Feministin bist, bist du auf der Arbeit eine Art Alien. Weil du ständig Männer und Frauen aufhältst, die diese maskuline Sprache verwenden, und versuchst, Solidarität mit den Frauen aufzubauen, was eine weithin unbekannte Angelegenheit ist. Das ist nicht so leicht möglich und nicht einfach in den Institutionen des Gesundheitsministeriums. Nach einer Weile beginnst du einsam zu werden.
Dem Willen der Menschen wurde während und nach der Wahl vom 7. Juni 2015 keine Beachtung geschenkt. Danach wurde der „Friedensprozess“ beendet und unschuldige Menschen wurden getötet. Die herrschende Macht (AKP) schuf eine Welt der Furcht, wiederholte die Wahlen und gewann sie dann am 1. November 2015 ein weiteres Mal. Nach dem Putschversuch flammte die Furcht dramatisch auf. Die AKP-Regierung hat ein System von Informationsnetzen geschaffen, durch die sich Menschen gegenseitig denunzieren können. In diesem System begannen die Menschen sich gegenseitig zu denunzieren – entweder aus Angst, oder um ihre Position zu festigen. Vielleicht bin ich durch eine Person oder eine Gruppe von Personen denunziert worden, denen meine feministischen Diskurse missfielen. Aber um Gewissheit zu bekommen, warum ich gefeuert wurde, muss der Notstand erst einmal beendet werden, und dann können wir zu einem Punkt kommen, an dem wir juristisch gegen illegitime Handlungen vorgehen können. Dann muss ich dem Staat entgegentreten und fragen: „Warum habt ihr mir meinen Job genommen?“ Aber im Moment wird der Notstand beständig ausgeweitet, und wir müssen mit massiven Veränderungen rechnen. Wir wissen, dass sie immer weiter reichende Pläne haben. Neue Dekrete (KHK) werden verkündet, Parlamentsmitglieder und JournalistInnen werden verhaftet, Vereine, Fernseh- und Radiosender werden geschlossen. Dadurch wird ein neues Arbeitslosenheer geschaffen. In diesem Umfeld habe ich keine Möglichkeit, meine Angelegenheit klären zu lassen. Kein Gericht nimmt meinen Fall an.
Nihan Acar: Hattest du, wenn du von Entlassungen anderer hörtest, wie du sie eben beschrieben hast, jemals den Gedanken, dass dir das Gleiche passieren könnte?
Naciye Ertaş: Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mir so etwas passieren würde. Andererseits leben wir in Zeiten, in denen jeder Angst haben muss, seinen Job zu verlieren oder ins Visier von Ermittlungen zu geraten. Selbst die AnhängerInnen der AKP haben Angst. Von daher hatte ich genauso Angst wie jedeR andere. Aber zugleich dachte ich, es gibt so viele andere, die eher ihre Stelle verlieren werden als ich. Nun ja, man macht interessante Erfahrungen. So habe ich mehrfach mitbekommen, dass Leute mit engen Verbindungen zur FETÖ trotz allem weiterarbeiten; dass es Fälle gibt, wo FETÖ-UnterstützerInnen zunächst ihre Arbeit verloren, dann aber aufgrund eines neuen Dekrets wieder an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt oder sogar befördert worden sind. Interessant, oder? Und Leute wie ich fliegen raus, weil sie angeblich Verbindungen zur FETÖ haben.
Übrigens gibt es zahlreiche Bilder, die den türkischen Präsidenten Erdoğan zusammen mit Fethullah Gülen zeigen. Es gab ja mal eine Zeit, wo Erdoğan öffentlich zur Unterstützung Gülens aufgerufen hat. Wird der Präsident dafür jetzt zur Rechenschaft gezogen? Als Bürgerin der Türkei wünsche ich mir ein System, in dem dieser Sachverhalt juristisch geklärt wird.
Ich habe mich mein Leben lang nie mit Fethullah Gülen beschäftigt. Mein Wissen über ihn beschränkt sich auf Bilder aus den Medien. Ich kenne keine einzige seiner Reden. Aber der Präsident kennt ihn sehr gut. Sie waren eine Zeit lang enge Freunde. Und das gilt nicht nur für den Präsidenten, sondern für fast alle Mitglieder der AKP-Fraktion im Parlament. Wenn sie jetzt nach Gülen-UnterstützerInnen fahnden, kann ich ihnen einfach eine Liste ihrer Minister und Parlamentsmitglieder geben.
Nihan Acar: Wie hast du von deiner Entlassung erfahren?
Naciye Ertaş: Es war an einem Samstagabend im Oktober, ich war mit FreundInnen einen trinken. Unterwegs hörten wir, dass ein neues KHK herausgekommen sei und viele Beamte und Regierungsangestellte entlassen worden seien. Wir haben darüber spekuliert, wen es dieses Mal treffen würde. Es gab einen regelrechten Ansturm auf die Website des Amtsblatts, so dass sie vorübergehend nicht erreichbar war. Ich dachte gar nicht daran, dass ich betroffen sein könnte. Als ich heimkam, fand ich auf meinem Handy zahlreiche Nachrichten von FreundInnen und auch eine vom Gewerkschaftspräsidenten. Normalerweise bekomme ich so spät in der Nacht keine persönlichen Nachrichten, nicht von meinen FreundInnen und schon gar nicht vom Gewerkschaftspräsidenten! Aber ich habe noch immer nicht begriffen, was Sache war. Ich habe also erst mal auf die Nachricht einer guten Freundin geantwortet und wir haben gechattet. Bald wurde meiner Freundin klar, dass ich die Liste noch nicht kannte, und sie hörte auf zu texten und rief mich an, um mir zu sagen, dass mein Name auf der Liste derer stand, die durch das neue Dekret ihre Stelle verloren hatten. Im ersten Moment stand ich unter Schock. Mein Herz raste. Ich konnte es gar nicht fassen. Dann rief ich den Gewerkschaftspräsidenten an.
Ich fühlte mich stigmatisiert, das war ein übles Gefühl, das mich noch wochenlang begleitete. Ich hatte immer den Eindruck, mich anderen gegenüber erklären zu müssen. Ich hatte aber keine Antwort auf Fragen wie „Was wirst du jetzt tun?“ Denn wenn man mit so einem Ereignis nicht rechnet, hat man ja auch keinen Plan B. Deshalb antwortete ich mit Sprüchen wie: „Wir werden es erleben, wir werden sehen.“
Nihan Acar: Du wirst aus einer Institution geworfen, für die du 20 Jahre gearbeitet hast. Welche Folgen hat das für dich?
Naciye Ertaş: Diejenigen unter den Gekündigten, die zuvor die entsprechenden Prämien einbezahlt haben, haben Pensionsansprüche. Aber natürlich müssen sie warten, bis sie das Rentenalter erreicht haben. Ich habe meine Prämien bereits komplett einbezahlt, muss aber warten, bis ich 52 bin. Jetzt bin ich 40 Jahre alt. Ich habe 22 Jahre im öffentlichen Dienst gearbeitet. Und ich muss noch zwölf Jahre warten, bis ich in den Ruhestand gehen kann. Aber wie kann ich wissen, was in den nächsten zwölf Jahren geschehen wird? Ob ich in zwölf Jahren noch dieses Anrecht habe? Und wichtiger noch: Wie die Türkei in drei oder fünf Jahren aussehen wird? Es ist gut möglich, dass eine, die wie ich gefeuert worden ist, überhaupt keine Pensionszahlungen bekommt, auch wenn sie alle formalen Kriterien erfüllt.
Sobald du zu arbeiten beginnst, beginnt der Staat, von deinem Gehalt einen bestimmten Betrag einzubehalten, um für die Zeit deines Ruhestands Geld anzusammeln. Nun aber bekommen diejenigen, die ihre Stelle verloren haben, ihr Geld nicht, auch wenn sie bereits im Ruhestandsalter sind. Dabei ist doch die Pension nicht etwas, was die AKP-Regierung uns gewährt und jetzt einfach vorenthalten kann! Die BeamtInnenschaft und den öffentlichen Dienst gibt es seit fast hundert Jahren, also sehr viel länger als die AKP. Die Beschäftigten arbeiten für den Staat, und alles, was ihnen zusteht, verdienen sie durch ihre eigene Arbeit, nicht durch die Gnade der Regierung.
Wenn du längere Zeit im öffentlichen Dienst gearbeitet hast, bekommst du einen besonderen Pass, den so genannten Grünen Pass. Auch diese Grünen Pässe werden uns unrechtmäßig weggenommen, genau wie unsere Pensionsansprüche. Ich hatte auch einen solchen Pass, er ist für ungültig erklärt worden.
Wer durch ein KHK seine Stelle verloren hat, wird es nicht leicht haben, einen Job in der Privatwirtschaft zu finden. Kein privatwirtschaftliches Unternehmen wird es sich mit der Regierung verderben wollen, indem es mich einstellt. Ich fühle mich wie eine Geflüchtete im eigenen Land. Ich ertappe mich dabei, wie ich den Leuten um mich herum erkläre, dass ich keine Gülen-Anhängerin bin. Es ist schrecklich, dass ich in diese Verteidigungshaltung verfalle, das sollte ich nicht tun. Schuld ist die faschistische Haltung der AKP-Regierung!
Nihan Acar: Hast du nach deiner Entlassung Unterstützung erfahren? Gibt es Solidarität aus der feministischen Bewegung, innerhalb oder außerhalb deiner Gewerkschaft?
Naciye Ertaş: Ja, ich erlebe verlässliche Solidarität in der feministischen Bewegung. Die Freundinnen sind im Zuge der jüngsten Entwicklungen enger zusammengerückt und wollen den Weg in die Zukunft gemeinsam gehen. Zuerst verfiel ich in Panik: Ich muss mir einen Job suchen! Dabei war ich gar nicht in der Verfassung, mich intensiv aufs Arbeiten zu konzentrieren.
Freundinnen und Freunde aus der LGBTI-Bewegung und Freundinnen aus der feministischen Bewegung haben jedoch ein Netzwerk der Solidarität aufgebaut. Sie haben mich finanziell unterstützt. Auch meine Gewerkschaft hat mich finanziell unterstützt. Dank dieser Solidarität konnte ich mich erst mal erholen. Die Solidarität hat mich psychisch stärker gemacht.
Mit dem KHK, durch das ich meine Arbeit verloren habe, sind insgesamt 431 Mitglieder unserer Gewerkschaft entlassen worden; beim vorigen Dekret waren es nur neun gewesen. Zunächst mussten mit dem Geld aus den Mitgliedsbeiträgen also neun entlassene Gewerkschaftsmitglieder unterstützt werden, und plötzlich stieg die Zahl auf 440. Als Antwort darauf haben viele Gewerkschaften begonnen, Solidaritätsveranstaltungen zu organisieren. Zum Beispiel gab es Theateraufführungen, deren Erlös an die Gewerkschaften gespendet wurde. Auch Filmabende und Konzerte wurden zu diesem Zweck organisiert.
Nihan Acar: Was geschah nach deinem Rauswurf? Was hast du gemacht? In welchen Kämpfen bist du jetzt aktiv? Soweit ich weiß, haben die entlassenen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vor kurzem einen Marsch nach Ankara unternommen. Wie lief das? Gab es Behinderungen, hat der Staat versucht, den Marsch zu stoppen?
Naciye Ertaş: Die Gewerkschaft für Gesundheit und Soziales, der ich angehöre, hat unmittelbar auf den Erlass reagiert und eine Versammlung in Ankara einberufen. Es wurde beschlossen, eine Presseerklärung vor dem Ministerium abzugeben. Aber die Polizei ließ uns nicht mal aus unserer Gewerkschaftszentrale in Ankara raus. Die Polizei stand mit Wasserwerfern direkt vor unserer Tür. Als wir trotzdem in Richtung Ministerium marschieren wollten, wurden wir mit Gas und Plastikgeschossen angegriffen. Mehrere Leute wurden festgenommen. Später kamen ParlamentarierInnen der CHP und HDP zur Gewerkschaftszentrale. Am Abend konnten wir dann doch noch unsere Presseerklärung öffentlich verlesen. Das war seit Verhängung des Ausnahmezustands noch nicht vorgekommen.
Später, ich glaube es war Ende Dezember, rief der Gewerkschaftsbund KESK zu einem Marsch von Istanbul nach Ankara auf. Das hat aber nicht so geklappt, wie wir gehofft hatten. In Istanbul, Düzce und ?zmit wurden wir von der Polizei angegriffen. Die Polizei erlaubte uns nicht, unsere Gewerkschaftsjacken zu tragen, ja wir durften nicht mal auf der Straße gehen. Wir mussten unsere Reise nach Ankara in Bussen fortsetzen. Wir hatten vor, auf dem Weg von Istanbul nach Ankara in mehreren Städten Presseerklärungen abzugeben, aber die Polizei ließ auch das nicht zu. Die Istanbuler Polizei folgte uns bis zur Grenze der Provinz ?zmit. Dort übergaben sie uns der Polizei von ?zmit, und diese wiederum begleitete uns bis nach Düzce. Dort wurden wir der Polizei von Düzce übergeben usw. So mussten wir den gesamten Weg nach Ankara unter Polizeibewachung zurücklegen. In Ankara gaben wir eine Presseerklärung ab, und dann ging jeder seines Weges.
Nihan Acar: Mit den jüngsten Erlassen wurden zahlreiche Vereine geschlossen, darunter auch viele, die für Frauen und Frauenrechte arbeiteten. Das waren Anlaufstellen, sichere Orte, an die sich von Gewalt betroffene Frauen wenden konnten – die gibt es nun nicht mehr. Weiterhin aber gibt es Gewalt gegen Frauen und Morde an Frauen. Was ist die Absicht des türkischen Staates, wenn er Frauenrechtsorganisationen verbietet in einem Umfeld, in dem Frauen nach wie vor Opfer von Gewalt sind?
Naciye Ertaş: Ich glaube, diese Regierung hat Angst vor Frauen. Sie hat Angst vor Frauen, die ausgehen, Frauen, die im Straßenbild sichtbar sind, Frauen, die sich bemerkbar machen. Die Regierung will nicht, dass Frauen außer Haus arbeiten. Deshalb schränkt sie die Bereiche, in denen Frauen beschäftigt sind, immer weiter ein. Sie sieht die Frauen nur als Gebärmaschinen, als diejenigen, die Kinder, Kranke und Alte pflegen, die kochen, putzen und waschen; als Dienerinnen ihrer Ehemänner. Sie beschreibt Frauen nur aus der Perspektive der Mutterschaft: Entweder als Mütter oder als potentielle Mütter.
Frauen wie ich hingegen sind dieser Regierung ein Dorn im Auge. Ich habe nicht geheiratet und werde auch nicht heiraten, ich habe keine Kinder geboren, und ich kritisiere die Institution Ehe. Denn die Ehe ist etwas, das den Frauen vom Patriarchat aufgezwungen wird. Eine Freundin von mir sagte einmal treffend: „Wenn die Ehe wirklich so toll wäre, wäre sie für Frauen garantiert verboten.“ Recht hat sie!
Die Emanzipation der Frau bedeutet, dass Frauen selbst entscheiden können, wie viele Kinder sie bekommen; dass sie sich scheiden lassen können, wenn sie wollen; und dass sie gegen den vom Patriarchat diktierten Patriotismus aufstehen können. In diesem Sinne ist die Emanzipation nichts, was den Männern an der Macht gefällt. Und das Vorhandensein von Frauenorganisationen ist etwas, was die Frauen stärkt. Ich zum Beispiel brauchte diese Organisationen, und ich bekam Hilfe von einer solchen Organisation. Das Wissen, dass ich diese Organisationen habe, stärkt mich als Frau – auch unabhängig von der konkreten Unterstützung.
Was zurzeit passiert, ist leider nicht nur ein Kampf gegen die FETÖ. Vielmehr wird das Land im Geiste der „Neuen Türkei“ umgestaltet. Gewalt gegen Frauen, Belästigung und Vergewaltigung haben massiv zugenommen, denn der männliche Diskurs der Macht durchdringt den Alltag. Denke nur an den Gesetzentwurf, der vorsah, das sexuelle Mündigkeitsalter auf 12 Jahre herabzusetzen. Die Regierung hat versucht, ein Gesetz durchzubringen, mit dem Vergewaltigung und Kindesmissbrauch legalisiert worden wären! Angeblich braucht die Regierung den Ausnahmezustand, um mit der FETÖ fertigzuwerden, aber in Wirklichkeit geht es um die Macht der Frau, ihre Vagina und ihre Vulva.
Nihan Acar: Erdoğan, der unter dem Vorwand des Notstands praktisch tun und lassen kann, was er will, fühlt sich in dieser Lage offenbar sehr wohl – er sagt: „Sie sagen, der Ausnahmezustand solle enden. Warum haben sie es denn so eilig, den Ausnahmezustand zu beenden?“ Das heißt wohl leider, dass die Unterdrückung noch eine ganze Weile andauern wird. Was müssen wir deiner Meinung nach tun, um aus dieser Phase gestärkt hervorzugehen?
Naciye Ertaş: Ein entlassener Universitätsprofessor hat dazu eine treffende Bemerkung gemacht. Er sagte: „Sie haben sich keinen Gefallen getan, indem sie mich entlassen haben. Ihr werdet schon sehen. Ich werde ihnen Schwierigkeiten machen.“ Diesen Kampfgeist spüre ich auch in mir. Wenn irgendwo eine Presseerklärung zu verlesen ist, dann möchte ich sie verlesen. Wenn etwas gesagt werden muss, dann möchte ich es sagen. Ich möchte all das sagen, was ich in der Vergangenheit nicht gesagt habe, nicht sagen durfte. Durch meine Erfahrung bin ich stärker geworden. Meine einzige organische Verbindung mit diesem System war meine Arbeit als Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Jetzt hat mir der Staat diese Arbeit weggenommen. Warum sollte ich jetzt noch schweigen? Wovor sollte ich Angst haben? Früher sah ich die Gefahr, im Falle einer Verhaftung meine Arbeit zu verlieren. Jetzt gibt es diese Gefahr nicht mehr. Warum also sollte ich nicht reden? Ich gebe Zeitungsinterviews, ich rede und werde weiter reden.
Die KHKs gehen unterdessen weiter. So wurden beispielsweise mit dem jüngsten Dekret sieben AkademikerInnen, die ich persönlich aus meiner Studienzeit kenne und schätze, entlassen. Sie hatten an der Universität Ankara an der Fakultät für Sprache, Geschichte und Geografie im Bereich Theaterwissenschaften gearbeitet. Dieser Bereich musste inzwischen seine Graduierten- und Doktorandenstudiengänge einstellen. Und auch im Grundstudium werden die Lehrkräfte schon knapp.
Es wird auch eine wachsende Zahl von Frauen entlassen, und viele widerständige Frauen stehen dagegen auf. Wir sind organisiert. Ich habe das Gefühl, meine Befreiung zu erleben. Ich habe die Freiheit, keine Staatsbedienstete mehr zu sein. Ich bin sicher, eines Tages werden wir diesen Kampf gewinnen. Weil wir im Recht sind. Wir haben nichts Falsches getan, wir sind nicht schuldig. Sie haben den Ausnahmezustand genutzt, um uns unsere Arbeit wegzunehmen, aber wir lassen uns nicht vertreiben. Allerdings will ich gar nicht mehr für den Staat arbeiten. Das ist meine Entscheidung. Ich werde mir meine Rechte zurückerobern, einschließlich meiner Pensionsanwartschaft, und dann werde ich diesem System den Rücken kehren.
Ich glaube, dass all die Verfolgung, der Druck, die Folter Zeichen dafür sind, dass ihre Macht im Schwinden begriffen ist. Die Regierung spürt, dass ihr die Macht entgleitet, und wehrt sich mit aller Gewalt. Aber sie hat auf Dauer keine Chance. Sie verprellt ja schon ihre eigenen AnhängerInnen und WählerInnen. Nicht einmal diese glauben doch, dass ich Mitglied bei der FETÖ oder sonst einer terroristischen Organisation bin. Alle kennen die Wahrheit. Mein ganzes Umfeld. Meine FreundInnen im Büro. Meine Familie, mein Vater, meine fünf Geschwister, meine Verwandten, meine KollegInnen – die bekommen alle mit, was da läuft. Eine einzige Person wird entlassen, und das zieht solche Kreise! Ich denke, mit diesen massenhaften Entlassungen untergräbt die Regierung ihre eigene Macht.
Deshalb sehe ich durchaus die Chance, dass beim Referendum das „Nein“ gewinnt. Diese Regierung wird als eine Regierung schrecklicher Verbrechen in Erinnerung bleiben. Und dann? Dann wird so bald wie möglich der juristische Kampf beginnen. Zurzeit werden massenhaft Petitionen eingereicht, aber im Land gibt es keine Gesetze mehr. Wenn das so weitergeht, wird jeder nach seinem eigenen Gesetz handeln, und es wird Chaos ausbrechen. Dem widersetzen wir uns. Wir handeln, als gäbe es funktionierende Gesetze in diesem Land. Wir kämpfen darum, dass das Recht wiederhergestellt wird, denn wir glauben noch immer an das Recht. Wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen. Wir geben nicht auf. Der Widerstand wächst. Solidarisch erheben wir unsere Stimme auf der Straße. Wir stören die Regierung. Wir sagen: „Wir stehen für das Leben, nicht für den Tod“. Wir werden gewinnen.
Interview: Nihan Acar
Übersetzung: Eric Bäckermann und Henriette Keller